Handbuch Ius Publicum Europaeum

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bb) Grundrechtsinnovationen

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Die Konzipierung des Grundrechtsteils erbrachte aber nicht nur verstärkte prozessuale Sicherungen der Grundrechte, ihre Adressierung an den Gesetzgeber und die Ausdehnung auf juristische Personen, sondern auch veritable Neuschöpfungen. Den meisten sah man ihren „Antwortcharakter“ auf die Erfahrungen mit dem Unrechtsregime an. Auf diese Weise gelangte etwa das Wort „Rasse“ als spezielles Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG[62] in das Grundgesetz wie Pontius Pilatus ins Credo. Der Schutz vor Entzug und Verlust der Staatsangehörigkeit in Art. 16 Abs. 1 GG war ausweislich der Beratungen ebenfalls eine Reaktion auf die nationalsozialistische Ausbürgerungspraxis.[63] Gleiches wird verbreitet und zumeist ganz pauschal für das Asylgrundrecht angenommen,[64] bei dem man plausibel vermuten kann, dass dies ein allen Beteiligten präsenter Problemhintergrund war. Eine sorgsame Sichtung der Beratungsunterlagen ergibt allerdings den insofern überraschenden Befund, dass „in der Diskussion die Erinnerung an die Fluchtschicksale infolge nationalsozialistischer Verfolgung“ eine aus heutiger Sicht eher „untergeordnete Rolle spielte“ und sich aus den Materialien insbesondere nicht ersehen lässt, „daß während der Beratungen des Asylrechts ausdrücklich auf die Flüchtlingsschicksale der Juden Bezug genommen worden wäre.“[65]

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Die Verheerungen des Krieges im Allgemeinen und der Umstand, dass nahezu jede deutsche Familie Kriegsopfer zu beklagen hatte, spiegelten sich in einer Garantie, die es vor dem Zweiten Weltkrieg kaum irgendwo auf der Welt gab: dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Seine Einführung war im Parlamentarischen Rat durchaus nicht unumstritten.[66] Hervorhebung verdient angesichts der sonst eher geringen Anteilnahme der Öffentlichkeit an den Verfassungsdiskussionen, dass es hier letztlich die zahlreichen Anregungen und Eingaben aus der Bevölkerung waren, die zur Verankerung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung (bemerkenswerterweise lange vor Einführung der allgemeinen Wehrpflicht) führten.[67] Wenn etwa umgekehrt die Auswanderungsfreiheit, ein Grundrecht mit großer und spezifisch deutscher Tradition,[68] im Grundgesetz fehlte, hatte das einen eher praktisch-politischen Grund: man wollte in dem daniederliegenden Land nicht auch noch implizit dazu aufrufen, es zu verlassen.[69]

cc) Menschenwürde

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Geradezu wie ein Fanal wirkte der an die Spitze des Grundrechtsabschnittes und damit (von der Präambel abgesehen) des gesamten Grundgesetzes gerückte Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Hier ist die unmittelbare Reaktion auf „die unsäglichen Entwürdigungen der Menschen durch die totalitären Gewalten des 20. Jahrhunderts“[70] mit Händen zu greifen. Den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates standen die entsprechenden Praktiken des NS-Regimes noch deutlich vor Augen.[71] Für eine solche Norm gab es kein Vorbild und keine Überlieferung. In den klassischen Menschenrechtserklärungen Amerikas oder Frankreichs kommt die Menschenwürde ebenso wenig vor wie in den Menschenrechtsdokumenten des 19. Jahrhunderts. Erst im 20. Jahrhundert finden sich einige Bruchstücke allerdings durchaus beschränkten oder höchst ambivalenten Charakters in Verfassungen der Zwischenkriegszeit.[72] Für die Durchsetzung der Menschenwürde als einer Rechtsnorm übernahm die UN-Charta von 1945 insofern eine gewisse Vorreiterrolle, als in deren Präambel von „dignity and worth of the human person“ die Rede ist. Später bezeichnete dann die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in ihrem ersten Artikel alle Menschen als „frei und gleich an Würde und Rechten“ geboren. Auch einige vorkonstitutionelle Landesverfassungen (Bayern, Bremen und Hessen) rekurrierten bereits auf die Würde. Aber das Bekenntnis zur Menschenwürde als normativ verbindliche und ranghöchste Norm an der Spitze einer Staatsverfassung war neu und blieb es für lange Zeit.[73]

