Der schöne Sommer

Text
Aus der Reihe: EDITION BLAU
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Da sprang Ginia auf, schob Guidos Hände weg, legte die Zigarette ab und durchquerte wortlos das Atelier. Sie hob den Vorhang und blieb im Dunkeln stehen. Hinter ihr redeten sie, aber es klang wie ein fernes Summen. »Guido«, flüsterte sie, ohne sich umzudrehen, und warf sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett.

X.

Sie verließen alle vier gemeinsam das Haus, und Guido und Rodrigues begleiteten die Mädchen zur Straßenbahn. Mit der Mütze über den Augen war Guido ihr fremd, aber er drückte ihr die Hand und sagte: »Ginetta, Liebling.« Im Gehen schien es, als gebe der Bürgersteig unter ihr nach. Amelia hakte sich bei Ginia ein.

Während sie auf die Straßenbahn warteten, unterhielten sie sich über Fahrräder. Aber Guido stellte sich neben sie und sagte leise: »Wehe, wenn du es dir anders überlegst. Ich würde dich nicht mehr porträtieren.« Ginia lächelte ihn an und hielt seine Hand.

In der Straßenbahn starrte Ginia auf den Rücken des Fahrers und schwieg. »Geh nach Hause und leg dich ins Bett«, sagte Amelia. »Es ist vor allem der Wein, weiter nichts.« – »Ich bin nicht betrunken«, sagte Ginia, »glaub das bloß nicht.« – »Soll ich bei dir bleiben?«, fragte Amelia. – »Lass mich in Ruhe.« Da erzählte ihr Amelia vom letzten Mal, um ihr zu erklären, was los gewesen war, und Ginia lauschte auf das Rattern der Straßenbahn.

Als sie zu Hause allein war, begann sie sich besser zu fühlen, weil sie niemandes Blicke mehr auf sich spürte. Sie setzte sich aufs Bett und schaute eine Stunde lang auf den Boden. Dann zog sie sich rasch aus, schlüpfte unter die Decke und löschte das Licht.

Am nächsten Tag schien die Sonne, und während Ginia sich ankleidete, kam es ihr vor, als sei sie krank gewesen. Sie dachte, dass Guido schon seit drei Stunden auf den Beinen war, lächelte sich im Spiegel zu und gab sich einen Kuss. Dann verließ sie das Haus, bevor Severino zurückkehrte.

Sie staunte, dass sie ging wie immer und Hunger hatte, und dachte nur eines: dass sie Guido von nun an ohne die beiden anderen treffen wollte. Doch Guido hatte ihr nur gesagt, sie solle ins Atelier kommen; von Verabredungen außerhalb war nicht die Rede gewesen. »Ich muss ihn ganz arg lieb haben«, dachte Ginia, »sonst geht es mir schlecht.« Plötzlich war der Sommer zurückgekehrt und damit die Lust, auszugehen, zu lachen und zu feiern. Sie konnte kaum glauben, was geschehen war. Bei dem Gedanken, dass sie im Dunkeln auch Amelia hätte sein können und es für Guido gleich gewesen wäre, musste sie lachen. »Ich gefalle ihm eben so, wie ich bin, wie ich rede, wie ich schaue; ich gefalle ihm als Freundin, er liebt mich. Er hat nicht geglaubt, dass ich siebzehn bin, er hat mich auf die Augen geküsst; ich bin wirklich eine Frau.«

Jetzt war es schön, den ganzen Tag zu arbeiten und dabei an das Atelier zu denken und auf den Abend zu warten. »Ich bin mehr als ein Modell«, sagte sich Ginia, »wir sind Freunde.« Amelia tat ihr leid, weil sie gar nicht begriff, was an Guidos Bildern so schön war. Doch um zwei, als Amelia sie abholte, wollte Ginia sie etwas fragen und wusste nicht wie. Guido direkt zu fragen, traute sie sich nicht.

»Hast du schon jemanden gesehen?«, fragte sie sie.

Amelia zuckte die Achseln.

