Handbuch Ius Publicum Europaeum

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4. Organverfassung und Gewaltengliederung

a) Die Verfassungsorgane und ihr gegenseitiges Verhältnis

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Der Begriff des Verfassungsorgans wird im griechischen Schrifttum nicht oft gebraucht; es ist meistens von unmittelbaren und mittelbaren staatlichen Organen die Rede. Die unmittelbaren staatlichen Organe sind nach der traditionellen Lehre in der Verfassung vorgesehen und keinem anderen Organ untergeordnet; in den sonstigen Fällen geht es um mittelbare staatliche Organe.[273] Demzufolge sind unmittelbare staatliche Organe der Wahlkörper (εκλογικό σώμα), das Parlament (Βουλή), der Präsident der Republik (Πρόεδρος της Δημοκρατίας) und die Regierung (Κυβέρνηση), nach herrschender Auffassung auch die Gerichte[274] und die in der Verfassung ausdrücklich vorgesehenen Minister.[275]

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Das höchste Organ des Staates ist der Wahlkörper.[276] Was die anderen unmittelbaren staatlichen Organe betrifft, verankert Art. 26 Verf. den Grundsatz der „Funktionenteilung“. Danach wird die gesetzgebende Funktion durch das Parlament und den Präsidenten der Republik (Abs. 1), die vollziehende Funktion durch den Präsidenten der Republik und die Regierung (Abs. 2) und die rechtsprechende Funktion durch die Gerichte (Abs. 3) wahrgenommen. Wie bereits dieser Formulierung hinsichtlich der Doppelstellung des Präsidenten der Republik zu entnehmen ist, wird die „Funktionenteilung“ durch mehrere Verschränkungen relativiert. Obgleich die unabhängigen Behörden[277] überwiegend der Exekutive zugeordnet werden, entspricht ihre verfassungsrechtliche Verankerung eher der funktionellen Auffassung der gegenseitigen Machtbeschränkung der staatlichen Gewalten als der formalen dreigliedrigen Teilung. Im Einzelnen:

aa) Das Parlament

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Gemäß Art. 26 Abs. 1 Verf. ist das aus einer einzigen Kammer bestehende Parlament grundsätzlich das Legislativorgan. Zu den gesetzgebenden Zuständigkeiten des Parlaments gehören die Verabschiedung der formellen Gesetze[278] sowie die Ratifizierung der völkerrechtlichen Verträge (Art. 28 Abs. 1 Verf.), die Abstimmung über die Geschäftsordnung des Parlaments (Art. 65 Abs. 1 Verf.) und die Verabschiedung des Haushaltsplans, der Haushaltsrechnung und der allgemeinen Bilanz des Staates (Art. 79 Verf.). Im Bereich des Finanzwesens dürfen Steuern nur durch ein nicht über das vorangehende Rechnungsjahr zurückwirkendes formelles Gesetz eingeführt und erhoben werden (Art. 78 Abs. 1–2 Verf.).

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Die Gewährleistung des parlamentarischen Systems bringt die Verschränkung zwischen Parlament und Regierung deutlich zum Ausdruck. Ernennung und Bestehen der Regierung setzen das Vertrauen des Parlaments voraus (Art. 84), wobei das Parlament die parlamentarische Kontrolle über die Regierung ausübt. Als Kontrollmittel bestimmen die Verfassung und die Geschäftsordnung des Parlaments übliche[279] und „aktuelle“[280] Mittel der parlamentarischen Kontrolle, insbesondere die sog. Diskussion „vor der Tagesordnung“ zu Themen allgemeinen Interesses,[281] die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses[282] und den Misstrauensantrag.[283]

