Handbuch Ius Publicum Europaeum

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d) Der Einfluss Michel Debrés

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War General de Gaulle Träger einer Art heroischen und politischen Einflussnahme auf die Institutionen, so war Michel Debré de Gaulles anderer privilegierter Ansprechpartner, Techniker und Ingenieur der Details, die ermöglichen sollten, de Gaulles große Visionen in ein funktionsfähiges Verfassungssystem zu integrieren. Er war Ingenieur der Rationalisierung des Parlamentarismus und gestaltete die Gesamtheit der Mechanismen aus, die eine Bändigung des Parlaments als Institution und die Stärkung der Exekutive in ihrer Autonomie sicherstellen sollten. Seit den Jahren der Résistance hat Debré sich mit der Ausarbeitung dieser Mechanismen befasst, deren grobe Züge er unmittelbar nach Kriegsende in Refaire la France (1945) erstmals veröffentlicht. Regulierung des parlamentarischen Vertrauens gegenüber der Regierung, Umgrenzung des Bereichs der Gesetzgebung, strenge Einrahmung der parlamentarischen Sitzungsperioden, Beschränkung des parlamentarischen Initiativrechts, Beschränkung der Anzahl parlamentarischer Kommissionen, Einrichtung eines Conseil constitutionnel: die meisten Mechanismen zur Zurechtstutzung des Parlaments gehen auf von Michel Debré formulierte oder skizzierte Ideen zurück.

Doch war sein Einfluss auch insofern prägend, als er der Fünften Republik als grundlegender Richtungsweiser diente. Im Zweifelsfall hätte de Gaulles Idee einer radikalen Trennung von Exekutive und Legislative zu einem Präsidialsystem amerikanischer Prägung führen können. Michel Debré zufolge bleibt das einzig legitime Regime in Frankreich das parlamentarische.[86] Nach Auffassung Debrés geht es nicht darum, sich vom Parlamentarismus abzukehren, sondern ihn zu rationalisieren, also seine grundlegenden Prinzipien (Regierung als ein sich vom Staatschef unterscheidendes Kollegialorgan, Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament, Recht zur Auflösung des Repräsentantenhauses) dergestalt in die Verfassung einzubringen, dass Handlungsfähigkeit und Stabilität der Regierung hinreichend gewährleistet werden. Ebendieses neue Verfassungsbauwerk stellte Debré dem Conseil d’État am 27. August 1958 als „Renovierung“ oder „Reform des parlamentarischen Regimes“ vor.[87]

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems

II. Die Entwicklung des Verfassungssystems[88]

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems › 1. Die Wahl des Staatschefs in allgemeiner Direktwahl und deren Folgen für das politische System

1. Die Wahl des Staatschefs in allgemeiner Direktwahl und deren Folgen für das politische System

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Die Wahl des Präsidenten der Republik in allgemeiner Direktwahl wurde erst durch das Art. 6 CF ändernde Verfassungsgesetz vom 6. November 1962 eingeführt. Seit dem Referendum vom 8. April 1962, mit dem die zwischen der französischen und der provisorischen Regierung Algeriens getroffenen Vereinbarungen von Évian massive Zustimmung finden, ist die Algerienkrise – zumindest an der Oberfläche – zu Ende. Während des Konflikts mit Algerien ist die französische Politik gleichsam zu einer „one man show“ geworden:[89] der Staatschef steht im Mittelpunkt des politischen Geschehens. Am 14. April 1962 ersetzt de Gaulle seinen Premierminister Michel Debré durch Georges Pompidou. Das Parlament erlebt einen Affront, da der Premierminister seine Ernennung allein der Gunst des Präsidenten zu verdanken hat. Das Regime präsidentialisiert sich in verstärktem Maße und es stellt sich die Frage nach der Nachfolge. De Gaulles Legitimität ist weniger demokratischer Natur denn historischer, und die Wahl, wie sie 1958 eingeführt wurde (durch ein Wahlkolleg aus Abgeordneten und Repräsentanten der départements und Gemeinden) kann de Gaulles Nachfolger nicht mit der zur Ausübung des herausragenden politischen Amtes erforderlichen Legitimität ausstatten.[90] Am 22. August stellt sich die Frage in zugespitzter Form: Ein von den Nostalgikern des französischen Algeriens verübtes Attentat in Petit-Clamart hätte den Staatschef beinahe das Leben gekostet. Dieses Ereignis beschleunigt den Verlauf einer vorausgeplanten Reform.