»Gestern, als du das Licht ausgemacht hast, ist mir schwindlig geworden, ich glaube, ich habe geschrien. Hast du mich schreien gehört?«

Amelia sah sie sehr ernst an. »Ich habe das Licht nicht ausgemacht«, sagte sie langsam, »ich weiß nur, dass du verschwunden bist. Es klang, als würde Guido dich abschlachten. Hat es wenigstens Spaß gemacht?«

Ginia schnitt eine Grimasse und blickte geradeaus vor sich hin. Sie gingen noch zu Fuß bis zur nächsten Haltestelle.

»Liebst du Rodrigues?«, fragte Ginia.

Amelia seufzte und sagte dann: »Keine Angst. Blonde Männer gefallen mir nicht. Höchstens blonde Frauen.«

Da lächelte Ginia und sagte nichts mehr. Sie war froh, so neben Amelia herzugehen und zu wissen, dass sie sich verstanden. Friedlich trennten sie sich unter den Arkaden, und Ginia sah ihr an der Ecke nach und fragte sich, ob sie wohl zu jener Malerin Modell stehen ging.

Sie dagegen kehrte um sieben Uhr zum Atelier zurück und stieg die fünf Stockwerke hinauf, langsam, um nicht rot zu werden. Sie machte langsam, nahm aber immer zwei Stufen auf einmal. Auch falls Guido nicht da war, dachte sie dabei, war es doch nicht seine Schuld. Aber die Tür stand offen. Guido hörte ihre Schritte und kam ihr auf dem Flur entgegen. Jetzt war Ginia wirklich glücklich.

Sie hätte sich gern mit ihm unterhalten und ihm viele Dinge gesagt, aber Guido schloss die Tür und umarmte sie als Erstes. Durch die Scheiben fiel noch ein wenig Licht, und Ginia verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. Durch das Hemd spürte sie die Wärme seiner Haut. Sie setzten sich aufs Sofa, und Ginia weinte, ohne zu sprechen.

Weinend dachte sie: »Wenn Guido doch auch weinte«, und fühlte einen glühenden Stich im Herzen, der ihren ganzen Körper schier zum Schmelzen brachte – ihr war, als würde sie ohnmächtig. Aber auf einmal fehlte ihr der Halt; sie merkte, dass Guido sich erhob, und öffnete die Augen. Guido stand vor ihr und betrachtete sie neugierig. Da hörte sie zu weinen auf, denn ihr schien, als weinte sie in der Öffentlichkeit. Unter diesem Blick spürte Ginia, die kaum etwas sah, wie ihr erneut die Tränen in die Augen traten. »He«, sagte Guido wie zum Scherz, »man kommt für so kurze Zeit auf die Welt, da braucht man doch nicht zu weinen.«

»Ich habe geweint, weil ich froh bin«, sagte Ginia leise.

»Dann ist es gut«, erwiderte Guido, »aber sag es das nächste Mal bitte gleich.«

So verging diese halbe Stunde, in der Ginia ihn so viel fragen wollte, nach Amelia, nach ihm, nach seinen Bildern, was er am Abend machte und ob er sie lieb hatte, ohne dass sie den Mut dazu fand. Sie erreichte nur, dass sie hinter den Vorhang gingen, weil ihr bei Licht schien, alle sähen ihnen zu. Hier, während sie sich küssten, sagte Ginia ihm leise, gestern habe er ihr so wehgetan, dass sie hätte schreien mögen, und da wurde Guido zärtlicher, machte ihr Mut und streichelte sie lange und flüsterte ihr ins Ohr: »Du wirst sehen, das geht vorbei. Tu ich dir weh?« Dann, während sie in dem bisschen Wärme lagen und sich aneinanderschmiegten, erklärte er ihr viele Dinge und sagte, auf ein Mädchen wie sie nehme er Rücksicht, da könne sie sicher sein. Daraufhin ergriff Ginia im Dunkeln seine Hand und küsste sie.