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Einige verfassungsrechtliche Bestimmungen und die damit zusammenhängende Praxis haben dazu geführt, dass die Rolle des Parlaments in der griechischen Verfassungswirklichkeit äußerst beschränkt ist.[284] Die Verfassung scheint zunächst die Gesetzesinitiative des Parlaments nicht zu ermutigen. Gesetzesvorschläge oder Änderungsanträge, die Ausgaben, Einnahme- oder Vermögensminderung des Staates enthalten und dem Vorteil von Einzelpersonen dienen (Art. 73 Abs. 3) sowie Gesetzentwürfe, die sich auf die Gewährung von Ruhegehältern und deren Voraussetzungen beziehen (Art. 73 Abs. 2), dürfen aus der Mitte des Parlaments nicht eingebracht werden. Davon abgesehen kommt ein Gesetz aus der Mitte des Parlaments in der Praxis nur in vereinzelten und praktisch unbedeutenden Fällen vor. Die von der Regierung als „dringlich“ oder „sehr dringlich“ bezeichneten Gesetzesentwürfe bzw. Gesetzesvorschläge können nach beschränkter Beratung im Parlament verabschiedet werden (Art. 76 Abs. 4–5 Verf.). Obwohl Bestimmungen, die nicht im Zusammenhang mit dem Hauptgegenstand des Gesetzesentwurfs oder des Gesetzesvorschlags stehen, gemäß Art. 74 Abs. 5 Verf. nicht zur Beratung vorgelegt werden, unterliegt diese Vorschrift keiner gerichtlichen Überprüfung und wird in der Praxis systematisch umgangen. Übrigens hängen die weiterreichenden Mittel der parlamentarischen Kontrolle von der Zustimmung der Regierungsmehrheit ab; auch die sonstigen Kontrollmittel sind in der Praxis bedeutungslos.

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Eine größere praktische Bedeutung könnte das Parlament bei der Ausübung zweier anderer Zuständigkeiten einnehmen, was aber kaum der Fall ist: die (in der Praxis von den politischen Parteien dominierte) Wahl des Präsidenten der Republik, die mit qualifizierter Mehrheit und, wenn diese Mehrheit nicht erreicht wird, sogar mit der relativen Mehrheit des aus Neuwahlen hervorgegangenen Parlaments erfolgt (Art. 32 Verf.) und die (tatsächlich nie getroffene) Entscheidung zur Durchführung einer Volksabstimmung (Art. 44 Abs. 2 Verf.).

bb) Der Präsident der Republik und die Regierung

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Der Präsident der Republik und die Regierung sind gemäß Art. 26 Abs. 2 Verf. die zwei Träger der Exekutive. Obgleich die Verfassung den Präsidenten der Republik wortwörtlich als „den Regulator der Staatsform“ bezeichnet (Art. 30 Abs. 1 Satz 1), bedarf grundsätzlich jeder Akt des Präsidenten der Gegenzeichnung durch den zuständigen Minister (Art. 35 Abs. 1 Verf.).[285] Zugleich sieht die Verfassung vor, dass der Präsident der Republik nur die Zuständigkeiten hat, die ihm die Verfassung und die mit ihr in Einklang stehenden Gesetze ausdrücklich verleihen (Art. 50). Die politische Macht ist demzufolge in den Händen der Regierung konzentriert, die für die Bestimmung und Leitung der allgemeinen Politik des Landes zuständig ist (Art. 82 Abs. 1 Verf.). Bereits der Verfassungstext hebt übrigens die besondere Stellung des in der Praxis dominierenden Premierministers (Πρωθυπουργός) hervor, auf dessen Vorschlag die sonstigen Minister ernannt und entlassen werden (Art. 37 Abs. 1), der „die Einheitlichkeit der Regierung“ sicherstellt und „deren Tätigkeit sowie die der öffentlichen Verwaltung zur Durchführung der Regierungspolitik“ leitet (Art. 82 Abs. 2).

