Vagos, Mongols und Outlaws

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„Und wenn wir in den Krieg ziehen müssen“ – er legte eine dramatische Pause ein –, „dann wird von dir erwartet, dass du kämpfst, dass du tötest!“ Ich sagte nichts, doch mir wurde verdammt mulmig.

Psycho überreichte mir den Bottom Rocker. „Kauf dir eine Kutte und näh ihn dir dran.“


Als ich einige Stunden später in die Slapshot Bar fuhr, konnte ich das Lenkrad des Wagens kaum halten, so sehr zitterten meine Hände. Spoon und einige Biker wollten dem neuen Prospect einige „Ratschläge“ geben. Mir kam das alles recht seltsam vor. Kaum vier Monate war ich dabei, und schon wurde ich aufgenommen – ohne weitere Fragen. Ich fühlte mich, als hätte ich meine Jungfräulichkeit verloren: Ich besaß weder ein Bike noch eine Kutte, aber trotzdem hatten sie mich in ihren Kreis aufgenommen. Niemand bat mich um eine Art Bewerbung – gleich welcher Art –, und niemand überprüfte meine kriminelle Vorgeschichte. Im Gegensatz zu Undercover-Agenten, die sich eine falsche Identität zulegen mussten, einschließlich angeblicher Verhaftungen, gefälschter Konten, eines Eintrags in das Kraftfahrzeugregister unter dem neuen Namen und einer Auflistung der bisherigen Jobs, hätte ich mit einem echten Strafregister aufwarten können. Und nun spielte gerade ich einen „Kriminellen“.

Spoon bestellte ein Bier und strich sich über den langen Ziegenbart, der ihm bis auf die Wampe reichte. Die Matte schwarzen Haars hing bis auf seine Schultern. Ein Kopftuch verdeckte seine Halbglatze. Im gedämpften Grün des Lichts rezitierte Spoon den Prospect-Song, den ich wiederholen musste:

I’m a Vago prospect, it’s plain to see.

I wish they’d hurry up and give me my patch

So everyone will quit fucking with me.

Er überreichte mir ein Notizbuch und einen Bleistift, befahl mir, alles mitzuschreiben und immer auf der Hut zu sein. Ich fühlte mich wie bei den Pfadfindern. Er zählte eine Liste der wichtigsten Dinge auf, die ich in meiner „Überlebensausrüstung für Prospects“ mitführen musste: Kondome, Tylenol gegen Schmerzen und Fieber, Nadel und Faden (für den Fall, dass ein Prospect sich einer anderen Gruppe anschloss und man ihm den Aufnäher entfernte), Tampons (um die Blutung einer Schusswunde zu stoppen), Schnürbänder, verschiedene Glühbirnen für das Bike und das Schmerzmittel Vicodin. Spoon bestellte sich dann noch Bier, und wir saßen bis in die Morgenstunden zusammen.


Bei Sonnenaufgang fuhr ich Terrible nach Hause. Erschöpft, aber emotional aufgewühlt, registrierte ich kaum noch, dass ich in drei Stunden bei Napa Auto Parts meinen regulären Job beginnen musste. Lizard und die anderen Biker fuhren in ihrem Wagen einige Meter vor uns. Plötzlich sah ich Bewegung auf dem Rücksitz. Lizard drehte sich schwerfällig auf der Rückbank, wackelte herum und hielt auf einmal seinen nackten Arsch durch das Fenster. Was zum Teufel macht der da? Von all den Mitglieder der Vagos, die ich bislang getroffen hatte, war Lizard der abgefuckteste, ein Typ, der in bizarren Sphären schwebte, für immer und ewig in einem LSD-Flashback steckte. In der „realen Welt“ wäre er wahrscheinlich in die Klapse gebracht, offiziell für „nicht zurechnungsfähig“ erklärt und mit Medikamenten abgefüllt worden, doch die Vagos stuften ihn lediglich als einen „Exzentriker“ und in keinster Weise als Psychopathen ein. Sie hätten nicht im Traum daran gedacht, ihn wegen des Alters oder einer psychischen Krankheit auszuschließen. Ich lernte schnell, dass es unter Gangstern verschiedene Stufen des Wahnsinns gab. Unter seinesgleichen präsentierte Lizard gemeinhin eine perfekte Fassade. Er wurde zu einem Teil der Dunkelheit, erkannte aber längst nicht mehr, was um ihn herum wirklich vor sich ging. Doch es war egal, dass er zu den verlorenen Seelen zählte – denn sie alle waren verloren. Es scherte niemanden, dass er psychisch krank war, denn alle Biker waren mehr oder weniger durchgeknallt. Er war eine Missgeburt unter Missgeburten. Und sie alle versuchten eine gewisse Ordnung, wenn auch in pervertierter Form, in das Chaos ihres Lebens zu bringen.