Jetzt, nachdem sie wusste, dass Guido so lieb war, wurde sie mutiger und sagte ihm, den Kopf an seine Schulter gelehnt, dass sie ihn immer allein sehen wolle, denn mit ihm gehe es ihr gut, mit den anderen aber nicht. »Abends kommt Rodrigues zum Schlafen«, sagte Guido, »du wirst doch nicht wollen, dass ich ihn an die Luft setze. Hier wird gearbeitet, weißt du?« Doch Ginia antwortete ihm, ihr genüge eine Stunde, ein Augenblick, denn auch sie arbeite, und sie werde jeden Abend um diese Zeit vorbeischauen, wolle ihn aber allein antreffen. »Kommt Rodrigues auch noch, wenn du den Militärdienst hinter dir hast?«, fragte sie. »Ich würde dich so gern malen sehen, aber wenn niemand dabei ist.« Dann sagte sie ihm, nur unter dieser Bedingung würde sie ihm Modell stehen. Sie lagen im Dunkeln, und Ginia merkte nicht, dass es Nacht wurde. An diesem Abend musste Severino mit leerem Magen zur Arbeit gehen, aber es war nicht das erste Mal, und er hatte sich nie darüber beklagt. Ginia verließ das Atelier erst, als Rodrigues kam.

In diesen letzten Tagen vor seiner Entlassung verbrachte Guido die Abende damit, Leinwände zu grundieren und trocknen zu lassen, die Staffelei zu richten und alles wieder zu ordnen. Er ging nie aus. Es schien beschlossen, dass Rodrigues noch weiter bei ihm wohnen sollte. Aber Rodrigues verstand sich nur darauf, alles durcheinanderzuwerfen und ein Gespräch anzufangen, wenn Guido in Eile war. Ginia hätte Guido so gern beim Putzen und Aufräumen des Ateliers geholfen, doch als sie Rodrigues sah, begriff sie, dass sie die beiden nur gestört hätte, und traf sich lieber wieder mit Amelia. Sie gingen zusammen ins Kino, denn alle beide verbargen etwas in ihren Gedanken, und es war nicht leicht, den Abend im Gespräch zu verbringen. Man merkte, dass Amelia um etwas herumredete, denn sie riss spöttische Witze über blonde Frauen und blonde Männer. Doch jetzt mochte Ginia sie, und sie war nicht fähig, ein Gefühl zu verbergen. Auf dem Heimweg sprach sie mit ihr.

Sie fragte sie, ob sie sich mit jener Malerin geeinigt habe. Amelia tat überrascht und sagte, sie solle nicht mehr davon reden. »Aber nein«, sagte Ginia, »was willst du? Ich habe noch nie Modell gestanden, aber es tut mir leid, dass du diese Arbeit verloren hast.« – »Jetzt hör schon auf«, sagte Amelia, »du hast dich in diesen Tagen verliebt und pfeifst auf alle anderen. Recht hast du. Aber an deiner Stelle würde ich aufpassen.« – »Warum?«, fragte Ginia.

»Was meint Severino dazu? Gefällt ihm der Schwager?«, sagte Amelia lachend.

»Warum soll ich aufpassen?«, fragte Ginia.

»Du spannst mir meinen schönen Maler aus und fragst noch?«

Da spürte Ginia, wie ihr Herz einen Satz machte, und im Weitergehen fühlte sie Amelias Blick auf sich ruhen.

»Hast du für Guido Modell gestanden?«, fragte sie.

Amelia hakte sich bei ihr ein und sagte: »Ich habe nur Spaß gemacht.« Dann, nach einer Pause: »Ist es nicht schöner, wenn wir zwei zusammen bummeln gehen – wir sind Frauen und wissen es –, anstatt uns die Laune verderben zu lassen von ungezogenen Kerlen, die keine Ahnung haben, was ein Mädchen ist, und der erstbesten nachsteigen, die ihnen begegnet?«

»Aber du gehst doch mit Rodrigues«, sagte Ginia.

Amelia zuckte die Achsel und machte »Pf!«. – »Sag mal, passt Guido wenigstens auf?«

 

»Weiß ich nicht«, antwortete Ginia.

Amelia fasste sie am Kinn und zwang sie stehenzubleiben. »Schau mich an«, sagte sie. Sie standen im Schatten eines Haustors. Ginia leistete keinen Widerstand, da es um Guido ging, und Amelia gab ihr einen raschen Kuss auf den Mund.

XI.