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Das Verhältnis des Präsidenten der Republik und der Regierung sowohl untereinander als auch gegenüber dem Parlament ist von mehreren Verschränkungen geprägt. Die Träger der Exekutive wirken an der Legislative nicht nur mittelbar mit, indem sie, wie bereits erwähnt, u.U. das Parlament auflösen dürfen, sondern auch unmittelbar.[286] Die Regierungspolitik wird vor allem durch die gesetzgebende Funktion konkretisiert; deshalb steht auch der Regierung die Gesetzesinitiative zu (Art. 73 Abs. 1 Verf.), wodurch die überwältigende Mehrheit der Gesetze entsteht. Die vom Parlament beschlossenen Gesetze werden vom Präsidenten der Republik ausgefertigt und verkündet, wobei ihm die nie praktizierte und von der Lehre auf den Fall einer Verfassungsverletzung beschränkte[287] Möglichkeit zugestanden wird, einen vom Parlament verabschiedeten Gesetzentwurf an das Parlament zurückzuverweisen (Art. 42 Abs. 1 Verf.).[288] Ferner erlässt der Präsident der Republik die zum Vollzug der Gesetze notwendigen Verordnungen (Art. 43 Abs. 1 Verf.) sowie Präsidialverordnungen auf Vorschlag des zuständigen Ministers auf der Grundlage gesetzlicher Ermächtigung (Art. 43 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 Verf.). Die Regierung insgesamt, die einzelnen Minister oder auch andere Verwaltungsorgane können ebenfalls auf der Grundlage gesetzlicher Ermächtigung Rechtsverordnungen zur Regelung von besonderen Fragen erlassen (Art. 43 Abs. 2 Satz 2 Verf.). Schließlich kann der Präsident der Republik im Eilfall oder im Notfall auf Vorschlag der Regierung „Akte gesetzgeberischen Inhalts“ erlassen, die nachträglich dem Parlament vorgelegt werden (Art. 44 Abs. 1 und Art. 48 Abs. 5 Verf.).

cc) Die Gerichte

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Mehrere Verschränkungen gibt es auch zwischen der Judikative und den anderen Gewalten. Sowohl das Parlament[289] als auch der Präsident der Republik[290] üben in besonderen Fällen gerichtliche Zuständigkeiten aus. Obwohl die Verfassung die Unabhängigkeit der Richter gewährleistet (Art. 87 Abs. 1),[291] kann der Justizminister eine Disziplinaranklage gegen Richter erheben (Art. 91 Abs. 1 und 3 Verf.). In der Praxis wichtiger ist die Auswahl der höchsten richterlichen Ämter durch Präsidialverordnung auf Vorschlag des Ministerrates (Art. 90 Abs. 5 Verf.).

dd) Primat eines staatlichen Organs?

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Während der Wahlkörper – das Volk im engeren Sinne – im Schrifttum als das höchste staatliche Organ beschrieben,[292] der Präsident der Republik dagegen in der Verfassung als „der Regulator der Staatsform“ bezeichnet wird, bilden die Regierung und die Parlamentsmehrheit in der Tat insbesondere seit der Revision von 1986 das dominierende einheitliche Machtzentrum, dessen Hauptakteur der Premierminister ist. Zu diesem Ergebnis hat auch die Tatsache beigetragen, dass die Wahlen in aller Regel mit einem Wahlsystem durchgeführt werden, das so gut wie immer der stimmenstärksten Partei die absolute Mehrheit der Parlamentsitze gewährt. Die Verfassung war also ein geeigneter Rahmen für die Herausbildung einer übergeordneten politischen Stellung der Regierung und insbesondere des Premierministers.[293]

 

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Obgleich den Grundzügen dieser Entwicklung weitgehend zugestimmt wird, ist im Schrifttum oft von einem Primat des Parlaments die Rede. Es wird gemeint, dass entweder die institutionelle Überordnung des Parlaments eine notwendige Konsequenz des Demokratieprinzips darstelle[294] oder dass das Parlament eine politische Überordnung gegenüber den anderen Gewalten genieße bzw. genießen solle.[295] Demgegenüber hat der Staatsrat aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung in Verbindung mit Art. 87 Abs. 1 (Garantie der richterlichen Unabhängigkeit) und Art. 88 Abs. 2 Verf. („Die Bezüge der richterlichen Amtsträger entsprechen ihrem Amt“) die Gleichwertigkeit aller staatlichen Gewalten als notwendig abgeleitet, um reale und effektive Gewaltenteilung zu erreichen, und deshalb die Angleichung der Bezüge und der steuerrechtlichen Behandlung der richterlichen Amtsträger mit denen der Abgeordneten angeordnet.[296]

b) Die vertikale Gliederung

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In Griechenland als einem Einheitsstaat sowie im Hinblick auf den traditionellen Zentralismus des griechischen Staates spielt die Frage der vertikalen Gliederung eine eher beschränkte Rolle, trotz der Versuche, insbesondere in den letzten Jahren auch unter dem Einfluss des Europarechts, diesen Zentralismus zu lockern.[297] Unter diesen Versuchen sind insbesondere die Einrichtung der Selbstverwaltungskörperschaften zweiter Stufe[298] und die Zwangsfusion der Selbstverwaltungskörperschaften erster Stufe[299] zu nennen.

