Die Collide-Lovestory

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Kapitel 21

"Oh mein Gott!" Aby kommt ins Zimmer gestürmt und ich falle fast vom Schreibtischstuhl vor Schreck. "Rave, ich hab ihn gefunden!"

Ich klappe meinen Laptop zu und sehe zu, wie sie hektisch von links nach rechts läuft. "Wen hast du gefunden?"

"Ihn. Den Richtigen!" Sie setzt sich auf das Bett und hält sich die Hand über das Herz. "Ich schwöre dir, ich habe mich noch nie in meinem Leben von jemandem so derartig angezogen gefühlt. Er ist perfekt."

Ich beiße mir auf die Zunge, um jetzt bloß nichts Falsches zu sagen. Beim letzten Mal ist sie schon fast durchgedreht. "Das freut mich." Ich lächle. Und es ist nicht gefaked, denn ich freue mich wirklich für sie. Nach diesem Drama mit Cam, gönne ich ihr, dass sie wieder jemanden gefunden hat. Auch, wenn er ihr wahrscheinlich wieder das Herz brechen wird.

Aby grinst. "Danke. Er arbeitet in einem Pub ein bisschen weiter weg. Barkeeper, ist das nicht cool?"

Ich ziehe die Brauen hoch. "Oh, wirklich? Wie alt ist er denn?"

"Zwanzig. Er studiert Jura. Er will tatsächlich Anwalt werden! Ich schmelze allein schon von der Vorstellung."

"Dann muss er ganz schön was auf dem Kasten haben."

Aby nickt. "Hat er. Mit ihm zu reden macht einfach unglaublich Spaß."

"Hoffentlich erwisch ich euch beide nicht auch noch nackig auf dem Boden", lache ich und meine es gleichzeitig todernst. Ich möchte das wirklich nicht noch einmal sehen.

Sie verdreht die Augen und kichert. "Das kann ich dir nicht versprechen." Aby streift sich die Schuhe ab und legt sich in ihr Bett. "Wo warst du eigentlich letzte Nacht? Hach, was frag ich eigentlich noch? Natürlich warst du bei Aiden."

Ich merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt und nicke schmunzelnd.

"Was bei euch beiden abgeht, ist wirklich krass."

Ich zucke mit den Schultern. "So krass ist es auch wieder nicht. Wir sind halt Freunde."

Aby schnaubt verächtlich und verdreht wieder die Augen. "Freunde."

"Ist ja auch egal", versuche ich, das Thema zu wechseln. Mir ist es unangenehm, über Aiden und mich zu reden.

"Bist du wieder gesund? Du siehst viel besser aus."

"Ja, mir geht es wieder besser. Mein Hals tut nur noch ein wenig weh."

"Das Heilmittel Liebe, hm?" Aby wackelt mit den Augenbrauen und sieht mich belustigt an.

"Aby", stöhne ich genervt.

"Ist ja gut." Sie lacht. "Was hast du für dieses Wochenende geplant? Wir wollten an den Strand fahren." Ich liebe den Strand.

"Ich kann nicht. Ich fahre über das Wochenende nach Hause, meine beste Freundin feiert Geburtstag."

"Oh, schade."

Die Tatsache, dass ich dieses Wochenende die Chance hätte, an den Strand zu fahren, senkt meine Freude auf Zuhause ein wenig. Vor allem, weil ich denke, dass Aiden mit an den Strand fahren. Mit ihm einen Tag am Strand zu verbringen, stelle ich mir interessant vor. Aber ich vermisse Scar und Dad sehr, deshalb freue ich mich trotzdem, sie wieder zu sehen.

"Wo kommst du eigentlich her?", fragt Aby.

"Nordengland, Aldbury. Total weit weg."

"Aldbury? Noch nie von gehört." Aby steht auf und geht zu ihrem Schreibtisch. "Bleibst du das ganze Wochenende weg?"

"Ja, denke schon. Scar feiert zwar am Freitag, aber ich werde wahrscheinlich noch ein wenig Zeit mit meinem Dad verbringen."

"Oh", flüstert Aby und lässt sich auf ihren Stuhl fallen, "Das ist schön." Sie lächelt zwar, aber das Lächeln erreicht ihre Augen nicht. Habe ich etwas Falsches gesagt?

Ich sehe sie mit gerunzelter Stirn an. "Alles ok?"

"Es ist nur... Bei dem Wort 'Dad' bricht etwas in mir."