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Auch wenn man die spätere Bedeutungssteigerung der Menschenwürdegarantie (dazu unter Rn. 143ff.) wohl kaum voraussehen konnte, war man sich im Parlamentarischen Rat des hohen Ranges der Norm und ihrer Ausnahmestellung doch wohlbewusst. So sprach etwa Carlo Schmid von einer „Generalklausel für den gesamten Grundrechtskatalog“[74]. Mit dem Grundgesetz insgesamt wie mit dem Grundrechtsteil gliederte sich Deutschland in die nordatlantisch-westeuropäische Verfassungstradition wieder ein; mit Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) fügte es dieser Tradition ein neues Element hinzu.

b) Staatsorganisation

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Dass das Grundgesetz gewissermaßen eine lernende Verfassung war, lässt sich des Weiteren im Bereich der Staatsorganisation demonstrieren. Hier suchte man vor allem aus tatsächlichen oder vermeintlichen Weimarer Erfahrungen Lehren für eine bessere, gleichsam intelligentere Struktur der Institutionen, Ämter und Kompetenzen zu ziehen.

aa) Parlamentarisches Regierungssystem mit starkem Bundeskanzler

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Die Stellung des deutschen Bundespräsidenten basiert maßgeblich auf Erfahrungen der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte. Der Zuschnitt seines Amtes mit eher repräsentativ-zeremoniellen Aufgaben und geringer politischer Macht[75] stellte eine bewusste Abkehr von der starken Stellung des Reichspräsidenten der Weimarer Republik dar, der als „plebiszitäres“ Staatsoberhaupt[76] direkt vom Volk gewählt und mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet gewesen war: Ernennung der Reichsregierung (Art. 53 WRV), Auflösung des Reichstages (Art. 25 Abs. 1 WRV), Herbeiführung von Volksentscheiden (Art. 73 Abs. 1 WRV) sowie der als „Diktaturgewalt“ apostrophierte Erlass von Notverordnungen gemäß Art. 48 WRV.[77] Die verbreitete Etikettierung als „Ersatzkaiser“ kam also nicht von ungefähr, wobei es insbesondere die Kombinationsmöglichkeit der Kompetenzen (Reichstagsauflösung, Kanzlerernennung, Notverordnungserlass) war, die zur Machthäufung beitrugen.[78] Mit der Einsetzung von Präsidialkabinetten ab 1930, der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und der „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933[79] hatte Hindenburg maßgeblich zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen.[80] An seine fatale Rolle wurde in den Beratungen des Parlamentarischen Rates durchaus erinnert.[81] Dem nicht vom Volk, sondern von der Bundesversammlung gewählten Staatsoberhaupt der Bundesrepublik stehen politische Gestaltungsentscheidungen hingegen nur in den (selten relevant werdenden) Fällen des Art. 63 Abs. 4 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 1 und 81 Abs. 1 GG zu, wenn dem Parlament die Wahl eines Kanzlers mit absoluter Mehrheit der Stimmen nicht gelingt oder die Vertrauensfrage scheitert.[82]