Die allgemeine Direktwahl war zur zwingenden Notwendigkeit geworden. Zwar hatte de Gaulle diese Forderung schon seit 1958 gestellt, doch hatte er in Erinnerung an den Staatsstreich, den der vom französischen Volk zum Präsidenten gewählte Louis-Napoleon Bonaparte, später Napoleon III., am 2. Dezember 1851 durchgeführt hatte, vorübergehend von dieser Idee Abstand genommen. Das Parlament sträubt sich gegen die Verfassungsreform. Ein Gewaltstreich wird erforderlich. Schon anlässlich des Referendums vom 8. April 1962 hatte der Staatschef mit Nachdruck die Tatsache betont, dass das Referendumsverfahren eine tief greifende Veränderung des politischen Systems bewerkstelligen sollte.[91] Die Reform des Präsidialwahlsystems sollte im Wege des Referendums erfolgen. Doch beschritt de Gaulle diesen Weg nicht über Art. 89 CF, der das Verfahren der Verfassungsänderung vorsieht, sondern direkt und sicherlich verfassungswidrig über Art. 11 CF und somit ohne parlamentarische Beratungen (unten Rn. 43ff.). Das Parlament reagiert mit einem Misstrauensvotum gegen die neue Regierung, woraufhin de Gaulle die Nationalversammlung auflöst und denselben Premierminister erneut ernennt. Die „Staatsgewalt“ ist insofern eindeutig stärker als die „demokratische Gewalt“, als sie sich auf ein plebiszitäres Element stützen kann, das seine – wenn auch verfassungswidrigen – Handlungen legitimiert.

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Die Wahl des Präsidenten in allgemeiner Direktwahl hat das politische System der Fünften Republik spürbar modifiziert und zugleich einige seit de Gaulles erstem Mandat prägende Züge verfestigt und verstärkt. Ausgeübt und verkörpert wurde die Staatsgewalt während des Algerienkriegs weitestgehend durch den Staatschef, der zu dieser Zeit aus der Symbolkraft der nationalen Einheit und der Mystik des Kriegschefs Nutzen ziehen konnte. Zum entscheidenden Zeitpunkt des Militärputsches in Algerien (April 1961) ergriff der Staatschef die Sonderbefugnisse aus Art. 16 CF und konzentrierte somit effektiv die Gesamtheit der vollziehenden und gesetzgebenden Gewalten in seiner Person. Kurzum, Frankreich erlebte einen Staatschef, der effektiv und unmittelbar „regierte“. Die Volkswahl bestätigte diese Entwicklung.

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Diese Wahl ist in der Tat eine direkte Persönlichkeitswahl. Die Wahlmodalitäten sind klarer und einfacher verständlich als die der Abgeordnetenwahlen, wodurch die Wahl des Staatschefs zu einem Ritual wird, dessen Symbolkraft ungleich bedeutender ist. Das politische Leben dreht sich in Frankreich nunmehr um den Augenblick dieser Wahl, aber selbstverständlich findet diese Wahl mit Blick auf konkrete politische Fragestellungen und die Regierungsprogramme statt. Die Franzosen treten den Gang an die Wahlurnen nicht an, um eine Art neutrales Symbol staatlicher Einheit und Kontinuität zu wählen. Vielmehr projizieren sie all ihre politischen Erwartungen auf den Staatschef, der die Regierungspolitik orientieren und leiten soll. Die Wahl ist der Einsetzung eines der Regierung übergeordneten Chefs gewidmet. Die Organisierung des gesamten politischen Systems richtet sich nach der Präsidentenwahl, sodass die politischen Parteien gewissermaßen Maschinen zur Herstellung von Präsidentschaftskandidaten werden. Ein Präsident kann also unmöglich ein über den Parteien stehender Schiedsrichter sein, zumal er das reinste Erzeugnis parteipolitischer Schemata darstellt, ganz gleich ob er eine Partei hinter sich vereint (François Mitterrand) oder die Partei spaltet und versucht, eine neue Kraft zu errichten (Jacques Chirac). Das Referendum, mit dem das Volk die Direktwahl des Präsidenten befürwortete, hat – anders als de Gaulle am Tag nach dem Votum behauptete – keineswegs „die Verurteilung des desaströsen Parteienregimes besiegelt“[92]; im Gegenteil, es hat die Parteien letztlich rehabilitiert und gestärkt. De Gaulles gesamte Symbolik und Mystik des Staatschefs war von den Fakten widerlegt worden. Nachdem Carl Schmitt die Figur des Präsidenten als „Hüter der Verfassung“ gezeichnet hatte, legte er übrigens etwas Realismus an den Tag: „Vielleicht kann man daran zweifeln, ob es auf Dauer möglich sein wird, die Stellung des Reichspräsidenten dem parteipolitischen Betriebe zu entziehen und in einer vom staatlichen Ganzen her bestimmten, unparteilichen Objektivität und Neutralität zu halten.“[93] Die französische Erfahrung zeigt, dass man an einer solchen Möglichkeit in der Tat Zweifel hegen kann. Mit der Auflösung der paradoxen, dem politischen System der Fünften Republik immanenten Transzendenz des Staatschefs und der Abkehr vom Gründermythos seit de Gaulles erstem Nachfolger hat sich das Regime gewissermaßen normalisiert und liberalisiert.