Terrible öffnete das Fenster. Der eisige Wind drang in den Wagen. Lizard beförderte etwas auf die Straße. Es landete mit einem Platschen auf dem Asphalt. Dicke Tropfen spitzten auf meine Windschutzscheibe – braun und flüssig wie …

„Scheiße!“ Terrible hielt sich Mund und Nase zu und kurbelte die Scheibe so schnell wie möglich hoch. „Diese Drecksau hat ’nen Dünnen und uns voll angeschissen!“ Ich brauchte einen Moment, um Terribles Statement zu verstehen. Das Ganze war nicht verrückt oder exzentrisch, sondern auf eine bestimmte Art und Weise ein Abbild der Realität, denn wir saßen alle in der Scheiße – und machten uns gegenseitig fertig.


Zu Hause angekommen, ließ ich mich ins Bett fallen und steckte mir die Ohrstöpsel rein. Wie sich herausgestellt hatte, war es viel zu anstrengend gewesen, drei oder vier Mal die Woche die 40 Meilen von Upland nach Victorville zu düsen, um mit den Vagos abzuhängen. Deshalb hatte ich mir ein billiges Apartment in der Altstadt von Victorville gemietet, in einem überwiegend von Latinos bewohnten Viertel, nahe den Kaschemmen der Vagos. Ich war kaum eingeschlafen, als ich ein aggressives Klopfen an meiner mit einer Stahlplatte gesicherten Tür hörte. Vor nicht einmal zwei Monaten hatten mir Justizbeamte einen unerwarteten Besuch abgestattet. Von da an wurde ich die Angst vor ungebetenen nächtlichen Gästen nicht mehr los.

Irritiert schlug ich die Decke zurück und zog mir ein Hemd an. Hercules flitzte blitzschnell durch die Wohnung und bellte die Lichtkegel der Scheinwerfer an, die über eine Wand huschten. Ich warf einen Blick auf die Straße und erwartete den grellen Schein der Maglites-Stabtaschenlampen der Cops. Nichts. Plötzlich stand ich voll unter Strom. Ich tapste zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Die unheimliche Stille raubte mir noch den Verstand.

Als ich mich wieder ins Bett legte, winselte Hercules. Ich konnte nicht mehr einschlafen. Dort draußen war etwas – ich sah es nur nicht! Während der nächsten zwei Stunden hörte ich nur das Pochen meines Herzens. Der Wecker klingelte um halb sieben. Ich streifte mir die Malocherklamotten über und öffnete die Tür. Uniformierte Beamte standen auf der Straße. Ein Officer kniete auf dem Asphalt und zeichnete Kreidekreise um Blutflecke.

„Was ist hier passiert?“, presste ich zwischen den Lippen hervor. Gleichzeitig fühlte ich mich erleichtert. Das hatte also nichts mit mir zu tun. Ich gehörte jetzt zu den „guten Jungs“, ein merkwürdiges Gefühl, wenn man so viele Jahre als Krimineller gelebt hatte.

„Das können Sie mir ja verraten“, erwiderte der Cop voller Sarkasmus.

„Ich habe nichts gesehen.“ Ich spürte sofort, dass er mir nicht glaubte.

„Natürlich haben Sie nichts gesehen.“ Der Beamte zeigte auf Dellen in meiner Eingangstür. „Irgendein Typ hat ein paar Kugeln in den Arsch gekriegt.“

Jetzt wurde mir alles klar! Was ich als Klopfen interpretiert hatte, waren in Wirklichkeit Schüsse gewesen!

4 Abgedeckt werden dadurch Gewalttaten im Zusammenhang mit Formen der Organisierten Kriminalität, von Drogengeschäften bis hin zu Schutzgelderpressungen.


Mein erster Monat als Prospect unterschied sich nicht grundlegend von den wenigen Wochen als Abhänger. Die einzige Ausnahme war, dass ich ständig zur Verfügung stehen musste. Es wurde immer schwieriger, zwischen der Welt der Vagos und dem regulären Job hin- und herzupendeln. Die Wörter „Nein“, „Auszeit“ und die Antwort „In einer Minute“ existierten bei den Vagos nicht. Als Rhinos Sklave besorgte ich ihm Lotterielose und Tacos (und das teilweise zwei oder drei Mal am Tag). Wenn ich um zwei Uhr morgens am anderen Ende der Stadt angekommen war und schon bestellte hatte, änderte er oft noch seine Wünsche. Er wollte dann Tacos ohne Salsa, Burritos ohne schwarze Bohnen und so weiter. Ohne zu murren, nahm ich seine neuen Wünsche entgegen.