Sie machten sich wieder auf den Weg, und Ginia lächelte erschrocken unter Amelias Blicken.

»Wisch dir den Lippenstift ab«, sagte Amelia mit ruhiger Stimme. Ohne stehenzubleiben, betrachtete sich Ginia bis zur nächsten Straßenlaterne im Spiegel und wagte nicht aufzuhören, sondern strich sich die Haare zurecht, während sie sich forschend in die Augen sah.

»Habe ich heute Abend getrunken, soweit du weißt?«, fragte Amelia, als sie an der Laterne vorbei waren.

Ginia steckte den Spiegel ein und ging voraus, ohne zu antworten. Ihre Schritte hallten auf dem Pflaster. Als sie an die Ecke kamen, wollte Amelia sich verabschieden. Ginia sagte: »Hier entlang.« Sie bogen gemeinsam in die Straße ein, und als sie vor dem Haustor standen, sagte Amelia: »Also ciao.« – »Ciao«, antwortete Ginia und ging allein weiter.

Am nächsten Tag knipste Guido das Licht an, als sie eintrat, denn draußen war Nebel, und durch die großen Scheiben wirkte es, als sei man mittendrin. »Warum zündest du nicht den Ofen an?«, fragte sie ihn. »Er ist an«, sagte Guido, der diesmal seine Jacke trug. »Hab keine Angst, im Winter heizen wir den Kamin.« Ginia wanderte durch den Raum, hob ein Stück Stoff hoch, das an die Wand genagelt war, und sah dahinter einen Kamin, voll mit Schrott und Stößen von Büchern. »Ist der schön! Und die Modelle stellen sich hier hin?« – »Wenn es jemand aushält, nackt zu posieren«, sagte Guido. Dann zogen sie unter dem Bett hinter dem Vorhang einen Koffer hervor, der Guidos Kleidung enthielt. »Hast du schon Modelle gehabt?«, fragte Ginia. »Zeig mir die Mappen mit den Zeichnungen.«

Guido ergriff ihren Arm. »Wie viel du über Maler weißt. Sag mal, kennst du denn welche?« Scherzhaft legte Ginia einen Finger auf den Mund und wand sich, um sich loszumachen. »Zeig mir lieber die Mappen. Zu Amelia hast du gesagt, dass viele Mädchen hierherkamen.« – »Natürlich«, erklärte Guido, »das ist doch mein Beruf.« Dann, um sie festzuhalten, küsste er sie. »Wen kennst du?«

»Gar niemanden.« Sie umarmte ihn und sagte: »Ich möchte nur dich kennen und dass hier nie jemand herkäme.« – »Wir würden uns langweilen«, sagte Guido.

An jenem Abend wollte Ginia fegen, aber es gab keinen Besen, und sie begnügte sich damit, das Bett hinter dem Vorhang zu machen, das schmutzig war wie eine Höhle. »Schläfst du hier?«, fragte sie ihn. Guido antwortete, er sehe gern nachts die Fenster und werde auf dem Sofa schlafen. »Dann mache ich das Bett nicht«, sagte Ginia.

Am nächsten Tag kam sie mit einem Päckchen in der Handtasche. Es war eine Krawatte für Guido. Er nahm sie und probierte sie zum Spaß zu dem graugrünen Hemd an. »Wenn du wieder in Zivil bist, wird sie gut passen«, sagte Ginia. Dann gingen sie hinter den Vorhang und umarmten sich auf dem ungemachten Bett und zogen die Decke über sich, weil es kalt war. Guido meinte, eigentlich müsse er ihr Geschenke machen, und Ginia wünschte sich mit einer Grimasse einen Besen für das Atelier.

Die Tage, an denen sie sich so flüchtig sahen, waren die schönsten, aber es blieb nie Zeit, um sich ein wenig in Ruhe zu unterhalten, da Rodrigues jeden Moment kommen konnte und Ginia nicht ohne Schuhe überrascht werden wollte. Doch an einem der letzten Abende sagte Guido, er wolle sich revanchieren, und sie verabredeten, nach dem Essen auszugehen. »Wir werden ins Kino gehen«, sagte Guido. »Warum? Lass uns lieber bummeln, es ist so schön, zusammen zu sein.« – »Aber es ist kalt«, sagte Guido. »Wir können ins Café gehen oder in ein Tanzlokal.« – »Ich tanze nicht gern«, sagte Guido.