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems › 2. Die Belastbarkeitsproben der präsidentiellen Wechsel und der „Cohabitation“

2. Die Belastbarkeitsproben der präsidentiellen Wechsel und der „Cohabitation“[94]

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Die Normalisierung des Regimes wurde durch drei die politische Geschichte Frankreichs prägende Phänomene oder Ereignisse verfestigt. Das erste andauernde Phänomen war das gemeinhin so genannte Mehrheitsfaktum (fait majoritaire). Die auf das Referendum von 1962 folgenden Wahlen haben das politische Leben Frankreichs insofern nachhaltig polarisiert, als das traditionelle Vielparteiensystem sich nunmehr auf zwei hinreichend stabile Pole verteilte, um stabile Mehrheitskoalitionen bilden zu können. In den teilweise höchst angespannten Perioden, die einige Mehrheitskoalitionen schon erlebt haben (beispielsweise 1976–1981), reichen die Mechanismen zur Rationalisierung des Parlamentarismus und insbesondere das ausgeklügelte System des Art. 49 Abs. 3 CF (unten Rn. 83) zur Aufrechterhaltung der amtierenden Regierung aus. Ebendiese Mechanismen haben auch die Stabilität einer von der kommunistischen Partei geduldeten Minderheitsregierung gewährleistet (1988–1993). Die Polarisierung der französischen Politik wird jedoch seit Anfang der 1990er Jahre langsam, aber mit zunehmendem Nachdruck, im Lichte mehrerer Faktoren in Frage gestellt: Eine anhaltende Massenarbeitslosigkeit und ein Gefühl sozialer Unsicherheit fördern den Machtzuwachs extremer Parteien, die Spaltung in der europäischen Frage deckt sich nicht mit den Spaltungen, die auch die rechten und linken Flügel strukturieren, sondern spaltet die großen Parteien selbst in verschiedene Lager und die Präsidentenwahl begünstigt individuelle Ambitionen und setzt die Parteien höchstem internen Druck aus, der im Zweifelsfalle auch zu Brüchen führt. Das „Mehrheitsfaktum“ ist also nicht der horizon indépassable der Fünften Republik.

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Der politische Wechsel nach der Wahl des Präsidenten François Mitterrand im Mai 1981 hat, zweitens, dem Regime eine andere Legitimität gegeben als diejenige, die de Gaulle als historische und charismatische Persönlichkeit ihm hatte geben können. Mit der Wahl eines dem linken Flügel angehörigen Präsidenten wurde die Fünfte Republik, die unter dem Einfluss der cäsaristischen Tradition und der als Modell eines autoritären Republikanismus bezeichneten Mystik des Chefs stand, auf die Probe gestellt. Der neue Präsident war seit 1958 einer der heftigsten Gegner der Verfassung.[95] Nunmehr an der Spitze des Staates, passte er sich Institutionen an, die der Exekutive Vorrechte und Gewährleistungen einräumen und gerade deshalb unverzichtbar erscheinen, weil ein bedeutendes Reformprogramm in Angriff genommen werden soll. Die Linke hat sich so nicht nur den Institutionen des autoritären Republikanismus angepasst, sondern erheblich zur Festigung ihrer Legitimität beigetragen.