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Mit Blick auf die Organisation der Staatsverwaltung legt Art. 101 Abs. 1 Verf. fest, dass die Staatsverwaltung nach dem Dekonzentrationsprinzip[300] aufgebaut ist.[301] Die regionalen Staatsorgane haben die allgemeine Zuständigkeit, über die Angelegenheiten ihrer Region zu entscheiden, die zentralen Staatsorgane hingegen die allgemeine Richtlinienkompetenz und die Zuständigkeit für die Koordination und die Gesetzmäßigkeitskontrolle der Akte der regionalen Organe (Art. 101 Abs. 3 Verf.). Die gesetzlichen Bestimmungen über die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den zentralen und regionalen Dienststellen dürfen nach der bisherigen Rechtsprechung grundsätzlich nur dahingehend abgeändert werden, dass besondere Zuständigkeiten von den zentralen auf die regionalen Dienststellen übertragen werden (vgl. Art. 118 Abs. 3 Verf.).[302] Laut Gesetz (G. 2503/1997) gliedert sich das Land in (zurzeit dreizehn) Regionen (Περιφέρειες), an deren Spitze der von der Regierung ernannte Generalsekretär der Region steht.

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Die Verwaltung der sog. „örtlichen Angelegenheiten“ wird den in der Verfassung nach der Revision von 2001 nicht konkretisierten örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften (οργανισμοί τοπικής αυτοδιοίκησης) erster und zweiter Stufe zugestanden (Art. 102 Abs. 1 Satz 1 Verf.).[303] Zugunsten dieser Körperschaften besteht eine Zuständigkeitsvermutung für die Verwaltung der „örtlichen Angelegenheiten“ (Art. 102 Abs. 1 Satz 2 Verf.). Diese ist von einer selbständigen Rechtsetzungskompetenz zu unterscheiden, auch wenn die Gebietskörperschaften durch Gesetz zur Regelung von Fragen mit örtlichem Interesse ermächtigt werden können (vgl. Art. 43 Abs. 2 Satz 2 Verf.). Während der Staatsrat bei der Interpretation des Begriffs „örtliche Angelegenheiten“ dem Gesetzgeber erhebliche Spielräume einräumt,[304] ist er zugleich zu dem Ergebnis gekommen, dass Zuständigkeiten wie die Bildung (vgl. Art. 16 Abs. 2 Verf.)[305] und die Raumordnung und Planung des Landes (vgl. Art. 24 Abs. 2 Verf.)[306] Staatsaufgaben darstellen, die nicht von den Gebietskörperschaften ausgeübt werden dürfen. Nach der Revision von 2001 kann jedoch durch Gesetz den örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften die Ausübung von Zuständigkeiten, welche eine Staatsaufgabe bilden, auferlegt werden (Art. 102 Abs. 1 Satz 4 Verf.). Außerdem enthält insbesondere die revidierte Verfassung verstärkte Garantien für die Selbstverwaltung der Gebietskörperschaften, deren Realisierung aber immer noch Mängel aufweist. Zu diesen Garantien zählen die Selbständigkeit der Gebietskörperschaften in ihrer Verwaltung und bei ihren Finanzen (Art. 102 Abs. 2 Satz 1), die Beschränkung der staatlichen Aufsicht auf eine Gesetzmäßigkeitskontrolle (Art. 102 Abs. 4 Satz 1) und die staatliche Verpflichtung, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, die die finanzielle Selbständigkeit und die Mittel, die zur Ausübung der Zuständigkeiten der Gebietskörperschaften erforderlich sind, sowie die Transparenz der Verwaltung dieser Einnahmen sicherstellen (Art. 102 Abs. 5 Satz 1).[307] Die Rechtsprechung weigert sich, das Subsidiaritätsprinzip[308] im Sinne einer Zuständigkeitsvermutung zugunsten der bürgernahen Ebene als Verfassungsprinzip anzuerkennen, während in einem Teil des Schrifttums die Auffassung vertreten wird, dass der verfassungsrechtliche Rang dieses Prinzips aus der Verankerung der Institution der örtlichen Selbstverwaltung sowie aus dem Demokratieprinzip, dem das Element der Bürgernähe innewohne, abzuleiten sei.[309]