"Wieso? Was meinst du?" Innerhalb von Momenten sieht sie so aus, als würde sie gleich weinen. Sofort stehe ich auf und gehe zu ihr, stehe aber ein wenig unbeholfen neben ihr. "Nur, wenn du mit mir darüber reden möchtest natürlich."

"Schon in Ordnung." Aby lächelt. "Mein Vater ist gestorben, als ich sieben Jahre alt war. Ich denke, das verfolgt mich einfach mein Leben lang."

Ich halte erschrocken den Atem an. "Aby, das... tut mir leid." Mein Herz schmerzt, bei der Vorstellung, wie Aby als kleines Mädchen um ihren Vater trauert. Sie scheint so ein glücklicher und lebensfroher Mensch zu sein, dass ich mir niemals hätte ausmalen können, dass sie so etwas Schreckliches erleben musste. Vielleicht sucht sie ja deshalb Zuneigung bei verschiedenen Männern, weil sie seit ihrer Kindheit keine Zuneigung ihres Vaters mehr bekommen hat.

"Es sollte dir nicht leidtun. Es ist einfach passiert. Du solltest nur unbedingt die Zeit mit deinem Dad schätzen." Sie dreht sich zu mir um und lächelt aufmunternd.

Ich nicke und lächle ebenfalls. "Das tue ich."

"Gut", atmet sie tief ein und haut sich mit den Handflächen auf die Schenkel, "Genug getrauert. Hast du schon ein Geschenk für deine Freundin? Wie heißt sie, Star, richtig?" Ihre Laune hat sich innerhalb von Sekunden schlagartig geändert, aber ich bin froh darüber. Ich mag es - um ehrlich zu sein - nicht, über solche Dinge zu reden.

"Scar", korrigiere ich sie, "Und nein, ich hab noch kein Geschenk." Ich stöhne und lasse mich wieder auf mein Bett fallen. "Ich hab auch überhaupt keine Idee, was ich ihr schenken könnte. Meine Geschenke sind grausig."

"Das Geschenk für Sophia hast du doch auch gut ausgesucht. Die Idee mit dem Armband war klasse."

Schon wieder. Sophia. Urgh.

"Also meinst du, ich soll ihr auch ein Armband kaufen?"

"Vielleicht nicht unbedingt ein Armband, aber wie wäre es mit einer schönen Kette?"

Ich richte mich auf. "Ich denke, das ist eine gute Idee. Ist auf alle Fälle besser als meine letzten Geschenke."

"Alles ist besser als Tampons", lacht Aby laut.

Ich verdrehe die Augen. "Leon hat es dir erzählt."

Den restlichen Tag verbringe ich noch im Bett, um meinem Körper genug Ruhe zu geben, damit ich über das Wochenende komplett gesund bin. Ich beschließe den nächsten Tag, Freitag, nochmal vom Unterricht fern zu bleiben und entscheide mich, stattdessen in die Stadt zu fahren, um Scars Geschenk zu kaufen. Ich habe für sechzig Pfund eine schöne Goldkette mit einem Herzchen und der Eingravierung S+R gekauft. Im Großen und Ganzen bin ich recht zufrieden mit diesem Geschenk, denn ich bin mir sicher, dass es Scar gefallen wird. Sie steht auf so ein Zeug, das weiß ich.

Als ich gerade in der Subway zurück zum Campus sitze, vibriert mein Handy.

Ich ziehe es aus der Hosentasche und sehe Aidens Namen auf meinem Bildschirm. Sofort huscht ein Lächeln in mein Gesicht. "Hey Aiden."

"Hey, ich wollte mich erkundigen, wie deine Genesung läuft, aber laut dem Krach im Hintergrund und deiner wieder funktionierenden Stimme, nehme ich an, dass alles bestens ist", sagt er amüsiert.

"Das nimmst du richtig an, Sherlock." Ich muss mir auf die Unterlippe beißen, um mir ein breites Grinsen zu unterdrücken.

"Okay. Übrigens möchte ich dich daran erinnern, dass du sehr viel Unterrichtsstoff verpasst hast in den letzten Tagen. Wo ist denn diese karrierefixierte und allzu engagierte Raven hin?"

Ich verdrehe die Augen. "Hey, ich war krank. Ab nächster Woche bin ich wieder voll dabei."

Aiden lacht. "Fang am besten dieses Wochenende gleich an, denn Snow meinte, dass wir über das Wochenende einen Aufsatz über 'Leid' schreiben sollen."

"Wow, welch ein schönes Thema."

"Allerdings. Wo bist du denn gerade?"

"Ich sitz in der Subway. War gerade in der Mall und habe endlich ein Geschenk für Scar gekauft."