Ich büßte meinen Namen ein, hörte nur noch auf „Prospect“ und wischte Hundescheiße von Twists Wohnzimmerboden. Ich drückte die Wut runter, wenn man mir befahl, eine angebissene Pizza zu verdrücken und die Bikes wieder und wieder zu putzen. Wenn es denen nicht passte, musste ich eben von vorne anfangen. Ich beobachtete Rhino, wie er aus seiner durch Drogen verursachten Starre aufwachte und gleich wieder wegnickte, und lehnte mich völlig erschöpft und ausgelaugt gegen die Wand, direkt neben den AK-47.

Wenn ich mit den anderen die abendliche Kneipentour hinter mich gebracht hatte, berichtete ich Koz von den Waffen und den Drogen, den Kampfanzügen, den Schlagringen und einer Zielscheibe, die einen Mann in Kapuzenanzug zeigte. Rhino hatte das Ding mit einem Seil um den „Hals“ an seiner Badezimmertür angebracht. Eines Nachmittags rief mich überraschend Twist an und erzählte mir von einem unerwarteten Besuch des Deputy-Sheriffs aus San Bernardino, der Rhino sprechen wolle.

„Der Typ suchte einen gewissen Dominic, einen mexikanischen Drogendealer, weil der sich nicht an Bewährungsauflagen gehalten hat. Rhino sagte ihm, dass er nicht weiß, wo er steckt.“ Trotzdem drängte sich der Deputy ins Haus.

 

„Das war bis unters Dach voll – Gewehre, Dope, Messer … der Kerl riet uns, den Scheiß wegzuräumen. Jemand wolle uns auf die Pelle rücken.“

Was ich nicht wusste – das ATF plante eine Razzia in Rhinos Haus. Korruption bei der Polizei war für mich nichts Neues. Trotzdem verstand ich nie, warum altgediente Deputys Kriminelle freiwillig informierten, ja sich sogar mit ihnen abgaben. Kriminelle, die sie eigentlich verhaften sollten! Die Grenze zwischen Gut und Böse hatte sich aufgelöst, war verschwommen und nicht mehr klar auszumachen. Abgesehen von der Unterstützung durch windige Cops konnten die Vagos auf Maulwürfe bei der Polizei zurückgreifen, auf Frauen etwa, die in der Poststelle und sogar in der Verwaltung arbeiteten und somit an Akten herankamen oder Gespräche belauschen konnten. Hatte Rhino womöglich auch Polizeiinformanten, die etwas über mich wussten?

Ich lebte mit einem Gefühl der ständigen Angst, das ich vor den Bikern verbarg. Jede Nacht ging ich in Gedanken meinen Tagesablauf durch. Hatte ich mich auffällig verhalten? War ich vor einer Aufgabe zurückgeschreckt? Hatte ich etwas Falsches gesagt? Im Moment musste ich sowohl Koz als auch den Vagos meine Loyalität unter Beweis stellen. Ich schwor mir, der beste Prospect aller Zeiten zu werden. Und so hing ich mit ihnen bis in die Morgenstunden in verdreckten Bars ab, grölte Madonnas „Like A Virgin“ und machte beim Wettsaufen mit, wobei ich mir manchmal fünf Krüge Bier hintereinander reinkippte.

Besonders Head Butt nutzte meine neue Position aus und ließ keine Gelegenheit verstreichen, mich auf die Probe zu stellen. Er forderte mich im Billard heraus, holte mit dem Stock aus, verpasste mir einen aufs Schienbein und kicherte wie ein Idiot, wenn ich vor Schmerzen das Gesicht verzog. Ich wusste, wie das Spiel lief, doch Head Butt hatte seine eigenen Regeln. Wenn ich die Billardkugel gekonnt in eine Tasche beförderte, beschuldigte er mich der Respektlosigkeit. Falls ich einen Stoß vermasselte, musste er mich „erziehen“.