§ 3 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland › III. Dogmatische Grundstrukturen und Grundbegriffe › 5. Das „Ganze“ der „politischen Einheit“ als Verfassungsbegriff

5. Das „Ganze“ der „politischen Einheit“ als Verfassungsbegriff

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In der griechischen Verfassung werden unterschiedliche Begriffe verwendet, um das „Ganze“ der „politischen Einheit“ zu beschreiben. An verschiedenen Stellen ist vom Volk (sei es im weiteren, sei es im engeren Sinne), der Nation oder der Bevölkerung die Rede.

a) Das Volk

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Das Volk im weiteren Sinne entspricht der Gesamtheit der Personen, die die griechische Staatsangehörigkeit besitzen.[310] Demgegenüber umfasst das Volk im engeren Sinne die Gesamtzahl der wahlberechtigten Bürger. Ob das kollektive Subjekt der Volkssouveränität (vgl. Art. 1 Abs. 2 Verf.) sowie die Quelle und der Zweck aller staatlichen Gewalt (vgl. Art. 1 Abs. 3 Verf.) das Volk im weiteren[311] oder im engeren[312] Sinne ist, war insbesondere im älteren Schrifttum umstritten. Neuerdings setzt sich aber die m.E. richtige Auffassung durch, die den Begriff „Volk“ im Art. 1 Verf. durchgehend im weiteren Sinne auslegt. Demgemäß ist auch im Art. 52 Verf., wonach die freie und unverfälschte Äußerung des Volkswillens als Ausdruck der Volkssouveränität gewährleistet wird, das Volk im weiteren Sinne gemeint. Nicht nur die Äußerung der Wählerschaft, sondern auch die Bildung der öffentlichen Meinung durch die modernen Kommunikationsmittel muss also frei und unverfälscht sein. Auf das Volk im weiteren Sinne bezieht sich ebenfalls Art. 120 Abs. 4 Verf., der das Recht und die Pflicht der Griechen auf Widerstand normiert gegen jeden, der es unternimmt, die Verfassung mit Gewalt zu beseitigen.

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Das Volk im engeren Sinne ist das oberste Staatsorgan, das an der Abgeordnetenwahl (Art. 51 Abs. 3 Satz 1 Verf.) sowie an den in der Verfassung vorgesehenen Volksabstimmungen (Art. 44 Abs. 2) teilnimmt. Das Gesetz kann die Wahlberechtigung nur bei Personen beschränken, die ein bestimmtes Alter nicht erreicht haben, geschäftsunfähig sind oder rechtskräftig wegen bestimmter Verbrechen verurteilt worden sind (Art. 51 Abs. 3 Satz 2 Verf.).[313] Ferner „kann“ ein Gesetz die Ausübung des Wahlrechts für die außerhalb des Staatsgebiets lebenden Wähler regeln (Art. 51 Abs. 4 Satz 2 Verf.).[314]