"Wann hat sie denn Geburtstag?"

"Sie feiert heute Abend."

"Oh, das bedeutet du fährst heute Abend nach Hause?"

Ich nicke, obwohl er es nicht sehen kann. "Ja, um zwei Uhr fährt mein Zug." Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. Irgendwie wünsche ich mir, dass Scar nicht schon dieses Wochenende feiern würde.

"Dann nehme ich ebenfalls an, dass du bis Sonntag bleiben wirst."

"So ist es geplant."

"Dann werden wir wohl ohne dich an den Strand fahren müssen", zieht Aiden mich auf.

"Das macht mir nichts aus", lüge ich und zupfe an meinem T-Shirt Ende, "In Aldbury ist auch ein Strand. Und der ist unheimlich schön."

"Bestimmt nicht so schön wie der wunderbare Strand im wunderbaren Ostengland. Aber von mir aus; amüsiere dich ruhig mit mittelmäßig guten Stränden."

Ich lache. "Mach bloß nicht den tollen Strand in Aldbury runter."

"Okay, ich hör ja schon auf. Was hast du eigentlich für ein Geburtstagsgeschenk besorgt? Ich hoffe doch diesmal zwei Packungen Tampons."

Natürlich hat Leon es Aiden ebenfalls erzählt. Ich atme tief ein und halte mir den Kopf. "Leon scheint Plakate aufgehängt zu haben."

Aiden lacht leise. "Also was hast du besorgt?"

"Eine Goldkette mit einem Herzanhänger."

"Wie originell."

"In dem Herz sind unsere Initialen eingraviert", verteidige ich mich.

"Das wird ja immer origineller."

"Aiden." Ich seufze. "Das ist ein riesiger Fortschritt im Gegensatz zu letztem Jahr."

"Das stimmt allerdings", lacht er.

Im Hintergrund höre ich ein lautes Piepen und ich nehme mein Handy vom Ohr. Dad ruft mich an. "Aiden, kannst du kurz in der Leitung bleiben? Mein Dad ruft an."

"Logisch."

Ich schmunzle und nehme den Anruf von meinem Vater entgegen. "Hey, Dad."

"Hallo Schatz. Wann kommst du heute?" Er klingt ganz aufgeregt.

"Mein Zug fährt um zwei Uhr, also denke ich so gegen sechs oder sieben Uhr heute Abend."

 

"Okay, sehr gut, dann können wir wenigstens noch zusammen essen, bevor du zu Scar gehst." Ich höre ihn lächeln. Ich freue mich unheimlich, ihn endlich wieder sehen zu können, obwohl wir uns gerade mal eine Woche nicht gesehen haben.

"Ja." Ich grinse. "Gibt's sonst noch irgendwas? Ich habe noch jemanden in der Leitung."

"Oh, nein, das war's. Deine Zimmergenossin?", will Dad sich versichern. Er hat aber einen gewissen Unterton, als würde ihm die Antwort, dass es meine Zimmergenossin wäre, beruhigen.

"Ja, Dad", lüge ich. Ich möchte ihn nicht beunruhigen und auf ein intensives Gespräch, wenn ich nach Hause komme, habe ich auch keine Lust.

"Sehr gut." Er klingt beruhigt. "Dann sehen wir uns heute Abend. Ich hab dich lieb."

"Dito."

Ich drücke wieder auf Aidens Anruf. "Da bin ich wieder."

"Das hat ja ewig gedauert", stöhnt Aiden.

"Überhaupt nicht. Das waren gerade mal dreißig Sekunden, wenn überhaupt."

"Dreißig Sekunden sind dreißig Sekunden." Im Hintergrund höre ich eine Autotür knallen.

"Entschuldigung, my Lady." Ich verdrehe mal wieder die Augen und schmunzle.

Es klingt, als würde Aiden in seinem Auto sitzen und den Motor starten.

"Wo fährst du hin?", frage ich.

"Nach Hause. Ich war eben noch am Campus."

"Oh, ach so. Was machst du heute noch?"

"Wow, das unauffällig Spionieren hast du noch nicht so drauf."

Ich erröte und bin froh, dass Aiden mich nicht sieht. Ich versinke in meinem Sitz.

"Aber ich habe für heute noch nichts Großes geplant. Heute Abend werde ich eventuell ins Krankenhaus fahren. Du?"