Sie trafen sich, und es befremdete Ginia, neben einem Sergeanten herzugehen, aber sie dachte daran, dass es doch Guido war, er war es. Guido nahm sie am Arm, unter der Achsel, als wäre sie ein kleines Mädchen. Aber er musste ständig Offiziere grüßen, und daraufhin wechselte Ginia auf die andere Seite und hängte sich bei ihm ein.

So gingen sie, und die Straße war nicht mehr dieselbe.

»Wenn wir Amelia begegneten«, dachte Ginia und erzählte Guido von Signora Bice, wobei sie versuchte, nicht zu lachen. Guido sagte gut gelaunt: »In drei Tagen brauche ich sie nicht mehr zu grüßen, diese Affen. Schau nur, was für dämliche Gesichter sie haben.« – »Auch Amelia«, sagte Ginia, »bleibt gern stehen und lacht den Passanten ins Gesicht.«

»Amelia übertreibt manchmal ein bisschen. Kennst du sie schon lange?«

»Sie wohnt bei mir in der Nähe«, antwortete Ginia. »Und du?«

Da erzählte Guido ihr von jenem Jahr, in dem er das Atelier gemietet hatte und seine Studienfreunde ihn besuchten, und dass einer von ihnen später Mönch geworden war. Amelia arbeitete damals noch nicht als Modell, aber sie amüsierte sich gern, und sie kamen tagsüber und abends und lachten und tranken, während er versuchte zu arbeiten. Wie es mit Amelia genau gewesen war beim ersten Mal, wusste er nicht mehr. Dann musste einer zum Militär, ein anderer hatte Examen gemacht, einer hatte geheiratet: Vorbei war es mit dem lustigen Leben.

»Tut dir das leid?«, fragte Ginia und sah ihn durchdringend an.

»Dem Mönch tut es noch mehr leid, ab und zu schreibt er mir und fragt, ob ich arbeite und ob ich noch jemanden treffe.«

»Dürfen sie denn schreiben?«

»Sie sind ja nicht im Gefängnis«, sagte Guido. »Der war der Einzige, dem meine Bilder gefielen. Wenn du ihn sehen könntest: ein großer Mann, so stark wie ich, mit den Augen eines Mädchens. Er verstand alles, es ist schade um ihn.«

»Du wirst aber nicht Mönch, Guido?«

»Da besteht keine Gefahr.«

»Rodrigues gefallen deine Bilder nicht. Der hat wirklich ein Pfaffengesicht.«

Doch Guido nahm Rodrigues in Schutz und erklärte, er sei ein ganz außerordentlicher Maler, aber einer, der vor dem Malen lange nachdenke und nichts dem Zufall überlasse, nur die Farbe fehle ihm. »In seinem Land gibt es zu viele Farben«, sagte er. »Als Kind hat er mehr als genug davon gehabt, und jetzt möchte er ohne malen. Aber er ist wirklich begabt.«

»Lässt du mich mal zusehen, wenn du mit Farben malst?«, fragte Ginia und drückte seinen Arm.

»Falls ich es noch kann, wenn ich diese Uniform ablege. Vorher, ja, da habe ich viel gearbeitet. Ich malte ein Bild pro Woche. Das Leben damals regte mich an. Die schöne Zeit ist vorbei.«

»Bedeute ich dir gar nichts?«, fragte Ginia.

Da drückte Guido ihren Arm. »Du bist doch nicht der Sommer. Du weißt nicht, was es heißt, ein Bild zu malen. Ich müsste mich in dich verlieben, um gescheit zu werden. Und dann würde ich Zeit verlieren. Du musst wissen, dass ein Mann nur arbeiten kann, wenn er Freunde hat, die ihn verstehen.«

»Hast du dich noch nie verliebt?«, fragte Ginia, ohne ihn anzusehen.