Kaum hatte ich die Schmerzen weggesteckt, verpasste er mir mehrere Schläge an den Kopf – wie bei einem defekten Aufzieh-Spielzeug! Ihm machte das Quälen anderer Menschen großen Spaß. Oft fühlte ich mich wie ein Amateurboxer, der sich jeden Abend auf ein Match vorbereitete, keine Zeit zur Erholung hatte und seine Gegner nicht einschätzen konnte. Mal abgesehen von den seltenen Ruhepausen, in denen ich meinen Hund fütterte oder Koz Bericht erstattete, war ich Rhinos Launen ausgesetzt. Ich begleitete ihn auf seine Menschenjagden, wenn er Drogenschulden eintrieb oder sich Motorräder unter den Nagel riss. Die meisten Aktionen stellten sich jedoch als Flops heraus. Erst wurde ein großer Wirbel veranstaltete, die Spannung stieg auf den Siedepunkt, und dann kam nichts dabei heraus. Wir erreichten das Haus eines Schuldners, quatschten darüber, wie man am besten reinkäme, schwafelten weiter, verzogen uns, kamen kurz darauf wieder zurück und klopften dann ganz normal an. Rhino hatte die Ausstrahlung eines Bilderbuchgangsters. Die Androhung körperlicher Gewalt schien in Großbuchstaben in Form einer gigantischen Sprechblase über seinem Kopf zu stehen. Es dauert nie lange, bis die Opfer mit der Knete rausrückten.

Eines Nachts durchbrach Rhino sein monotones Leben. Er lag benommen und sternhagelvoll auf seiner Couch, an jeder Seite eine Frau, deren sexuelle Gefälligkeiten er mit Drogen honorierte. Ich stützte mich an einer Wand ab. Meine Augen tränten vom Rauch. Ich beobachte das Geschehen wie ein Voyeur eine Freak-Show, wie ein Mann, der ruhig bleibt, während sich um ihn herum ein rasend schnelles Karussell dreht. Dann, als wäre er plötzlich erwacht, ließ Rhino von seiner neuesten Eroberung ab und schnippte mit den Fingern. Ein Schatten kam aus dem Schlafzimmer. Big Guy – Rhino hatte ihn mir als seine „Waffenquelle“ vorgestellt – tauchte im kaum beleuchteten Raum auf und zeigte ihm eine glänzende Beretta, Kaliber .25. Er war ein untersetzter Mann mit einer krummen Nase und dicken Tränensäcken unter den Augen. Rhino grunzte anerkennend, löste sich aus der Umarmung der Frau und schubste sie vom Sofa. Erst da merkte ich, dass sie keine Beine mehr hatte, sondern nur noch Stümpfe, die den dürren Torso und das leblose Gesicht noch bizarrer erschienen ließen. In einem Anflug von Galgenhumor überlegte ich kurz, ob es dafür auch einen Aufnäher bei den Vagos gab – vielleicht ein Symbol mit fehlenden Flügeln?

Rhino strich mit den Fingern beinahe zärtlich über den Pistolenlauf und gab bekannt: „Wir machen eine Tour. Das Ziel ist Bullhead City.“

Ich wusste, dass es sinnlos war, sich nach Details zu erkundigen. Allein bei dem Namen der Stadt lief mir ein kalter Schauder über den Rücken. Was gab es so Besonderes in Bullhead City, einem Dreckskaff, fast 200 Meilen entfernt am Colorado River im Mohave County, Arizona, gelegen? Und was hatte Rhino mit der Waffe vor? Er befahl mir, die Beretta im Kofferraum meines Wagens zu verstecken, aber das Magazin und die zusätzliche Munition woanders aufzubewahren, für den Fall, dass uns die Cops anhielten. Dann setzte er sich sternhagelvoll und mit zitternden Händen auf seinen Bock und startete die Maschine.

„Nachts kann ich nix sehen“, fluchte er und raste in die Dunkelheit. Ich folgte ihm so dicht wie möglich.

Die Biker waren natürlich generell verdammt flott unterwegs: 65 Meilen die Stunde in Ortschaften und 100 Meilen die Stunde auf den Highways waren die Regel, wobei sie auch bei einem hohen Tempo nicht immer klar bei Verstand waren. Doch das hier erinnerte an einen wahren Höllenritt, glich einem meilenweiten Flug auf einer dunklen und verlassenen Wüstenstraße.

Schon nach einigen Minuten zog Rhino die Maschine an den Straßenrand. „Ich bin verflucht müde, Mann“, sagte er und überreichte mir die Schlüssel.