"Bis auf eine elendig lange Zugfahrt, ist nur der Geburtstag meiner Freundin geplant. Und wahrscheinlich gibt es die leckerste Lasagne auf der ganzen Welt." Es macht Bing und die Subway kommt zum Stehen. Ich schnappe mir meine Tüte und steige aus der U-Bahn.

"Lass mich raten, dein Vater kocht sie für dich." Wieder eine Autotür im Hintergrund.

"Richtig", schmunzle ich und gehe die Treppen hoch zu den Straßen.

"Der Titel Sherlock wird mir wohl gerechter als gedacht."

Mir weht der Wind durch die Haare und ich schaue zu dem Berg, auf dem die Kirche steht, in der ich rausgefunden habe, dass Aiden kranken Menschen vorliest. Bei dem Gedanken daran springt mein Herz. Ich will gerade etwas sagen, da sehe ich Aiden auf der anderen Straßenseite auf einem Parkplatz an seinem Auto lehnend stehen.

Er trägt eine Sonnenbrille, eine dunkle Hose und ein weißes T-Shirt. Oh. Man. Aiden grinst zu mir herüber und sagt ins Handy: "Kommst du jetzt rüber, oder soll ich dich über die Straße führen?"

"Ich... Ja, klar." Ich stottere. Oh Mann, ich stottere. Darüber sollte ich langsam mal hinweg sein, kann mir aber ein breites Grinsen nicht verkneifen. Ich lege auf und jogge zu Aiden auf die andere Straßenseite. "Dir gehen tatsächlich nie die Ideen aus", lache ich, als ich bei ihm angekommen bin.

Aiden stößt sich von dem Auto ab und schließt es auf. Sein Lächeln ist berauschend. "Welche Ideen?"

Ich gehe um das Auto herum und öffne die Tür. "Dich noch viel cooler dastehen zu lassen, als du es sowieso schon tust", sage ich als wir im Auto sitzen.

Aiden sieht mich von der Seite mit einem triumphierenden Lächeln an. "Man kann nun mal nie genug Coolness besitzen."

"Werd bloß nicht überheblich." Ich grinse breit.

Er startet den Motor und meint: "Bei diesen coolen Komplimenten fällt das einem tatsächlich schwer", sagt Aiden mit einem sarkastischen Unterton. "Und außerdem dachte ich mir, da wir uns das ganze Wochenende nicht mehr sehen, wäre es doch ganz nett, wenn ich dich wenigstens nochmal zum Campus fahren kann, so als Abschied."

"Das ist eine gute Idee."

Wir kommen nicht einmal zwei Minuten später schon am Campus an und Aiden begleitet mich zu meinem Zimmer. "Um den Abschied auch ordentlich ausklingen zu lassen", meinte er. Er tut ja fast so, als würden wir uns für die nächsten Monate nicht sehen, dabei sind es nur zwei Tage.

"Was hast du sonst so fürs Wochenende geplant?", frage ich, während ich ein paar Klamotten in eine Tasche packe.

Aiden sitzt auf meinem Bett und beobachtet mich interessiert. Aby ist nicht da - wo auch immer sie ist. "Also morgen Nachmittag fahren wir zum Strand. Davor werde ich wahrscheinlich mal zu meiner Schwester fahren und Sonntag, hm, hab ich noch keinen Plan. Wahrscheinlich werde ich den Sonntag nur mit Schreiben verbringen im Krankenhaus. Tammy hilft mir immer, weißt du?" Er grinst während des letzten Satzes.

Man könnte wirklich das Gefühl bekommen, dass Tammy seine kleine Schwester sei, die ihm unglaublich viel bedeutet. Dass Aiden sich so um sie kümmert, macht ihn noch so viel liebevoller und ich mag es. Gleichzeitig ist die ganze Situation auch so verdammt traurig, da Tammy krank ist. Und die Realität trifft einen hart, wenn man bedenkt, dass Aiden meinte, dass sie nicht einmal noch ein Jahr hat. Ich muss sie unbedingt öfter sehen.

"Das ist lieb von dir, dass du ihre Ideen in deine Geschichten einbindest." Ich grinse und gehe wieder zu meinem Schrank, um eine Jacke herauszuholen, weil ich weiß, dass es in Aldbury kälter sein wird. Warum muss ich nur so weit im Norden wohnen?

"Ist doch klar, immerhin müssen ihnen auch die Geschichten gefallen. Meinst du nicht, dass du langsam genug Klamotten eingepackt hast? Oder hast du vor für die nächsten Wochen wegzubleiben?", lacht Aiden und betrachtet meine Tasche, die mittlerweile bis oben hin vollgepackt ist.