»In eine von euch? Dazu habe ich keine Zeit.«

Als sie vom Gehen müde waren, setzten sie sich ins Café wie ein Liebespaar, und Guido zündete sich eine Zigarette an, hörte zu, was Ginia erzählte, und beobachtete dabei, wer hereinkam und wer hinausging. Dann zeichnete er, um sie zufriedenzustellen, ihr Profil mit Bleistift auf den Marmor. Als sie einen Augenblick allein waren, sagte Ginia zu ihm: »Weißt du, ich bin froh, dass du noch nie verliebt warst.«

»Wenn’s dich freut«, erwiderte Guido.

Der Abend endete melancholisch, weil herauskam, dass Guido gleich nach seiner Entlassung auf einen Sprung in sein Dorf fahren musste, um seine Mutter zu besuchen. Ginia tröstete sich, so gut sie konnte, indem sie sich nach seiner Familie und seinem Zuhause erkundigte, nach dem Beruf seines Vaters und der Zeit, als er noch klein war. Sie erfuhr, dass er eine Schwester hatte, die Luisa hieß, aber es missfiel ihr, dass Guido letztlich ein Bauer war. »Als Junge ging ich barfuß«, gestand er ihr lachend, und da begriff Ginia, woher er seine starken Hände und diese schleppende Stimme hatte, und sie glaubte nicht, dass ein Bauer Maler werden könne. Das Seltsame war, dass Guido sich dessen rühmte, und als Ginia zu ihm sagte: »Aber du lebst doch hier«, antwortete er ihr, die wahre Malerei entstehe auf dem Land. »Aber du lebst hier«, wiederholte sie, doch er sagte: »Gut geht es mir nur auf dem höchsten Punkt eines Hügels.«

Von da an dachte Ginia, wer weiß warum, viel an jene Luisa und beneidete sie darum, dass sie Guidos Schwester war, und versuchte, sich die Gespräche vorzustellen, die Guido als Junge mit ihr geführt hatte. Jetzt begriff sie, warum Amelia ihn nie gewollt hatte. »Wenn er kein Maler wäre, wäre er ein beliebiger Bauernlümmel«, und sie stellte sich ihn als Wehrpflichtigen vor, als einen der jungen Burschen, die im März, das Tuch um den Hals, singend vorbeiziehen und Soldaten werden. »Aber er lebt hier«, dachte sie, »und hat studiert, und wir haben die gleichen Haare.« Wer weiß, ob auch Luisa blond war. In jener Nacht schloss Ginia, sobald sie nach Hause kam, die Türe ab, dann zog sie sich vor dem Spiegel aus, betrachtete sich besorgt und verglich ihre Haut mit der Farbe von Guidos Nacken. Jetzt tat ihr nichts mehr weh, und es schien ihr sonderbar, dass keine Zeichen zurückgeblieben waren. Sie stellte sich vor, sie posiere für Guido, und setzte sich auf einen Stuhl, so wie Amelia an jenem Tag in Barbettas Atelier. Wer weiß, wie viele Mädchen Guido schon gesehen hatte. Die Einzige, die er noch nicht genau gesehen hatte, war sie, und Ginia bekam Herzklopfen, wenn sie nur daran dachte. Es wäre schön gewesen, plötzlich wie Amelia zu werden, braun, schlank und gleichgültig. So konnte sie sich vor Guido nicht nackt sehen lassen. Zuerst mussten sie heiraten.

Aber Ginia wusste, dass er sie niemals heiraten würde, und wenn sie ihn noch so lieb hätte. Das hatte sie schon von dem Abend an gewusst, an dem sie sich ihm hingegeben hatte. Es war nur zu freundlich von ihm, dass er immer noch zu arbeiten aufhörte, um mit ihr hinter den Vorhang zu kommen. Sie konnte ihn nur weiter treffen, wenn sie sein Modell wurde. Sonst nahm sich Guido eines schönen Tages eine andere.

Ginia fror dort vor dem Spiegel und legte sich den Mantel um die nackten Hüften, auf denen sie eine Gänsehaut bekam. »So wäre es, wenn ich Modell sitzen würde«, sagte sie sich und beneidete Amelia, die sich nicht mehr schämte.