Eigentlich wäre jetzt der Zeitpunkt für die Wahrheit gekommen. Verdreckte Zweiräder hatte ich bislang nur als Kind gefahren, und auf das Bike von der Regierung wartete ich immer noch. Trotzdem setzte ich mich auf den warmen Ledersitz, lächelte Rhino gequält an und beobachtete, wie er in mein Auto stieg. Als ich die schwere Maschine zurück auf die stockfinstere Straße manövrierte und dabei die Abgase und verbranntes Motoröl einatmete, betete ich, dass keine anderen Biker sich zu einem morgendlichen Ausflug aufgemacht hatten. Der Fahrtwind schoss mir ins Gesicht, brachte die Augen zum Tränen. Ich litt an sogenannter Zerrsichtigkeit auf dem rechten Auge und konnte darum räumlich nur sehr schlecht sehen. Eine Brille wäre dringend nötig gewesen. Ich hatte eine Höllenpanik davor, mit einem Motorrad zu verunglücken, und der goldene Strahl der Schweinwerfer meines Wagens hing viel zu nahe an meinem Hinterreifen. Die Arme schmerzten, da ich den Lenker mit den Händen völlig verkrampft hielt. Gedanklich wiederholte ich: Bloß nicht auf dem Asphalt aufschlagen!! Pass bei Straßensplitt auf! Schürf dir bloß nicht die Haut bis auf die Knochen ab.

In meinem Kopf spielten sich wahre Tragödien ab, während der Rollsplitt und kleine Steinchen auf den Rahmen des Bikes prallten. Die Angst umnebelte mein Gehirn und verdrängte alle Gedanken. Und was, wenn etwas mit dem Bock passierte – zum Beispiel ein Kolbenfresser, ein Zylinderbruch oder ein ganz normaler platter Reifen? Und wenn ich mich auf die Schnauze legte, mir einen Arm oder ein Bein brach?

In Bullhead City angekommen, gab mir Rhino per Lichthupe ein Signal. Ich fuhr an den Straßenrand, und er befahl mir, die Knarre aus dem Kofferraum zu holen und ihm zu geben. Als ich abstieg, fühlten sich meine Beine wie Pudding an. Rhinos Visage, nass vom Schweiß, sah so aus, als würde sie gleich explodieren. Er lud die Pistole und murmelte etwas von „eine Rechnung begleichen“ und von einer Überraschung für jemanden. Ich fühlte mich, als krabbelten mir tausend Ameisen die Wirbelsäule hoch. Seine alte Dame lebte in Bullhead City. Er verdächtigte sie, ihn zu betrügen, und wollte sich jetzt um „das Geschäftliche“ kümmern.

Ich setzte mich wieder in meinen Wagen und startete den Motor. Übelkeit überkam mich. Mit bis zum Reißen angespannten Nerven rief ich Koz an, meldete den nächtlichen Ausflug und hoffte, Rhinos Bike werde den Geist aufgeben.


„Wir hocken hier jetzt schon sechs Stunden“, lallte ich mit schlaftrunkener Stimme um zwei Uhr morgens. Ein leichter Nieselregen traf auf die Windschutzscheibe. Terrible saß aufgedreht auf dem Beifahrersitz. Die aufgerissenen Augen sahen glasig aus. Ich wusste, dass er nichts sah, wie durch dickes Eis starrte. Wenn noch ein Funken Mitgefühl und Leben in ihnen steckte, war das hinter einer kalten, gefrorenen Schale versteckt.

Wir fuhren nasse Straßen entlang, eine Szenerie so unwirklich wie ein verkratzter Film. Ich parkte, würgte den Motor ab und wartete, während sich Terrible in dreckigen Hauseingängen verkroch, in Seitenstraßen oder auf dem Gehweg, um sich weitere Drogen einzufahren. Früher führte ich auch so ein Leben. Mal abgesehen von der Langeweile und der Müdigkeit stellte das den schlimmsten Teil meiner Mission dar – meine Vergangenheit in seiner Gegenwart zu erkennen. Er hatte seine Menschlichkeit verloren, seine Würde. Terrible stürzte in ein dunkles Loch und vegetierte nun in einem düsteren Schlauch voll von schwarzem Dreck – ein Mensch, der sein Leben verschwendete und für immer verloren war. Die Aussicht auf einen Neubeginn verschwand für die Seelenlosen und Verängstigten.

Koz hatte mir 3.000 Dollar aus Regierungsgeldern zukommen lassen. Ich sollte damit ein Drogengeschäft abziehen. Die Scheine knisterten in der Brusttasche meines Hemdes. Als ich Terrible noch vor wenigen Stunden einen Burger bei Jack in the Box gekauft hatte, versicherte er mir, einen großen Meth-Lieferanten namens Rancid zu kennen.

„Und wo steckt der?“, fragte ich ihn und spürte gleichzeitig den Hamburger, der wie ein Stein durch meine Magenwindungen polterte.