Ich zucke mit den Schultern und stopfe die Jacke in meine Tasche. "Man kann nie wissen und außerdem sollte ich auf Nummer sicher gehen." Ich schaue auf mein Handy, um die Uhrzeit zu checken und mich trifft fast der Schlag. Ich habe nur noch sechs Minuten bis mein Zug fährt! Während der Anwesenheit von Aiden habe ich total die Zeit vergessen! "O Gott, Aiden! Ich muss zum Zug!", schreie ich und schmeiße mir schnell die Tasche über die Schulter und gehe zur Tür.

Aiden springt sofort auf und schnappt sich seine Autoschlüssel von meinem Nachttisch.

"Los! Nur noch fünf Minuten!"

Wir rennen mittlerweile durch die Flure des Gebäudes und nach draußen zu seinem Auto. Schnell steigen wir in Aidens Range Rover und er fährt sofort los.

"Das nächste Mal schaust du früher auf die Uhr", sagt Aiden und fährt mit mindestens 90 km/h in eine Kurve.

Ich werde durch den Schwung volle Kanne gegen die Tür gepresst. "Jaja, jetzt drück einfach auf die Tube. Nur noch drei Minuten! O man, ich werde zu spät kommen und kann nicht zu Scars Geburtstag kommen." Aussichtslos halte ich mir die Hand an die Stirn. "Sie wird mich umbringen."

"Wir sind schon da", meint Aiden und steigt aus. "Los, komm!"

Wir rennen zu meinem Gleis und ich bin erleichtert, als ich sehe, dass der Zug noch da steht. "Gott sei Dank!", stöhne ich und bleibe vor den Türen stehen. Ich drehe mich zu Aiden um und er sieht mich mit einem leichten Lächeln an.

"Dann hast du es ja gerade noch gepackt."

"Ja", lache ich und wippe von einem Fuß auf den anderen. Soll ich ihn jetzt küssen? Ich würde es auf jeden Fall gern. Aber ich werde auf gar keinen Fall den ersten Schritt machen, niemals.

Der Zug hupt und gibt mir damit ein Zeichen, dass er jeden Moment los fährt.

"Also ich wünsche dir viel Spaß bei deinem Dad. Wenn du möchtest - wenn dir zum Beispiel totlangweilig ist - kannst du mich anrufen oder so."

Ich nicke und grinse breit. "Okay."

"Okay", grinst Aiden und zeigt mir zum letzten Mal seine schönen Grübchen.

Ich höre, wie die Türen sich hinter mir zu schließen beginnen und ich schlüpfe schnell in den Zug, ohne Aiden noch etwas sagen zu können. Durch die Scheiben der Tür sehe ich ihn noch zu und ich winke ihm. Ich sehe ihn leicht lachen und er schüttelt mit dem Kopf. Der Zug fängt an, loszufahren und Aiden geht einen Schritt zurück. Er nickt mir nochmal lächelnd zu und ich beobachte, wie er immer kleiner und kleiner wird. Aiden steht die ganze Zeit noch da, bis der Zug um die Kurve fährt und ich ihn nicht mehr sehen kann. Mein Lächeln verblasst, als er aus meinem Blick schwindet und ich lasse die Schultern hängen. Ich hätte ihn wenigstens noch gerne umarmt... Ich trotte zu einem Platz, verstaue meine Tasche in der Ablage über mir, wühle meine Kopfhörer heraus und lasse mich auf die Bank fallen. Ich stopfe mir meine Kopfhörer in die Ohren, schalte The National ein und schließe die Augen.

"Miss?"

Etwas berührt mich an der Schulter.

"Miss, Sie müssen aufwachen."

Ich öffne verschlafen die Augen und blicke geradewegs in die Augen des Schaffners, der mich eindringlich durch seine Brille anstarrt.

"Miss, der Zug endet hier. Sie müssen hier aussteigen."

Ich nicke und reibe mir über die Augen. "Tut mir leid."

"Kein Problem. Nach einer so langen Fahrt kann man mal einschlafen." Sein Lächeln ist sehr sympathisch.

