Handbuch Ius Publicum Europaeum

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2. Hauptlinien der Verfassungsentwicklung

a) Verfassungskontinuität: Vom Provisorium zur Dauerlösung

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An die Spitze der Skizzierung der wesentlichen Entwicklungsschritte des Grundgesetzes gehört die Feststellung, dass es von der Verabschiedung im Jahre 1949 bis über die deutsche Wiedervereinigung hinaus eine durchgreifende, kontinuierliche Entwicklungslinie gegeben hat – vom Provisorium über ein Transitorium bis hin zur dauerhaften Verfassung. Als Provisorium galt das Grundgesetz den Ministerpräsidenten der Länder ausweislich ihrer Stellungnahme zu den Frankfurter Dokumenten ebenso wie den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates. Schon die Bezeichnung (eben nicht Verfassung, sondern „nur“ Grundgesetz) sollte dies zum Ausdruck bringen. Doch da das Grundgesetz den umfassenden inhaltlichen Regelungen nach durchaus eine (in Gestalt des Art. 79 Abs. 3 GG sogar besonders dauerhafte!) Vollverfassung war, konnte es in die Rolle eines wirklich tragfähigen und lebenskräftigen Staatsgrundgesetzes hineinwachsen.[184] Das erscheint umso bemerkenswerter, als die allgemeine Wertschätzung des Grundgesetzes als einer sehr gelungenen Verfassung heute zwar üblich ist, zu Beginn aber die kritischen Stimmen überwogen.[185] Im Falle des Grundgesetzes wandelte sich Fragilität in Stabilität, wurde aus dem Provisorium ein Definitivum, das auch den epochalen Einschnitt der Wiedervereinigung Deutschlands überstand. Dass sich sogar der für viele schwierige Begriff des Patriotismus mit dem der Verfassung verknüpfen konnte,[186] ist ein schlagender Beweis für diese Erfolgsgeschichte.

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Natürlich unterlag das Grundgesetz inhaltlich vielfachen Änderungs- und Wandlungsprozessen. Absolut grundstürzende Umgestaltungen gewissermaßen identitätsverändernden Charakters gab es jedoch nicht. Es ist „in den Grundlinien seiner Konzeption erhalten geblieben“ und hat „keine tiefer gehenden Veränderungen des vom Parlamentarischen Rat festgelegten Grundschemas“ erfahren.[187] Freilich hat es einige besonders einschneidende Modifikationen gegeben, von denen die wichtigsten im Folgenden knapp geschildert werden sollen.

b) Verfassungsnachholung: Wehr- und Notstandsverfassung

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Die sukzessive Rückgewinnung voller staatlicher Souveränität durch den Abbau der Besatzungsrechte hatte ihre Kehrseite im entsprechenden Aufbau eigener Handlungsvollmachten, zu denen traditionsgemäß eigene Streitkräfte ebenso zählten wie Regelungen zur Bewältigung staatlicher Notstandslagen. Die Einfügung von Wehrverfassung (aa) und Notstandsverfassung (bb) wird demgemäß als „nachgeholte Verfassunggebung“[188] eingeordnet.

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aa) Die Aufstellung eigener Streitkräfte mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht für Männer war ein wesentlicher Akt der Westintegration der frühen Bundesrepublik.[189] Auf verfassungsrechtlicher Ebene erfolgte sie in zwei Schritten: einem gewissermaßen ersten Versuch, bei dem man noch die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Auge hatte, mit der Wehrnovelle von 1954;[190] sodann dem entscheidenden zweiten Schritt einer umfassender ausgearbeiteten Wehrverfassung 1956.[191] Bei dem sich über Jahre hinziehenden Gesamtprozess ging der Abbau des Besatzungsrechts Hand in Hand mit dem völkerrechtlichen Beitritt zu militärischen Allianzen (NATO, WEU) und der Veränderung des Verfassungsrechts. Eine zentrale Rolle spielten die Pariser Verträge von 1954, darunter als wichtigster der Deutschland-Vertrag (eine Neufassung des nicht in Kraft getretenen Generalvertrages von 1952). Er hob, von einigen alliierten Vorbehalten abgesehen, das Besatzungsstatut auf und gab Deutschland somit die Souveränität zurück.[192] Funktional erfüllte er zumindest partiell die Rolle eines Friedensvertrages. Am 5. Mai 1955 traten die Verträge in Kraft, vier Tage danach war die Bundesrepublik Mitglied der NATO. Am 12. November 1955 erhielten die ersten 101 Freiwilligen der Bundeswehr ihre Ernennungsurkunden. Ein gutes halbes Jahr später waren Wehrverfassung und Wehrpflichtgesetz verabschiedet – das Land hatte wieder eine Wehrpflichtarmee. Am 1. April 1957 rückten die ersten 10 000 wehrpflichtigen Rekruten in die Kasernen ein.