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Im Gegenzug erfährt die Position des Bundeskanzlers eine ganz erhebliche Aufwertung. Der Reichskanzler Weimarer Prägung war abhängig sowohl vom Reichspräsidenten (der ihn ernannte und wieder entlassen konnte) als auch vom Reichstag (der ihn ablehnen und mit destruktivem Misstrauensvotum seines Amtes entheben konnte). Diese doppelte Abhängigkeit erwies sich in der Schlussphase der Weimarer Republik als „entscheidende Schwäche in der Stellung der Reichsregierung“[83]. Demgegenüber rückt das Grundgesetz den Bundeskanzler in die Mitte des parlamentarischen Regierungssystems und verleiht ihm eine ebenso breite wie stabile, gleich mehrfach gesicherte Grundlage:[84] Wahl allein durch den Bundestag (Art. 63 GG), Absetzungsmöglichkeit nur im Wege eines konstruktiven Misstrauensvotums desselben (Art. 67 GG), umfassendes Kabinettsbildungsrecht einschließlich Organisations- und Personalkompetenz (Art. 64 GG), Richtlinienkompetenz (Art. 65 GG). Es ist daher nur konsequent, dass mit der Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers auch das der Minister endet (Art. 69 Abs. 2 GG). Die in der politikwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Literatur verbreitete Charakterisierung der Bundesrepublik als einer „Kanzlerdemokratie“[85] hat aus verfassungsrechtlicher Sicht durchaus ihre Berechtigung. Verstärkt wurde die Rolle des Bundeskanzlers in jüngerer Zeit noch dadurch, dass gemäß der einschlägigen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG auch als „auflösungsgerichtete“ zulässig ist und nicht nur gestellt werden darf, um eine Mehrheit im bestehenden Bundestag zu erhalten oder wiederzugewinnen.[86]

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Doch ändert dies alles letztlich nichts daran, dass sich durch die im Grundgesetz vollzogene vollständige Parlamentarisierung des Regierungssystems[87] das Parlament gegenüber der Weimarer Verfassung stärker in die Verantwortung genommen sieht, indem es sich nicht mehr auf die bloße Duldung einer von dritter Seite kreierten Regierung und das Betreiben negativer Politik beschränken kann.[88] Für den Bundeskanzler zeichnet der Bundestag verantwortlich.

bb) Restriktive Verordnungskompetenz der Exekutive

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Eine ähnliche Inpflichtnahme begegnet bei der Gesetzgebung. Hier verleiht der Ausschluss direktdemokratischer Elemente (dazu unten, Rn. 24) dem Bundestag gewissermaßen eine Monopolstellung. Der Versuchung, sich dieser umfassenden Normsetzungsaufgabe weitgehend durch Delegation auf die Exekutive zu entziehen, schiebt Art. 80 GG einen Riegel vor. Dieses „Novum in der deutschen Verfassungsgeschichte“[89] intendiert mit seiner gleich dreifachen Bindungsklausel vor allem den Ausschluss umfassender gesetzlicher Ermächtigungen, wie sie in der Weimarer Republik an der Tagesordnung waren und dort zu gesetzesvertretenden, -aufhebenden, -verändernden und sogar verfassungsändernden Verordnungen führten.[90] Art. 80 GG nimmt das Parlament gleichsam in die Rechtsetzungspflicht und hindert es daran, „sich seiner Verantwortung als gesetzgebender Körperschaft zu entäußern“[91]. Die autonomen Gestaltungsmöglichkeiten exekutiver Rechtsetzung sind somit stärker als in vielen anderen Staaten der Europäischen Union[92] limitiert.

 

cc) Föderale Staatsform

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Das in der deutschen Geschichte tief verwurzelte Gestaltungsprinzip föderaler Ordnung[93] mit seinem typischen Effekt vertikaler Gewaltenteilung ist mit totalitären Ordnungen unvereinbar. Deshalb zählte die Entföderalisierung des Reiches zu den primären Maßnahmen des NS-Regimes.[94] Ebenso selbstverständlich war es, Nachkriegsdeutschland wieder als Bundesstaat zu etablieren und damit den totalitären Zentralismus als „klar diskreditierte Episode“ einzustufen.[95] Darüber konnte es im Grundsatz keinen ernsthaften Dissens geben, zumal nach 1945 zunächst die Kommunen und die Länder wiedererstanden, welche das Grundgesetz nun als durchaus erwünschte Realität vorfand. Es hätte daher der entsprechenden Vorgaben in den Frankfurter Dokumenten eigentlich nicht bedurft.[96] Doch war durch diese Konvergenz der föderale Gedanke gewissermaßen doppelt abgesichert: als eigener Wunsch der Deutschen wie als verbindliche Vorgabe der Alliierten. Dass es im Parlamentarischen Rat gleichwohl ein intensives Ringen um die Ausgestaltung im Einzelnen[97] und immer wieder Interventionen der Militärgouverneure gab,[98] folgt aus der Fülle alternativer Regelungsmöglichkeiten, die jeden Bundesstaat zu einem Unikat[99] werden lässt. Letztlich siedelte sich das Grundgesetz insofern zwischen der Reichsverfassung von 1871 mit ihrer starken Betonung der Eigenständigkeit der Gliedstaaten und der Weimarer Reichsverfassung mit ihrem ebenso klar ausgeprägten unitarischen Charakter an.