„Spät dran.“

„Vielleicht kommt er nicht?“

„Er wird da sein.“ Terrible wurde zunehmend nervös. Ich wusste, wie er tickte. Bei ihm geschah alles aus einem Impuls heraus. Pläne änderten sich im Bruchteil einer Sekunde. Wenn Terrible sich auf dem Weg woanders Drogen beschaffen konnte und zu breit zur „Arbeit“ war, würde er das Geschäft einfach absagen.

Und dann kam Rancid die Auffahrt hochgefahren. Er schlug die Tür des Transporters mit einem lauten Knallen zu und führte uns in sein schäbiges, verfallenes Haus. Dünnes, fettiges Haar unterstrich seine wässrigen Augen, er stank nach Düngemittel. Die groß geschnittenen Räume waren fast leer – keine Möbel oder sonstiges Inventar. Nicht isolierte Stromleitungen wanden sich ähnlich Schlangen aus der Decke.

„Ich hab die Bude gerade verkauft.“ Rancid zuckte mit den Schultern, als bemerke er meine Skepsis. „Ich ziehe nach Arizona.“ Vielleicht stimmte das. Vielleicht auch nicht. Er verdiente seine Kohle als Drogendealer, und das waren alles Nomaden. Wir folgten ihm in die Küche, wo er uns ungefähr ein Viertel Pfund Meth zeigte und eine Waage. Er ließ ein Feuerzeug aufblitzen und fuhr mit der Flamme leicht über den Stoff. „Meine Alte bekommt Morddrohungen von ihrem Ex. Könnt ihr euch den vornehmen?“

„Sollen wir ihn unter die Erde bringen?“ Terrible musste alles ganz genau wissen.

Schon allein der Gedanke daran schockte Rancid. „Nein, nur Angst einjagen.“ Er wog das Meth.

Während die beiden sich eine angemessene Strafe überlegten, gab ich Rancid mit zittrigen Händen einen Teil der Kohle. In der Situation half mir auch meine Erfahrung nicht. Ich hatte Hunderte von Drogenverkäufen getätigt, wobei sich alle unterschieden, ich immer anders drauf gewesen war. Wenn Menschen auf Paranoia sind, rasten sie schnell aus. In jedem Moment kann ein Dealer die Absprache brechen, austicken, eine Waffe ziehen und abdrücken.

Terrible fragte nach seinem Anteil bei dem Deal und wollte natürlich Dope haben.

„Das kann ich nicht machen.“ Ich schüttelte den Kopf und gab ihm 200 Dollar. Zögerlich steckte er sich die Kohle in die Jacke, griff mit seinen Gierfingern in die offene Tüte mit dem Meth und schnappte sich ein Gramm. Scheiße – jetzt musste ich Koz erklären, warum das bei dem Beweismaterial fehlte.

Es wurde höchste Zeit, Terrible nach Hause zu befördern – bevor er sich noch mehr unter den Nagel riss und ich ihn als Chauffeur zu allen möglichen Leuten kutschieren musste. Meine Gedanken liefen Amok. Ich musste mir schnell eine Ausrede einfallen lassen, um mich geschickt aus der Affäre zu ziehen. Ich drehte den Zündschlüssel, aber hörte nur das metallische Klicken.

 

„Batterie im Arsch?“ Ich konnte es nicht glauben! Für heute Abend hatte ich mir die Karre meiner Freundin geliehen. Und nun stand ich da, mit einem Viertelkilo Meth auf dem Beifahrersitz! Länger da zu bleiben stellte keine Option dar.

Panik schnürte mir die Luft ab. „Hey Mann, wir dürfen hier nicht bleiben. Die Cops könnten uns hochnehmen!“

„Ich komme zurück“, log Terrible. Als er ging, klapperten seine Zähne. Natürlich kommt er nicht zurück. Das dumme Schwein würde es nie riskieren, mit Meth geschnappt zu werden. Der Regen fiel gleichmäßig, wirkte hypnotisch und verstärkte meine ängstliche Starre. Innerhalb weniger Sekunden war Terrible nass bis auf die Knochen. Die Klamotten hingen jetzt schon wie eine zweite Haut an seinem Körper. Er verpisste sich in das Haus, ohne sich um mich zu kümmern. Kurz öffnete sich die Tür, mattes Licht drang nach draußen, und danach war es wieder dunkel. Irgendjemand musste mich aus dem Schlamassel rausholen.