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Die neuen grundgesetzlichen Regelungen[193] betrafen zum einen den Grundrechtsabschnitt (Ersetzung der „Verwaltung“ durch „vollziehende Gewalt“ in Art. 1 Abs. 3 GG, Ersatzdienst für Kriegsdienstverweigerer gem. Art. 12 Abs. 2 GG, Grundrechtseinschränkungen gem. Art. 17a GG), vor allem aber die Staatsorganisation, wobei als hervorstechendes Kennzeichen die „Reduzierung und Teilung des traditionell umfassenden militärischen Oberbefehls [...] und die Stärkung der parlamentarischen Kontrolle“[194] zutage tritt. Die Verankerung des Amtes eines Wehrbeauftragten (Art. 45b GG) und des Verteidigungsausschusses, der zugleich die Rechte eines Untersuchungsausschusses hat (Art. 45a Abs. 2 Satz 1 GG), weisen in diese Richtung.

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bb) Auch die nach weit zurückreichenden Vorarbeiten im Jahre 1968 verabschiedete Notstandsverfassung[195] war letztlich noch besatzungsrechtlich induziert, weil an ihre Verabschiedung der Verzicht auf vorbehaltene Rechte der Alliierten aus dem Deutschland-Vertrag von 1955 geknüpft wurde.[196] Die den inneren wie den äußeren Notstand betreffenden Regelungen gerieten außerordentlich detailliert[197] und erstreckten sich ungeachtet der Einfügung eines eigenen neuen Abschnittes Xa (Art. 115a–115l GG) über das gesamte Grundgesetz.[198] Betroffen waren zunächst die Grundrechte durch Ergänzung des Art. 9 Abs. 3 GG um einen Satz 3 sowie Einschränkungen bei Art. 10, 11 GG und die Einfügung von Art. 12a GG; betroffen waren sodann das Verhältnis von Bund und Ländern (Art. 35 GG), die Kompetenzkataloge sowie Struktur und Aufgaben der Bundesorgane (u.a. Einfügung eines Abschnittes IVa). Letztlich stand hinter dieser Detaillierung und der mehrfachen Stufung des äußeren Notstandsfalles das Bestreben, „die Mängel der Regelung des Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Verfassung zu vermeiden und den Gefahren einer allgemeinen Notstandsklausel zu wehren“[199]. Stattdessen wird ganz im Sinne konsequenter rechtlicher Durchformung des Notstands die unabhängige Gerichtsbarkeit weitgehend ungeschmälert erhalten und die Kontrollfunktion des Parlaments nach Möglichkeit bewahrt.[200] Die Stunde des Notstands sollte nicht mehr allein die Stunde der Exekutive sein. Auch gab es Kompensationsgeschäfte wie die Einfügung des Widerstandsrechts in Art. 20 Abs. 4 GG oder der (bis dato nur einfachgesetzlich geregelten) Verfassungsbeschwerde in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG.[201] Einer wirklichen Probe auf ihre Operationalisierbarkeit musste die Notstandsverfassung bislang glücklicherweise nicht unterzogen werden; ob sie sie bestehen würde, lässt sich wegen ihrer hohen, aber vielleicht wenig praktikablen Regulierungsdichte bezweifeln.