dd) Kompetenzstarkes Bundesverfassungsgericht

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Die Einrichtung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit war schon für den Herrenchiemseer Verfassungskonvent selbstverständlich: zum einen, weil man eine gerichtliche Absicherung der Grundrechte für notwendig hielt, zum anderen, weil die Vorgänge am Ende der Weimarer Republik den Glauben an einen effektiven Schutz der Verfassung durch das Parlament oder den Reichspräsidenten „nachhaltig erschüttert“ hatten.[100] Es wäre aber zu kurz gegriffen, in der Etablierung des Bundesverfassungsgerichts zuvörderst einen misstrauischen Vorbehalt gegenüber der parlamentarischen Demokratie erblicken zu wollen. Denn von Anlage und Konzeption her konnte man an sehr viel ältere Vorbilder, vornehmlich und einmal mehr an Regelungen der Paulskirchenverfassung,[101] anknüpfen, die ihrerseits ohne das amerikanische Vorbild nicht zu denken gewesen wären.[102] Entscheidend war und ist vielmehr der konstruktive Aspekt, dass eine Verfassungsgerichtsbarkeit den zentralen Gedanken des Vorrangs der Verfassung (dazu unten, Rn. 85ff.) komplettiert, indem sie eine entsprechende justizielle Kontrolle von Verstößen gegen diese einrichtet.[103] Die Kompetenzfülle des Bundesverfassungsgerichts geht freilich nicht nur weit über die relativ bescheidenen Zuständigkeiten des Weimarer Staatsgerichtshofs hinaus, sondern darf – vielleicht mit Ausnahme einiger Verfassungsgerichte ehemaliger Ostblockstaaten – weltweit als einzigartig gelten.[104]

ee) Ausschluss direkter Demokratie

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Wichtig für das Verständnis einer Verfassung ist nicht allein, was diese positiv regelt, sondern auch, was bewusst ausgeschlossen wird. Das erweist sich bei der Nichtaufnahme direktdemokratischer Elemente wie Volksbegehren und Volksentscheid. Auch hier stützte man sich in den Beratungen auf Weimarer Erfahrungen. Doch handelte es sich insofern weniger um Lehren als um Legenden. Während der Herrenchiemseer Konvent zwar nur, aber immerhin noch für Verfassungsänderungen einen Volksentscheid vorgesehen hatte,[105] legte man im Parlamentarischen Rat von Anbeginn starke Betonung auf die (rein) repräsentative Ausgestaltung der Demokratie. Schon in einem sehr frühen Beratungsstadium hatte Theodor Heuss die suggestive Formel von Volksbegehren und Volksinitiative als einer „Prämie für jeden Demagogen“ geprägt.[106] Der Verzicht auf direktdemokratische Elemente jeder Art erfolgte einer ebenso verbreiteten wie unzutreffenden Einschätzung zufolge mit Blick auf die agitatorischen Praktiken der politischen Parteien in der Weimarer Republik einerseits, als Reaktion auf die so genannten Volksabstimmungen im NS-Staat andererseits.[107] Letztere dienten jedoch lediglich als Propagandainstrumente mit feststehendem Ausgang und scheiden als Argument gegen Volksentscheidungen im demokratischen Verfassungsstaat von vornherein aus. Aber auch die Berufung auf vermeintlich negative Weimarer Erfahrungen hält einer näheren Prüfung nicht stand: die Zahl der Volksentscheide war – auf Reichsebene – mit gerade zweien außerordentlich gering und auch die der Volksbegehren mit sechs nicht sonderlich hoch;[108] agitatorische Praktiken begegnen auch bei Wahlkämpfen und sind kein Spezifikum des Meinungsstreites bei Volksentscheiden; anderen Faktoren wie der fehlenden Verankerung der freiheitlichen Republik in den politisch, wirtschaftlich und kulturell führenden Schichten kommt für den Untergang Weimars erheblich größere Bedeutung zu als den direktdemokratischen Elementen. Für deren Ausschluss im Grundgesetz bieten angeblich „negative“ Weimarer Erfahrungen also keine tragfähige Basis.[109] Das gilt im Übrigen gerade auch, wenn man die entsprechende Praxis auf der Landesebene einbezieht.[110] Die tatsächlich entscheidenden Gründe für den Ausschluss direktdemokratischer Elemente dürften anderer, wesentlich zeitgeschichtlicher Natur gewesen sein.[111] Ansonsten wäre auch schlecht zu erklären, warum angesichts einer behaupteten historischen Lektion die vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen so gut wie ausnahmslos Verfahren der Volksgesetzgebung kannten und diese beibehielten.