„Können Sie den Hügel hinabrollen?“, fragte mich Kiles am Telefon. Ich legte die Gangschaltung in den Leerlauf und ließ die Karre einfach losrollen.


Dann kam endlich meine 1992 von der Regierung erworbene schwarze Harley an! Es war dasselbe Bike, mit dem Koz drei Jahre zuvor die Warlocks in Northern Virginia infiltriert hatte. Allerdings fehlte ein Blinker. Ich parkte die Maschine zuerst im Wohnzimmer und machte dann die ersten Testfahrten zum Lebensmittelhändler und zum Fitnessstudio. Den Lenker fest umschlossen, schlängelte ich mich durch kleine Gassen. Ich fuhr im Regen und sogar auf rutschigen Straßen, wobei die eisigen Temperaturen meine Wangen zum Glühen brachten. Ich wollte unbedingt vorbereitet sein, aber das war so gut wie unmöglich!


Am Morgen meiner ersten offiziellen Tour trafen sich ungefähr zehn Vagos an der lokalen Tankstelle, in der Nähe des Freeway. Es sollte ins mexikanische Tijuana gehen. Die Grenzstadt lag ungefähr drei Stunden vom San Bernardino County entfernt und konnte sich eines staubigen Pubs und unzähliger Stripläden „rühmen“. Als die warme Sonne auf die Reihen der Bikes schien, die wie Kühe vor der Tränke standen, und vom Chrom und dem Stahl der Maschinen reflektiert wurde, machte ich mir Sorgen – nicht wegen unseres Ziels, sondern wegen der Fahrt. Wir reisten wie ein schwarzer Schwarm, die Maschinen so dicht zusammen, dass sich unsere Knie und die Rückspiegel fast berührten. Ich atmete die Abgase der vor mir tuckernden Bikes ein. Diese Erfahrung erinnerte mich an ein Stock-Car-Rennen, raubte mir den Atem und ängstigte mich. Ich zog an den Autos vorbei und donnerte mit 95 Meilen die Stunde über den Highway. Meine Hände zitterten heftig, und schon bald begannen sie zu kribbeln. Endlich erreichten wir die staubige mexikanische Stadt, die entfernt nach Ziegen roch. Wir erholten uns in einem Pub, einem Schuppen an der Avenida Revolución, zwischen Blechhütten, in denen handgemachte „Artefakte“ marktschreierisch feilgeboten wurden, sowie Schmuck, weiches Leder und Parfüm. Die Touristen empfanden uns als so amüsant wie bunte Hunde, schossen Fotos und steckten die Kameras zurück in ihre Handtaschen.

Je öfter sie die Dinger auf uns richteten, desto nervöser wurde Psycho. Die Sehnen in seinem Nacken begannen zu zucken. Als er das fünfte Bier intus hatte, meldete ich mich freiwillig, um den Touris die Bilder zu löschen.

„Sorry, Madam, aber sie dürfen keine Fotos von uns machen.“ Ich ragte über einer schlanken Frau mit einem geblümten Sonnenhut und einer großen weißen Sonnenbrille. Vor Überraschung klappte ihr die Kinnlade runter. Die silbernen Armreifen klickten aneinander, als sie Bild für Bild löschte. Zufrieden, dass es keine Beweise mehr gab, verbrachte Psycho die nächsten acht Stunden damit, die Stripläden zu erkunden. Ich musste ihm in fast alle Clubs folgen und fragte mich, was der ganze Mist sollte, denn ein Club ähnelte dem anderen, jede Stangentänzerin war so banal wie die andere. Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, reichte mir Sonny meinen Helm.

„Alles klar bei dir?“ Mit seinem abgerissenen Aussehen und den tief um die Augen eingegrabenen Falten erinnerte er mich an einen schmächtigen Clint Eastwood. Er trug drei Jagdmesser am Gürtel und fuhr meistens einen Truck. Seine Haupteinnahmequelle war das Dealen mit Drogen – und er gehörte zu den bevorzugten Zielpersonen des ATF.

„Du und ich.“ Sonny blinzelte. „Wir sind die Letzten, die abhauen. Ich halte immer Ausschau nach dir.“

Ich mochte Sonny. Er schien hier fehl am Platz zu sein, gefangen in einer Welt, für die er nicht geschaffen war. Aber es stellte ein fast unmögliches Unterfangen dar, dieses Umfeld hinter sich zu lassen und zu einem normalen und geregelten Leben zurückzukehren.