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Ein Bestandteil der Novelle, der sich nicht nur auf den Notstandsfall bezog, sondern auch für die Normallage galt, wurde von gewichtigen Stimmen in seiner Verfassungsmäßigkeit angezweifelt: Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG. Die bis dato von den Alliierten durchgeführte Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs zu nachrichtendienstlichen Zwecken[202] sollte damit in eigene deutsche Regie übernommen und zugleich rechtsstaatlich diszipliniert werden. Die hiernach erlaubten Maßnahmen konnten auch ohne spätere Benachrichtigung des Betroffenen erfolgen, nahmen ihm also die bis dato vorbehaltlos garantierte Möglichkeit, gemäß Art. 19 Abs. 4 GG den Rechtsweg zu beschreiten; dessen Ergänzung um einen Satz 3 diente insofern als prozessual flankierende Absicherung. Hierin sahen viele, unter ihnen kein Geringerer als Günter Dürig,[203] einen mehrfachen Verstoß gegen die (bei Verfassungsänderungen den einzigen materiellen Prüfungsmaßstab bildende) Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer seiner wichtigsten (und mit der knappen Mehrheit von 5:3 Stimmen ergangenen) Entscheidungen eine Verletzung der Ewigkeitsklausel verneint, die neue Verfassungsbestimmung aber zugleich restriktiv ausgelegt.[204] Heute wird dem seinerzeit scharf gescholtenen Urteil[205] sogar attestiert, es habe letztlich befriedend und klärend gewirkt und nehme sich im Vergleich mit jüngeren Rechtsprechungstendenzen in diesem Bereich eher liberal aus.[206] Ohnehin ist die Norm mittlerweile weit in den Schatten der Diskussion um den so genannten Großen Lauschangriff getreten (dazu unten, Rn. 69).

c) Verfassungskorrektur: Finanz- und Haushaltsreform

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Nur ein Jahr nach der Notstandsverfassung wurde ein weiteres Werk der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD (1966–1969) verabschiedet, das Anlage und Gesicht des Grundgesetzes in vielleicht noch stärkerem Maße veränderte: die große Finanz- und Haushaltsreform. Das Zentrum des komplizierten technischen Regelwerkes bildete das Finanzreformgesetz vom 12. Mai 1969, das flankiert wurde vom 20. und 22. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes gleichen Datums.[207]

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Mit diesem Veränderungsschub wurden nicht bislang ausgesparte Komplexe nachträglich eingefügt, sondern bestehende Regelungen strukturell umgestaltet.[208] Letztlich handelte es sich dabei um die Korrektur der 1949 vor allem auf alliierten Druck hin vorgenommenen und weitgehend missglückten Normierungen der Finanzverfassung (dazu oben, Rn. 39); zum anderen aber um den Versuch der Modernisierung des Staates, insbesondere seiner finanz- und haushaltspolitischen Elemente. Die Finanzreform „bildete die verfassungspolitische Reaktion auf die Rezession von 1966/67, veränderte die Finanzverfassung und vollzog den Übergang vom dualistischen Föderalismus, der ein effektives Krisenmanagement verhindert hatte, zum kooperativen Föderalismus“[209]. Die damals frisch und modern daherkommenden Leitbegriffe lauteten Planung[210] (insb., aber nicht nur Finanzplanung), Konjunktursteuerung, Wachstumsvorsorge, aktive Wirtschaftspolitik und eben kooperativer Föderalismus – Begriffe, die heute merkwürdig angegraut klingen, weil man ihre Kehrseite (Fehleranfälligkeit von Planungen, Dominanz der Fachbürokratien, Verwischung von Verantwortlichkeiten, Politikblockaden) mittlerweile etwas besser kennt.