ff) Integration der Parteien in das Verfassungsgefüge

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Mit der Skepsis des Grundgesetzes gegenüber der direkten Demokratie korrespondiert seine Anerkennung der politischen Parteien als Organe der Willensbildung im Repräsentativsystem (Art. 21 GG). Während die Weimarer Reichsverfassung Parteien lediglich in prononciert negativer Perspektive wahrgenommen hatte, indem sie Beamte als „Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei“ ansprach (Art. 130 Abs. 1 WRV), ordnet ihnen bereits der Herrenchiemseer Verfassungskonvent den seither unbestrittenen Status als Organe der politischen Willensbildung zu (Art. 47 Abs. 3 Satz 1 HChE).[112] Der Parlamentarische Rat ergänzt dieses Gerüst lediglich – auf Antrag des Zentrums – um die Rechenschaftspflicht über die Parteifinanzen.[113] Im Übrigen wird ein parteiübergreifender Konsens sichtbar, die Verfassung der Verfassungswirklichkeit anzupassen und deren Wendung zum vielzitierten Parteienstaat nicht länger zu ignorieren.[114]

c) Bestandssicherung der Verfassung

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Eine der hervorstechenden Eigenschaften des Grundgesetzes besteht darin, dass es über ein eindrucksvolles Arsenal von Instrumenten zu seiner „Bestandssicherung“[115] verfügt, von denen neben dem noch näher zu betrachtenden Vorrang der Verfassung (dazu unten, Rn. 85ff.) drei hervorgehoben seien.[116]

aa) Inkorporationsgebot (Art. 79 Abs. 1 GG)

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Art. 79 Abs. 1 GG schreibt vor, dass Verfassungsänderungen den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändern oder ergänzen müssen. Diese zumeist als Textänderungsgebot bezeichnete, treffender als Inkorporationsgebot zu benennende Norm dient nicht nur dem praktischen Zweck, das geltende formelle Verfassungsrecht in einer aktuellen Textausgabe des Grundgesetzes unschwer auffinden zu können. Der zugrunde liegende Gedanke der „Stringenz und urkundlichen Klarheit“[117] der Verfassung qua Verbot von „Auslagerungen“ auf andere Texte weist vielmehr den spezifischen Mehrwert auf, den Monopolcharakter der einen Verfassungsurkunde zu wahren und die Verfassungsgeltung insgesamt zu stabilisieren.[118] Der besonderen Bedeutung dieses formellen Aspektes waren sich die Schöpfer des Grundgesetzes bewusst. Ausdrücklich hatte schon der Herrenchiemseer Konvent darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit von Verfassungsänderungen ohne Verfassungstextänderungen „nicht unwesentlich zur Entwertung der Weimarer Verfassung beigetragen“ habe.[119] Die dort verbreitete Praxis der Verfassungsdurchbrechungen in Gestalt der Auslagerung verfassungsändernder Gesetze aus der Verfassungsurkunde wollte man vermeiden.[120]

bb) Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG)