Ich lächle zurück und hole meine Tasche von der Ablage runter. Als ich aus dem Zug aussteige, kommt mir sofort die kalte Luft Aldburys entgegen - hab ich überhaupt nicht vermisst. Ich ziehe mir eine Jacke aus meiner Tasche über und laufe den gewohnten Weg vom Bahnhof nach Hause. Wahnsinn. Ich habe das Gefühl, dass ich das letzte Mal hier eine komplett andere Person war. Ich war noch so fixiert auf Karriere und Erfolg, dass mir nicht einmal aufgefallen ist, wie schön diese Jasminsträuche sind, die an den Mauern Aldburys wachsen. Ich streiche mit den Fingern über die schönen weißen Blüten und muss sofort an Aiden denken. Kurzerhand zupfe ich eine kleine Blüte ab und rieche an ihr. Ich liebe diesen Geruch einfach. Zuhause angekommen, klopfe ich an der Tür und meine Freude steigt aufs Extremste, weil ich gleich Dad wiedersehen werde.

Die Tür öffnet sich und Dad grinst mich an. "Endlich!" Er nimmt mich sofort in den Arm und drückt mich fest. "Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön es ist, dich wieder zu sehen."

Ich vergrabe mein Gesicht in seiner Schulter und sofort kommt mir sein wohliger Geruch entgegen. Er riecht wie Zuhause. "Ich hab dich auch vermisst", flüstere ich.

Er lässt mich los und zieht mich ins Haus. Es riecht nach Lasagne, wie ich es mir schon dachte. "Ich hab gekocht", verkündet er und grinst.

"Ich rieche es. Ich bin am Verhungern." Ich streife mir die Schuhe ab und lege meine Tasche in die Ecke des Flurs. Ich folge Dad in die Küche.

Und ich wünschte sofort, ich wäre nicht gekommen. Innerhalb von einer Sekunde staut sich so viel Wut und Hass in mir an, dass ich auf der Stelle in Scherben zerspringen möchte. Ich bleibe erstarrt im Türrahmen stehen und starre auf das Wesen, das ganz normal am Esstisch sitzt und mir zu grinst.

"DU?", schreie ich aufgebracht.

Ich spanne meinen kompletten Körper an, als sie aufsteht. Als würde mich die Spannung davor bewahren, nicht sofort zu explodieren. Wenigstens ist ihr ekliges Grinsen von den Lippen verschwunden.

"Ely, bitte", sagt sie leise und kommt auf mich zu. Der Klang ihrer Stimme ekelt mich an und ich balle meine Fäuste.

"Komm mir bloß nicht zu nahe", fauche ich und gehe einen Schritt zurück, "Und wage es nicht, mich Ely zu nennen."

Meine Mutter bleibt auf der Stelle stehen und schaut auf den Boden. Sie widert mich an. Sie ist so alt geworden und so unglaublich hässlich. Ich kann sie nicht einmal richtig anschauen, so viel Hass empfinde ich ihr gegenüber.

Ich sehe mit angestrengtem Blick zu meinem Vater. "Was soll das? Wieso ist sie hier?" Ich muss mich beherrschen, nicht zu schreien.

"Ravely, bitte hör mir - ", wagt es meine Mutter zu sprechen.

"Sei still!", schreie ich aufgebracht. Sie soll bloß nicht reden, ich möchte ihre Stimme nicht hören. Ich richte mich wieder an meinen Vater: "Also sag mir wieso sie hier an unserem Tisch sitzt!"

Dad kommt einen Schritt auf mich zu, doch ich gehe einen weiteren zurück. Er atmet darauf tief ein und lässt die Schultern hängen. "Deine Mum hat - ", fängt er an, doch ich unterbreche ihn sofort.

"Nenn sie nicht so."

"Okay", seufzt er und fährt sich durch die Haare. "Margret hat mich vor einigen Wochen angerufen und wollte wieder Kontakt zu uns aufbauen."

Ich kneife meine Augen zusammen. "Und das willst du?" Ich kann das gerade nicht glauben.

Er zuckt mit den Schultern. "Ich... Ravely, vielleicht ist das nichts Schlechtes. Es ist immer noch deine Mutter."

 

Ich schnaube verächtlich und sehe von ihm weg zur Wand. "Meine Mutter?" Ich lache. "Wie kannst du nur behaupten, dass diese Frau nichts Schlechtes ist? Wenn ich etwas gegessen hätte, würde ich sofort kotzen."

"Ravely, wenn du mir doch nur zuhö - ", mischt sich meine Mutter ein.

"Mit dir rede ich nicht!", brülle ich sofort. Ungläubig halte ich mir die Hände an den Kopf und schließe die Augen. "Dad, du weißt, wie sehr ich sie hasse. O Gott, wie kannst du sie hier her bringen, nach allem was sie getan hat?" Ich versuche mich ein wenig zu beruhigen.

"Ich weiß, ich hätte es dir früher sagen sollen, aber ich wusste nicht wie", sagt er leise.