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Drittens ist die Cohabitation ein Meilenstein in der institutionellen Entwicklung der Fünften Republik. Als Cohabitation wird die besondere politische Konfiguration bezeichnet, in der die von der Nationalversammlung gewählte Mehrheitskoalition nicht mit dem politischen Lager des amtierenden Staatschefs übereinstimmt. Da die Regierung und die Minister im Vertrauen der Nationalversammlung stehen müssen, ist der Präsident dazu gezwungen, eine ihm politisch nicht gleichgesinnte Person an die Spitze der Regierung zu setzen und so die Exekutive auf eine Cohabitation rechter und linker Parteien zu stützen.[96] Diese Konstellation, die es bislang dreimal gab (1986–1988; 1993–1995; 1997–2002), hat nahezu automatisch einen Machtverlust des Präsidenten der Republik zur Folge. Besonders in Hinblick auf die französische Innenpolitik geht die Cohabitation mit einem beinahe vollständigen Verlust der Möglichkeiten präsidentieller Einflussnahme auf die Regierungspolitik einher. Gleichwohl verfügt der Präsident über einige verfassungsrechtliche Instrumente, die der Regierung ebenso gut schaden wie sie behindern können, wie etwa die Weigerung, ein Thema auf die Tagesordnung des Ministerrates zu setzen, die Weigerung, bestimmte Dekrete oder Ordonnances zu unterzeichnen oder die Weigerung, eine außerordentliche Parlamentssitzung einzuberufen. Die Cohabitation, die den Staatschef in seiner politischen Handlungsfähigkeit radikal beschränkt, verwandelt das institutionelle System Frankreichs grosso modo in ein parlamentarisches Regime moderner Prägung, also ein Regime, an dessen Regierungsspitze ein mit effektiven Mitteln ausgestatteter Regierungschef steht, der mit Hilfe dieser Mittel die ihn stützende Parlamentsmehrheit lenkt und leitet. Wenn das Regime ohne Cohabitation präsidentieller Natur bleibt, so wird es in Perioden der Cohabitation zu einem System „primoministerialer“ Art. Die Verfassung produziert insofern zwei mögliche Regime und könnte als „duale Verfassung“ bezeichnet werden. Allerdings dürfte die Cohabitation mit der Kürzung des Präsidentenmandats und der Einführung des Quinquennat wenn nicht unmöglich, so doch zumindest unwahrscheinlich werden (unten Rn. 52).

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems › 3. Europäisierung und Internationalisierung

3. Europäisierung und Internationalisierung

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Wenngleich der Prozess der europäischen Integration seine Anfänge noch vor der Fünften Republik findet, so hat doch ebendiese die europäische Integration in wesentlicher Hinsicht ausgehandelt und zu verantworten. Gerade dasjenige Regime, das zum Zeitpunkt seiner Geburt das Prinzip der nationalen Souveränität ganz besonders gepriesen hatte, sollte nun in die bedeutendsten Beschränkungen dieser Souveränität einwilligen. Frankreichs Öffnung gegenüber Europäischen Institutionen hat erstmals in Abs. 15 der Präambel der Verfassung von 1946, der in der Fünften Republik weiterhin Rechtskraft hat, Niederschlag gefunden: „Unter Vorbehalt der Gegenseitigkeit stimmt Frankreich den zur Organisation und Verteidigung des Friedens notwendigen Souveränitätseinschränkungen zu.“ In seiner ersten Entscheidung zum Vertrag von Maastricht hat der Conseil constitutionnel diese Norm dahingehend interpretiert, dass Frankreich „unter Vorbehalt der Gegenseitigkeit internationale Verpflichtungen eingehen [könne], um sich an der Schaffung und Entwicklung einer ständigen internationalen Organisation zu beteiligen, die als rechtsfähiges Völkerrechtssubjekt über Entscheidungsbefugnisse aufgrund einer im Einvernehmen der Mitgliedstaaten erfolgten Kompetenzzuweisung verfügt.“[97] Seit der Verfassungsänderung vom 25. Juni 1992, die für den Abschluss des Vertrags von Maastricht notwendig geworden war, normiert Art. 88-1 CF die Beteiligung der Republik „an den Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union, die sich aus Staaten zusammensetzen, die in freier Entscheidung kraft der von ihnen geschlossenen Verträge einige ihrer Kompetenzen gemeinsam ausüben“[98]. Die Europäisierung des französischen Rechts hat die verfassungsrechtlichen Beziehungen zwischen Exekutive und Parlament deutlich modifiziert. Erstens sind die Befugnisse und der Ermessensspielraum des Gesetzgebers durch die Kompetenzzuweisung an die Gemeinschaften beschränkt worden. Zweitens gilt für den Bereich der nationalen Umsetzung, dass zwar die Umsetzung von Richtlinien im Grundsatz keine Auswirkungen auf die verfassungsrechtliche Verteilung von Rechtsetzungsbefugnissen hat. Für die Ausführung von EG-Verordnungen gilt aber, dass diese auch innerhalb der Bereiche, die verfassungsrechtlich der Gesetzgebung vorbehalten sind, eine Rechtsgrundlage für Verordnungen der Regierung darstellen, ohne dass es eines formellen, also parlamentarischen Gesetzes bedürfte.[99] Im Gegenzug muss die Regierung alle Vorlagen von Gemeinschaftsakten nach deren Übermittlung an den Rat den Parlamentskammern zuleiten, wenn diese Vorlagen Bestimmungen enthalten, die nach französischem Verfassungsrecht materiell dem Bereich der Gesetzgebung unterliegen (Art. 88-4 CF).