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Auch Art. 79 Abs. 3 GG stellt eine Verfassungsschutzbestimmung dar – freilich keine formelle, sondern eine materielle. Mit dieser „Ewigkeitsklausel“,[121] die kaum Vorläufer kannte, erreicht die Bestandssicherungskomponente gleichsam ihren logischen Endpunkt, indem sie bestimmte Regelungsgehalte für normativ unantastbar erklärt und jeder Verfassungsänderung einer noch so überwältigenden Mehrheit entzieht. Dabei war man sich von Anbeginn klar darüber, mit dieser Norm revolutionäre Machtwechsel nicht ausschließen zu können; doch sollte ihnen die „Maske der Legalität“ entrissen (Dehler) bzw. der „Schutz der Scheinlegalität“ (C. Schmid) genommen werden.[122] Das war eindeutig auf die angeblich „legale“ Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und den Umstand gemünzt, dass es in Weimar vergleichbare Grenzen der Verfassungsrevision nicht gegeben hatte.[123] Jetzt dominierte der Gedanke, dass sich eine Verfassung nicht im Wege ihrer Änderung selbst sollte vernichten und dass eine revolutionär errichtete neue Ordnung nicht von der Legitimität der alten sollte zehren dürfen.[124] Art. 79 Abs. 3 GG zwingt zur offenen Ausweisung des Kontinuitätsbruches und zum Anbieten neuer, sinntragender Legitimitätsansprüche.

cc) Streitbare Demokratie (Art. 9 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2 GG)

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Gewissermaßen absolut setzt sich das Grundgesetz des Weiteren in seiner Ausprägung als „streitbare“ (auch: wehrhafte, abwehrbereite) Demokratie.[125] Diese Charakterisierung bezieht sich auf einige Normen, deren gemeinsames Schutzgut die freiheitliche demokratische Grundordnung[126] ist: Art. 9 Abs. 2 (Verbot von Vereinigungen), Art. 18 (Grundrechtsverwirkung von Einzelpersonen) und Art. 21 Abs. 2 GG (Verbot politischer Parteien); im weiteren Sinne zählt auch die Richteranklage nach Art. 98 Abs. 2, Abs. 5 GG dazu. Während Art. 79 Abs. 3 GG sich an den verfassungsändernden Gesetzgeber und damit die Staatsorgane wendet und ihnen gegenüber die eigene Unverbrüchlichkeit im Sinne einer Werthaftigkeit betont, richtet sich die streitbare Demokratie gegen eine bestimmte Form der Grundrechtsausübung durch die Bürger und geht so zur Wehrhaftigkeit über.[127] Während die Ewigkeitsklausel „nur“ bestimmte Strukturprinzipien der Disposition der Staatsorgane entzieht, beschränkt die streitbare Demokratie darüber hinaus die Diskussion in der Gesellschaft.[128] In dieser Reglementierung des gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses liegt die Problematik des Konzepts, das im internationalen Vergleich wenig Parallelen findet und in dieser Form lange Zeit als deutsches Unikat gelten konnte.[129] Im Herrenchiemseer Konvent hatte man mit Blick auf Weimar davon gesprochen, die Demokratie dürfe nicht selbstmörderisch werden[130] – im gleichen Atemzug aber auch vor politischem Missbrauch gewarnt. Damit aus dem Schutz der freiheitlichen Demokratie nicht die Bekämpfung des politischen Gegners oder Andersdenkender resultiert, muss man die entsprechenden Instrumente sehr behutsam einsetzen und darf nicht der Gefahr „kleinkarierte[r] Ausmünzungen“[131] erliegen. So hat es denn bisher erst zwei Parteienverbote und noch keinen Anwendungsfall der Grundrechtsverwirkung oder der Richteranklage gegeben. Lediglich beim Vereinigungsverbot ist die Zahl deutlich höher, was nicht zuletzt daran liegen dürfte, dass die Entscheidung hier nicht (wie bei den anderen Normen) beim Bundesverfassungsgericht monopolisiert ist.

 

§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › I. Der Ursprungskontext des Grundgesetzes › 4. „Ausländische“ Einflüsse und Rechtsvergleich