Nachdem ich fast einen Monat Prospect gewesen war, gab Psycho bekannt, dass er einen Bodyguard brauche. Seine Alte hatte ihn verlassen, und nun interessierte er sich wieder für Kneipentouren, um Frauen aufzureißen. Natürlich meldete ich mich freiwillig für den Job, denn ich wollte Rhinos verdammtes Meth-Haus hinter mir lassen und unbedingt näher an den Präsidenten herankommen. Doch meine erste Nacht bei Mickey McGee’s wäre beinahe die letzte im Rahmen der Ermittlung gewesen.

In dem Laden wimmelte es nur so von Stammgästen. Einige Supporter der Hells Angels trugen stolz ihre T-Shirts mit der 81 darauf 5. Zwei von ihnen umkreisten den Billardtisch. Die stämmigen Kerle wirkten wie Steinquader, trugen viel zu enge Jeans und kurze Shirts, die ihre dicken Bäuche hoch und runter rutschten. Einer von ihnen hatte einen schon leicht ergrauten Bart, der bis zur Brust reichte. Auf dem Kopf des anderen glitzerte seine „Fleischmütze“. Psycho machte seinen dritten Stoß und wurde allein durch ihre Präsenz immer nervöser. Er rotzte auf den Boden. Head Butt und Rhino beobachteten die Szene wie zwei Raubtiere, die im Gras lauerten, aber schon den Geruch der Supporter gewittert hatten. Die Heavy-Metal-Mucke ging mir auf die Nerven, machte alle aggressiv.

Der Auftakt zur Schlägerei war ein Starren, ein unnachgiebiger Blick, der Psycho wie eine Kugel durchdrang. Blitzschnell stand er auf. Ich tat es ihm gleich. Meine Schultern ragten über seinen Kopf hinaus. Dann, ohne eine weitere Provokation, hechtete Psycho nach vorn und schlug dem Bartträger mit der Faust eins genau auf die Zwölf. Durch den Schlag kippte der Mann nach hinten und knallte auf den Billardtisch. Ich hörte ein lautes Knacken. Nun war der Glatzenmann am Zug, doch bevor er Psycho traf, hatte ich seinen Schlag schon abgeblockt und beförderte ihn auf die Knie. Ich packte ihn von hinten. Mir war kotzübel, da ich niemanden verletzten wollte, aber einen echten Kampf vortäuschen musste. Als ATF-Informant durfte ich keine Prügeleien anzetteln, doch als Psychos Prospect, als sein Bodyguard, blieb mir keine andere Wahl, als mitzumischen.

Ich prügelte auf den Bartträger ein, nicht brutal, aber hart genug, dass aus seiner Fresse das Blut spritzte und ich die anderen damit beeindruckte. Zwischenzeitlich hatte sich Glatze wieder aufgerappelt, sein Gesicht eine blutig-rote Maske. Head Butt und Rhino gingen sofort auf ihn los. Jeder Hieb klang wie ein Schlag auf eine Trommel. Schreie, Geräusche von gedämpften Schlägen und zerberstendem Glas mischten sich mit dem hohen Klang von Metall. Ich zog Bartmann in Richtung Ausgang, legte meinen Arm um seinen Hals und hoffte, dass ich den Mann auf die Straße befördern konnte, bevor Psycho und die Horde ihn mit Knarren oder Messern abservierten. Adrenalin schoss durch meine Adern. Ich musste den Typen hier rausbringen. Von Blut und Schweiß durchnässt, versuchte er sich aus der Umklammerung zu lösen. Er kratzte an meinen Armen und schlug wild mit dem Kopf um sich. Seine Fäuste trafen nur ins Leere. Ich verpasste ihm einen Tritt, sodass er im hohen Bogen auf die Straße klatschte. Bartmann raffte sich auf und schleppte sich wie ein verwundeter Gorilla fort. Ich wusste, dass der mit Sicherheit nicht mehr zurückkommen würde, und blickte zurück in die Bar, die scheinbar von einem Hurrikan verwüstet wurde: Tische, Stühle und zerbrochene Billardkugeln lagen verstreut auf dem Boden. Glasscherben glitzerten in Head Butts Haaren, während er Glatze auf den Boden niederrang. Ohne das geringste Mitgefühl trat Rhino auf den Kopf des Mannes ein, die Tritte so brutal, das ich eine klaffende Wunde über seinem Auge bemerkte, aus der das Blut in einem dicken Rinnsal lief. Glatzenmann versuchte vergeblich wieder in die Senkrechte zu kommen, und Rhino trat mit solcher Wucht zu, dass er augenblicklich bewusstlos wurde. Ich konnte meinen Vorgesetzten einen Kampf erklären – aber keinen Mord!