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Wenn also die Beteiligung an der Union und den Gemeinschaften nunmehr in der besonderen Vorschrift gemäß Art. 88-1 CF geregelt ist, so sind deren Einbindungsmodalitäten und die Bestimmung ihres Ranges innerhalb der nationalen Rechtsordnung – aus Sicht der französischen Gerichtsbarkeit – nicht in der „Natur selbst“ des europäischen Gemeinschaftsrechts begründet, sondern in Art. 55 CF, der als allgemeine Verfassungsnorm das Verhältnis zwischen nationalem Recht und Völkervertragsrecht regelt.[100] In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zwischen internationalem[101] und europäischem Recht. Gemäß Art. 55 CF gehen ordnungsgemäß zustande gekommene internationale Verträge oder Abkommen den Gesetzen vor. Diese Vorschrift hat die Rolle der Rechtsprechungsorgane im französischen Verfassungs- und Rechtssystem grundlegend verändert. Nachdem der Conseil constitutionnel sich geweigert hatte, im Rahmen der Verfassungsmäßigkeitskontrolle von Gesetzen auch deren Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Verträgen zu prüfen,[102] haben die Fachgerichte diese Aufgabe übernommen und sind dadurch nicht mehr nur Richter der Gesetzesanwendung, sondern darüber hinaus zu Richtern des Gesetzes selbst geworden.[103] Art. 55 CF ist zu einem der wichtigsten Faktoren geworden, die zum Machtzuwachs der Fachgerichtsbarkeit im nationalen Rechtssystem beigetragen haben.

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems › 4. Der zunehmende Einfluss der Gerichtsbarkeit

4. Der zunehmende Einfluss der Gerichtsbarkeit

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Wie in der Gesamtheit westlicher Demokratien haben die Richter auch in Frankreich gegen Ende des 20. Jahrhunderts einen erheblichen Machtzuwachs erfahren. Dies hat eine tief greifende Veränderung des Verfassungsrechts zu Folge. Allgemeiner formuliert ist das gesamte politische System „vom Recht ergriffen worden“[104] oder – präziser – von den Richtern. Wie Pedro Cruz Villalón schreibt, „ist die Verfassung zu einem historischen Zeitpunkt als ein Gerichtsbarkeit erfordernder Gegenstand erschienen; die Verfassung sozusagen als ein Wesen, das einer Justiz, eines Richters bedarf.“[105] Die Verfassungsgerichtsbarkeit trägt in Frankreich, wie in den meisten europäischen Ländern, diesem Bedürfnis in gewissem Maße Rechnung. Jedoch üben die sonstigen Gerichte auf Politik und Verfassung ebenfalls einen zunehmenden Einfluss aus. Zu erinnern ist an zahlreiche nationale oder grenzüberschreitende Rechtsphänomene und -modifikationen, die sich auf das Leben der Fünften Republik ausgewirkt haben: die Fortschritte im Bereich der europäischen Integration und das Gewicht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die Anerkennung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und deren zunehmender Einfluss auf das französische System, die oben erwähnte Erweiterung der Normenkontrolle durch die Fachgerichte, die Systemreform hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Ministern (1993), all das getragen und unterstützt von einer gesellschaftlichen Entwicklung, die zu einer massiven Verrechtlichung sozialer Beziehungen führt. Die Entwicklung, die Luhmann 1987 pointierte, der zufolge „der Richter zum Sozio-Therapeuten umstilisiert werde“[106], geht weiter und ergreift nun alle Gebiete des Rechts.