Ich öffne meine Augen wieder und sehe ihn an. Er sieht so verletzt aus. Aber das bin ich auch, also zeige ich kein Mitleid für irgendwen hier. "Ach glaubst du?"

"Hör ihr wenigstens einmal zu."

"Nein."

"Bitte, Ravely." Dad hat einen so flehenden Blick aufgesetzt, dass man meinen könnte, er würde jede Sekunde auf die Knie sinken und weinen.

Ergeben atme ich tief ein und sage: "Rede."

"Ich?", fragt die Frau im Raum.

"Natürlich, wer denn sonst?" Ich sehe sie nicht an.

"Okay", keucht sie. "Also Ravely... Ich weiß, ich habe so viele Dinge falsch gemacht. Nein, ich habe sogar alles falsch gemacht, was man nur als Mutter falsch machen kann und noch viel mehr. Und das tut mir unheimlich leid. Ich denke so oft an dich, seitdem ich... seitdem ich euch verlassen habe und ich vermisse dich einfach. Du bist meine Tochter, Ravely und ich liebe dich, egal, was ich je getan habe. Du bist mein Fleisch und Blut. Es gibt so viele Dinge, die ich gerne bereinigen würde, aber dafür brauche ich einfach eine zweite Chance von dir. Du musst mich nur alles erklären lassen. Es tut mir alles unglaublich leid und ich bereue jede Sekunde, die ich nicht bei euch... bei dir war. Es tut mir so leid." Zum Ende hat sie angefangen zu weinen.

Mir kommt die Galle hoch und ich muss mich beherrschen, nicht vor ihre Füße zu spucken. Ich überwinde mich sie anzusehen. "Es tut dir wirklich leid?"

Sie nickt mit glänzenden Augen. Sieht ja fast so aus, als würde sie denken, dass ich Mitleid mit ihr hätte. "So, so leid."

"Gut. Du hast jegliches Leid verdient." Ich habe jegliche Spannung in meinem Körper verloren und ich fühle mich nur noch wie ein leeres Vakuum in diesem stickigen Raum. Diese Frau hier vor mir hat keine einzige Emotion von mir verdient. Sie hat nichts verdient als Leid. Schlimmes, schlimmes Leid. Ich beobachte, wie sie ihr Gesicht noch mehr verzieht und sie anfängt zu heulen. Gott, sie ist so abartig. "Wie kannst du nur glauben, dass ich dir auch nur ansatzweise verzeihen kann? Du glaubst, du kommst hier einfach mit irgendeiner beschissenen Entschuldigung durch die Tür - die du wahrscheinlich schon seit Tagen einstudiert hast - und ich springe dir wie ein schwaches Lamm in die Arme? Du bist so erbärmlich, so etwas auch nur zu denken."

"Ravely!", mahnt mein Vater mich.

Ich sehe ihn nur ungläubig an. "Was? Nimmst du sie etwa in Schutz?"

"Ich möchte nicht, dass du so redest. Auch, wenn sie es ist. Du kannst sie nicht dein ganzes Leben lang hassen!"

"Kann ich nicht? Sag mir, wieso ich es nicht sollte. Diese Frau", ich zeige auf sie, als wäre sie irgendein wertloses Objekt, "hat uns durch die Hölle geschickt und du holst sie zurück? Wer bist du nur?" Ich schreie wieder.

"Diese Frau ist zufällig deine Mutter und jeder Mensch braucht eine Mutter, auch du!"

Ich lache. Ich lache laut. "Etwas wie sie hat kein Recht, meine Mutter zu sein. Sie ist nicht meine Mutter."

"Ist schon okay, Jared", schnieft meine Mutter. "Ich kann sie ja verstehen. Ich war eine schreckliche Mutter."

Ich schnaube wieder, verschränke die Arme und schüttle den Kopf. Dieses Wort Mutter bringt mich fast zum Würgen.

"Ich werde jetzt nach oben gehen. Ihr beide solltet alleine reden", sagt sie leise und geht an mir vorbei ins Wohnzimmer.

Wehe, sie hat bei uns ein Zimmer! Wehe, sie hat bei uns ein Zimmer!

Ich beobachte wie sie die Treppen hoch geht und verliere fast die Fassung, als ich sehe, dass sie in das Gästezimmer geht.

Ich presse meine Zähne aufeinander und wende meinen Blick an meinen Vater. Er steht wie ein Häufchen Elend in der Küche und sieht auf den Boden.

"Ich dachte nicht, dass du es so schwer aufnimmst." Er seufzt und setzt sich an den Tisch.