b) Die Nation

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Im europäischen Vergleich erwähnt die griechische Verfassung den sich auf die ethnische Zugehörigkeit beziehenden Begriff der Nation bzw. des Nationalen besonders oft. An dieser Stelle wird nur auf die potentiell weitgehenden Vorschriften der Art. 1 Abs. 3 und 51 Abs. 2 Verf. eingegangen. Gemäß Art. 1 Abs. 3 Verf. besteht alle Gewalt nicht nur „für das Volk“, sondern auch „für die Nation“. In einem Teil des Schrifttums wird argumentiert, dass der gleichzeitige Gebrauch der Termini Volk und Nation notwendigerweise heiße, dass sowohl das Volk als auch die Nation Legitimierungsquellen der staatlichen Gewalt seien; da diese Auffassung aber zu einer Überprüfung der Volksäußerungen unter Berufung auf den Nationswillen führe, habe die Bezugnahme auf die Nation keinen normativen Inhalt[315] oder ist die Nation dem Volk im weiteren Sinne gleichzusetzen.[316] Da diese Auffassung mit der normativen Bedeutung jeder Verfassungsvorschrift bzw. mit dem Wortlaut der Bezugnahme auf die Nation schwerlich vereinbar ist, kann sie nicht überzeugen. Zutreffend wird dagegen argumentiert,[317] dass die Klausel „für die Nation“ die Verpflichtung des griechischen Staates für den Schutz der kulturellen Identität und der Menschenrechte der Personen griechischer Nationalität, die die griechische Staatsangehörigkeit nicht besitzen, begründet.[318]

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Art. 51 Abs. 2 Verf., der die Parlamentswahl betrifft, betont ebenfalls, dass die Abgeordneten „die Nation“ vertreten. Dieser Bezugnahme auf die Nation wurde in früheren griechischen Verfassungen eine negative Klausel hinzugefügt, wonach die Abgeordneten nicht nur ihren Wahlbezirk vertreten. Zur Bedeutung der Nation im heutigen Kontext besteht im Schrifttum keine Einigkeit. Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass diese Vorschrift die allgemeine verfassungsrechtliche Grundlage des „politischen Rahmenmandats“ des Abgeordneten darstelle.[319] Es wird auch gemeint, dass die Bezugnahme auf die Nation in Art. 51 Abs. 2 Verf. auf die Tatsache hindeute, dass die früheren Verfassungen von der Souveränität der Nation sprachen und das zugleich zeige, dass die Verfassung von 1975 die Begriffe Volk und Nation synthetisch betrachte.[320] Schließlich ist der Terminus „Nation“ in Art. 51 Abs. 2 Verf. nach einer anderen Ansicht mit dem Terminus „Volk“ gleichzusetzen.[321]

c) Die Bevölkerung

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An zwei Stellen in der Verfassung ist ferner von der „Bevölkerung“ die Rede. In Art. 22 Abs. 1 Satz 1 Verf. wird festgelegt, dass „die Arbeit ein Recht [ist] und unter dem Schutz des Staates steht, „der für die Schaffung von Beschäftigungsumständen für alle Bürger und für die […] Förderung der arbeitenden […] Bevölkerung sorgt“. Wie der Gegenüberstellung zwischen den Bürgern und der Bevölkerung zu entnehmen ist, bezieht die „Bevölkerung“ hier auch die Ausländer mit ein. Übrigens wird in Art. 54 Abs. 2 Verf. bestimmt, dass die Zahl der Abgeordneten jeden Wahlkreises „aufgrund der gesetzmäßigen Bevölkerung des Wahlkreises“ festgesetzt wird, „wie sie sich aus der letzten Volkszählung von den in den Bürgerregistern Eingeschriebenen ergibt“. Der Begriff der „gesetzmäßigen Bevölkerung“ ist dem „Volk“ des griechischen Staates gleichbedeutend.[322]

128

Die Bevölkerung Griechenlands ist zudem noch in einer anderen Hinsicht verfassungsrechtlich relevant. Gemäß Art. 102 Abs. 2 Satz 2 Verf. werden die Behörden der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften in allgemeiner und geheimer Wahl gewählt. Da diese Vorschrift den Besitz der griechischen Staatsangehörigkeit nicht voraussetzt, war sie nach der herrschenden Meinung im Schrifttum[323] ausreichende Grundlage für die Verleihung[324] des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen an Angehörige anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU). Außerdem kann diese Bestimmung die Erweiterung des Kommunalwahlrechts über die Grenzen der EU hinaus begründen.[325] Der Kreis der potentiellen Träger dieses Rechts umfasst demzufolge die ständige Bevölkerung des Landes.

§ 3 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland › IV. Identitätsstiftende Strukturen und andere nationale Besonderheiten

 
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