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1958 wurde der Conseil constitutionnel als Verfassungsorgan für die „Regulierung der öffentlichen Gewalt“[107] konzipiert, dessen Rechtsprechungscharakter zumindest zweifelhaft war. Eine der großen Streitfragen innerhalb der Verfassungsrechtswissenschaft der 1970er Jahre war denn auch die Frage nach der rechtlichen Natur des Conseil constitutionnel (unten Rn. 73). Während das deutsche Bundesverfassungsgericht im berühmten Status-Bericht von 1952 neben seiner vom Grundgesetz eindeutig normierten Eigenschaft als Rechtsprechungsorgan auch seine Eigenschaft als Verfassungsorgan mit dem Ziel durchgesetzt hat, seine Legitimität zu verfestigen und eine extensive Konzeption seiner Aufgabenfelder durchzusetzen, hat der Conseil constitutionnel als „öffentliche Gewalt von Verfassungs wegen“ in entgegengesetzter Richtung seine Eigenschaft als Rechtsprechungsorgan behauptet und verfestigt. Auch hier ging es darum, dieser Institution, ohnegleichen in der Geschichte, über die mehrdeutigen Gesetzestexte hinaus ein legitimatorisches Fundament zu geben. Dies hat der Conseil constitutionnel zunächst schrittweise und vorsichtig bewerkstelligt: einerseits, indem er recht bald die üblicherweise den Entscheidungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorbehaltene Form für seine Entscheidungen übernommen hat,[108] andererseits, sogar deutlicher, indem er Art. 62 CF, der die Bindungswirkung von Entscheidungen des Conseil constitutionnel normiert, dahingehend interpretiert hat, dass diesen Entscheidungen formelle Rechtskraft (autorité de chose jugée) zukomme.[109] Doch sollten zwei bedeutende Ereignisse im Laufe der 1970er Jahre eine tief greifende Veränderung der Funktionen des Conseil constitutionnel zur Folge haben.

 

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Zunächst trägt die berühmte Entscheidung vom 16. Juli 1971 zu einer beachtlichen Ausweitung seines Auftrags bei. Mit der Erkenntnis, dass die Präambel der Verfassung von 1958 über einen rechtlichen Gehalt verfügt und diese Präambel Bezug nimmt auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und die Präambel der Verfassung von 1946, spricht der Conseil constitutionnel diesen beiden Texten Verfassungsrang zu und ergänzt das geltende Verfassungsrecht durch eine Reihe von Freiheits- und Grundrechten, die dem förmlichen Verfassungstext von 1958 fehlen. Diese Rechte werden insofern zu maßgeblichen Normen der Verfassungsmäßigkeitskontrolle, als der Conseil constitutionnel seinem Auftrag zur „Regulierung der öffentlichen Gewalt“ den Auftrag zur Verteidigung der Bürgerrechte und Bürgerfreiheiten hinzufügt.[110] Jedoch hätte diese Ausdehnung allein nicht genügt, um dem Conseil constitutionnel eine derart starke Stellung im politischen System Frankreichs zu verschaffen. In der Tat konnte die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen nur auf Antrag eines begrenzten Personenkreises in Gang gesetzt werden, namentlich auf Antrag des Staatschefs, des Regierungschefs sowie der Präsidenten beider Parlamentskammern. Mit der Verfassungsänderung vom 29. Oktober 1974 wurde auch einer Mindestzahl von jeweils 60 Abgeordneten oder Senatoren das Recht eingeräumt, den Conseil constitutionnel zur Verfassungsmäßigkeitskontrolle einfacher Gesetze anzurufen. Seitdem ist also der parlamentarischen Opposition die Möglichkeit gegeben, von der Mehrheit beschlossene und verabschiedete Gesetze in Frage zu stellen. Die Verfassungsmäßigkeitskontrolle von Gesetzen wurde alsbald zum gewöhnlichen Verfahren und stellte nunmehr eine wesentliche Garantie der parlamentarischen Minderheitenrechte dar. Präsident Giscard d’Estaing, der die Initiative zu dieser Reform ergriffen hatte, erklärte in einer recht optimistischen Rede vor dem Conseil constitutionnel am 8. November 1977 den „Rechtsstaat“ in Frankreich somit endgültig für errichtet.[111]

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems › 5. Die Verfassungsänderung