 

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Rechtstechnisch schlug sich der seinerzeit dominante Gestaltungs- und Lenkungsoptimismus vor allem in der Einfügung eines neuen Abschnittes Xa (Art. 91a, 91b GG) und der Art. 104a, 105 Abs. 2a GG sowie einer kräftigen Erweiterung der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes einerseits, der Veränderung zentraler haushaltsrechtlicher Bestimmungen (Art. 109 Abs. 3, 110, 112, 113, 114, 115 GG) andererseits nieder.[211] Es ist ein Zeichen dafür, dass auch die Verfassungsentwicklung ihre spezifischen Themenkonjunkturen hat, wenn heute wieder sehr intensiv über den Rückbau der seinerzeitigen Reformen nachgedacht wird[212] – auch wenn im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung der Trend zum kooperativen Föderalismus erst noch einmal verstärkt worden war.[213]

d) Verfassungsbewährung: Deutsche Wiedervereinigung als epochale Herausforderung

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Die deutsche Wiedervereinigung, ein ebenso unerwartetes wie epochales Ereignis, stellte das Grundgesetz vor seine bislang größte Herausforderung.[214] Nach vielen aufgeregten politischen Debatten und manchen wegen der sich überschlagenden Ereignisse nach kurzem schon wieder überholten verfassungsrechtlichen Vorschlägen[215] wurde die deutsche Wiedervereinigung auf dem Vertragswege bewerkstelligt – mit dem formellen Abschluss eines echten völkerrechtlichen Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR.[216] Die auch in der Staatsrechtslehre verbreitete Rede davon, die DDR sei der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 Satz 2 a.F. GG „beigetreten“[217], trifft also nicht zu. Zwar hat die frei gewählte Volkskammer der DDR am 23.8.1990 den Beitritt zur Bundesrepublik beschlossen;[218] eingetreten ist er dadurch jedoch nicht. Denn tatsächlich haben die beiden deutschen Staaten nach Durchspielen vieler Möglichkeiten die Wiedervereinigung letztlich durch den „in Berlin am 31. August 1990 unterzeichneten Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands einschließlich des Protokolls und der Anlagen I bis III sowie der in Bonn und Berlin am 18. September 1990 unterzeichneten Vereinbarung“[219] vollzogen. Ihm mussten sowohl Bundestag und Bundesrat wie auch die Volkskammer der DDR zustimmen. Zwar ist im Einigungsvertrag (EV) selbst vom „Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990“ die Rede.[220] Doch war an jenem Tag Art. 23 a.F. GG gar nicht mehr existent, da durch Art. 4 Nr. 2 des Einigungsvertrages, der am 29.9.1990 in Kraft getreten war, aufgehoben.[221] Von daher handelt es sich bei den Regelungen des völkerrechtlichen Vertrages auch nicht, wie gern gesagt wird, lediglich um Festlegungen der Voraussetzungen und Folgen des Beitritts.[222] Denn weder ist das Grundgesetz, wie Art. 23 a.F. GG das vorsah, in unveränderter Gestalt im „Beitrittsgebiet“ in Kraft gesetzt worden, sondern galt erst in seiner durch den Einigungsvertrag modifizierten Form; noch entfaltete es Gültigkeit in der DDR, sondern in den fünf neuen Bundesländern, die durch ihre Wiederbegründung, die an eben jenem 3. Oktober 1990 gemäß Art. 1 Abs. 1 EV juristisch wirksam wurde, in der gleichen juristischen Sekunde die alte DDR ablösten, von deren Beitritt man gemeinhin spricht. „In Wahrheit war es eben der völkerrechtliche Einigungsvertrag, der den Beitritt in einer umfassenden Weise selbst regelte.“[223]