Meine böse Miene schwindet, denn ich möchte nicht, dass Dad sich wegen mir schlecht fühlt. Ich verstehe zwar nicht, wieso er sie hier her geholt hat, aber das sollte keine Barriere zwischen uns aufbauen. "Dad", seufze ich leise und setze mich ihm gegenüber an den Tisch. "Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich diese Frau in meinem Leben haben möchte."

Dad stemmt den Kopf in die Hände. "Ich weiß. Aber ich dachte vielleicht... ich weiß nicht was ich dachte. Vielleicht, dass wir eine normale Familie werden könnten."

"Wir sind eine normale Familie. Nur, weil wir allein sind, heißt es nicht, dass wir keine normale Familie sind. Oder bist du etwa unglücklich?"

Er wischt sich durchs Gesicht und sieht mich an. Seine Augen sehen sehr müde aus. "Doch, ich bin glücklich. Ich habe nur manchmal das Gefühl, dass etwas fehlt und ich dieses Loch, was deine Mut - Margret hinterlassen hat, stopfen sollte. Dann habe ich sie zufällig wieder getroffen und ich dachte, dass es vielleicht ein Zeichen ist, sie wieder in unser Leben einzubinden. Ich meine, ich weiß, dass sie wirklich viele schreckliche Dinge getan hat, aber ich habe ihr verziehen."

Bei den letzten Worten wünschte ich, ich hätte gar nicht hingehört. "Ich kann ihr nicht verzeihen."

"Das solltest du."

"Kommt gar nicht in Frage", ich werde wieder aufgebrachter. "Wie kannst du einer Frau verzeihen, die dich jahrelang betrogen, dein ganzes Geld geklaut und bei jeder Arbeitsstelle dafür gesorgt hat, dass du deinen Job verlierst? Dad, wir haben Qualen gelitten und gehungert wegen ihr!" Und all das stimmt. Mein Vater und sie waren sieben Jahre verheiratet und sie hat ihn Monat um Monat mit anderen Typen betrogen. Er hat nichts dagegen getan, er hat es einfach über sich ergehen lassen, weil er sie liebte. Dann, als sie uns verlassen hat, um mit irgend so einem anderem Mann durchzubrennen, hat sie all das ersparte Geld meines Vaters geklaut, das er für mein College zusammengespart hat - genau wie alle Wertsachen - und ist einfach abgehauen. Wir hatten rein gar nichts mehr. Mein Dad und mein sechsjähriges Ich. Das waren die schrecklichsten Jahre meines Lebens. Dazu kam noch, dass meine Mutter jedes Mal wieder herausgefunden hat, wenn mein Vater sich bei einem Job beworben hat und sie ist immer aufs Neue dort hingefahren und hat den Arbeitgebern Lügen über meinen Vater erzählt, damit sie ihm den Job abschlagen. Als ich elf war, hat mein Vater mir erzählt, dass meine Mutter schon immer ein starkes Alkoholproblem hatte und sie deshalb so ist und sie eigentlich gar nichts dafür kann. Wir haben in einer total heruntergekommenen Wohnung gewohnt und haben von Staatsgeld gelebt. Wir gar nichts. Und das, das will mein Vater meiner Mutter verzeihen? Er muss krank sein.

"Ich will einfach nur diesen Hass verschwinden lassen, Ravely", sagt mein Vater leise.

"Selbst, wenn ich ihr verzeihen würde, kann sie das, was geschehen ist, nicht rückgängig machen."

"Ja, das kann sie nicht, aber wir können wenigstens versuchen miteinander auszukommen. Wenigstens um dir das Gefühl zu geben, dass du auch so etwas wie eine Mutter hast. Ich weiß doch, dass du darunter gelitten hast, dass du keine hattest... oder halt nur so etwas."

Ich kneife die Augen zu und beiße mir auf die Lippe. Ja, ich habe darunter gelitten. Das bedeutet aber trotzdem nicht, dass ich jetzt so etwas brauche. Ich werde niemals zu ihr eine Bindung aufbauen können, die auch nur ansatzweise einer Mutter-Kind-Beziehung gleicht. Dafür ist zu viel geschehen. "Ich möchte nicht mehr darüber reden. Ich will nur noch in die Dusche und dann zu Scars Geburtstag gehen. Und erwarte bloß nicht von mir, dass ich auch nur ein Wort mit Margret reden werde."

Dad nickt und lächelt leicht, aber das Lächeln erreicht seine Augen nicht. "Lass uns erst mal etwas essen, sonst wird die Lasagne kalt."