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Die in jeder Hinsicht solitäre Konstellation brachte es im Übrigen mit sich, dass das Grundgesetz zum ersten und vermutlich auch zum letzten Male im Wege eines Zustimmungsgesetzes zu einem völkerrechtlichen Vertrag geändert wurde[224] – auch dies ein wegen der Beschränkung parlamentarischer Gestaltungsmacht ungewöhnlicher Vorgang, der seine Rechtfertigung letztlich aus der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der historischen Vorgänge schöpft. Das Bundesverfassungsgericht hat das Verfahren mit sachlich durchaus fragwürdigem Hinweis auf Art. 23 Satz 2 a.F. GG in Verbindung mit dem Wiedervereinigungsgebot der Präambel a.F. als Grundlage dieses Vorgehens und die Qualifizierung der Grundgesetz-Änderungen als „beitrittsbedingt“ bzw. „beitrittsbezogen“ gebilligt.[225] Der Bezug zur Wiedervereinigung ist zwar bei der Aufhebung von Art. 23 a.F. GG sowie der Änderung von Präambel und Art. 146 GG ersichtlich gegeben, lässt sich aber bei anderen der durch den EV vorgenommenen Verfassungsänderungen wie etwa bei Art. 51 Abs. 2 GG mit Fug und Recht bezweifeln.

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Als verfassungsrechtlich wie außenpolitisch bedeutsamstes Ergebnis der deutschen Wiedervereinigung bleibt festzuhalten, dass die deutsche Frage nun nicht mehr offen ist.[226] Mit der mehrfachen Änderung der Präambel[227] im Zusammenhang mit der Streichung von Art. 23 a.F. GG ist klargestellt, dass sich das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in dem der aufgezählten 16 Bundesländer erschöpft. Die Herstellung der deutschen Einheit ist also nicht in den Grenzen von 1937 erfolgt, und Deutschland stellt keine weitergehenden Gebietsansprüche unter Berufung auf das Wiedervereinigungsgebot. Andere Teile Deutschlands i.S.d. Art. 23 a.F. GG gibt es nicht mehr.[228] Diese vor allem für die anderen europäischen Staaten und auch die USA wichtige Feststellung wurde durch die flankierende völkerrechtliche Regelung im „Zwei-Plus-Vier-Vertrag“ abgesichert.[229]

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Gleichwohl ist das Grundgesetz noch immer das von 1949. Einen neuen Akt der Verfassunggebung hat es im Zuge der deutschen Wiedervereinigung nicht gegeben. Das zu betonen besteht Veranlassung, weil die Denkschrift der Bundesregierung zum Einigungsvertrag[230] sowie manche Äußerungen in der Literatur ein solches Verständnis befördern könnten.[231] Auch in den besonderen Formen und Begleiterscheinungen der Wiedervereinigung kann kein formaler Akt der Verfassunggebung gesehen werden. Die Menschen in der ehemaligen DDR haben das Grundgesetz angenommen, nicht geschaffen. Das Grundgesetz ist also durch die Wiedervereinigung nicht neu kreiert, sondern in seinem räumlichen Geltungsbereich erweitert und zugleich durch den Einigungsvertrag verändert worden.[232] Es ist aber nach wie vor das Grundgesetz vom 23. Mai 1949.

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Andererseits bleibt ebenso unzweideutig festzuhalten, dass Art. 146 GG das Tor zu einer neuen, vom gesamten deutschen Volk beschlossenen Verfassung weiterhin offenhält. Das Grundgesetz hat legitime und gesamtdeutsche Geltung, ohne aber als definitive, endgültige und auf legalem Wege nicht mehr zu beseitigende Verfassung gelten zu können. Vielfältige Versuche, die Schlussbestimmung des Grundgesetzes zu marginalisieren oder für gänzlich unbeachtlich zu erklären,[233] finden im Normtext ebenso wenig eine tragfähige Grundlage wie in systematischer oder teleologischer Interpretation oder den Beratungen zur Veränderung der Norm, die im Übrigen nur in der Einfügung eines Relativsatzes bestand.[234] Nach richtigem Verständnis perpetuiert Art. 146 n.F. GG den Ablösungsvorbehalt und eröffnet somit weiterhin die zeitlich nicht begrenzte Möglichkeit, das Grundgesetz durch eine in freier Entscheidung des deutschen Volkes beschlossene Verfassung zu ersetzen.[235]

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In Art. 5 des Einigungsvertrages war im Übrigen empfohlen worden, die Notwendigkeit künftiger Verfassungsänderungen zu prüfen. Die daraufhin Ende 1991 eingesetzte 32köpfige Gemeinsame Verfassungskommission (GVK) bestand je zur Hälfte aus Vertretern von Bundestag und Bundesrat,[236] womit die Aufgabe in die Hände aktiver Parteipolitiker gelegt war. Außerdem bedurfte es für die Vorschläge einer Zweidrittelmehrheit. Entsprechend „mager“[237] und ganz überwiegend auf das Bund-Länder-Verhältnis konzentriert fielen die Ergebnisse aus, wie sie sich in der folgenden formellen Verfassungsänderung niederschlugen.[238] Da von machten lediglich Art. 3 Abs. 2 Satz 2 (Verfassungsauftrag zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau), 3 Abs. 3 Satz 2 (Benachteiligungsverbot für Behinderte) und 20a GG (Staatsziel Umweltschutz) eine Ausnahme.

e) Verfassungstranszendierung: Europäische Integration als Entwicklungsfaktor und neuer Sinnhorizont

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Durch die Verfassungsänderungen im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung war u.a. Art. 23 GG aufgehoben worden. Es ist ein Vorgang von hoher Sinnfälligkeit, wenn nur zwei Jahre später der frühere Wiedervereinigungsartikel zum Europaartikel wurde.[239] Art. 23 n.F. GG regelt nunmehr in partiell überdetaillierter Weise Grund und Grenzen des europäischen Integrationsprozesses. Ergänzt und insbesondere den unionsrechtlichen Gegebenheiten angepasst wurden auch Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG (Kommunalwahlrecht für EU-Ausländer) und Art. 88 (Europäische Zentralbank); im Bereich der Staatsorganisation ist auf die Einfügung von Art. 45 (Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union) und Art. 52 Abs. 3a GG (Europakammer des Bundesrates) hinzuweisen.

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Die hierin sichtbar werdende fortschreitende Europäisierung des Grundgesetzes, zu der noch vielfältige Phänomene der Überlagerung und stillschweigenden Deutungsveränderung der grundgesetzlichen Normen ohne Textänderung hinzutreten,[240] markiert sicher den gewichtigsten und in seiner ganzen Tiefe noch immer nicht voll ausgeloteten Vorgang sukzessiver Transzendierung des nationalen Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Der Integrationsprozess war lange Zeit inkremental verlaufen und ließ die hohe Bedeutung für die Mitgliedstaaten und ihre Verfassungen nicht erkennen; möglicherweise wurde der grundstürzend neue Charakter auch durch die völkerrechtliche Fundierung der Genese und der Fortentwicklung der Gemeinschaft abgedunkelt. Doch spätestens seit dem Vertrag von Maastricht 1992 ist die heute gegebene intensive Verklammerung der nationalen Rechtsordnung mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht Gegenstand anhaltender und kontroverser Debatten. Unbestreitbar ist das Grundgesetz stärker denn je „eingebettet“ in die gesamteuropäische Verfassungsentwicklung.[241] Und mehr noch: dadurch, dass es Raum lässt für höherrangige öffentliche Gewalt in Gestalt der Europäischen Gemeinschaft, weist es gleichsam „über sich selbst hinaus“[242]. Man kann es paradox auch so formulieren, dass das Grundgesetz mittlerweile eine „europäische“ Verfassung ist.[243]

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Ein supra- wie internationaler Bezug zugleich kennzeichnet die im Jahre 2000 erfolgte Änderung des Art. 16 GG.[244] In Abweichung vom bis dahin strikt geltenden Verbot der Auslieferung Deutscher an das Ausland kann nunmehr bei Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze eine andere Regelung getroffen werden.[245] Das vom Deutschen Bundestag verabschiedete und einen einschlägigen Rahmenbeschluss des europäischen Rates umsetzende „Europäische Haftbefehlsgesetz“ wurde allerdings vom Bundesverfassungsgericht in vollem Umfang für nichtig erklärt.[246]