12 fette Frauen

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Eindeutig ein echter Mensch und keine Alien Invasion

Ich habe mich bequatschen lassen. Natürlich habe ich mich bequatschen lassen. In meinem Rage Against The Machine-T-Shirt stehe ich wie ein Crossover-Alternative-Rock-Fitness-Hippo an der Rezeption der Gymeinde Altona und bin stimmungstechnisch nicht gerade die Verkörperung eines Bombtracks, also, zwar irgendwie explosiv aber nicht in Bombenstimmung. Carmen allerdings schon. Sie ist bereits auf dem Crosstrainer und winkt mir fröhlich aus der Ferne zu. Ich seufze. Sven, der eigentlich Alex heißt, kommt lächelnd um die Ecke gelaufen um mich einzuchecken. „Paula! Wie geht's, wie steht's?" „Joa", sage ich. „Hey, Rage Against The Machine! Gute Band. Hab ich mal live gesehen." Er reicht mir lächelnd einen Schlüssel für den Spind. „Echt?", frage ich und bin mir sicher, dass er RATM nur verwechselt. Vielleicht mit David Guetta oder den Black Eyed Peas, oder so. „Ja, ist ewig her ... '93. Mein Vater hat mich damals mitgenommen." „Du warst '93 schon geboren?", rutscht es mir raus. „Ich war 93 schon 13", lacht er. „Oha. Ihr trainierten Leute! Euch sieht man die Jahre einfach nicht an.", seufze ich. „Na komm", er zieht eine Augenbraue hoch. „Du bist doch selber kaum 25." „29." „Oh Hauer! Kurz vor 30. Genieße den Rest deines Lebens." „Du bist doch schon drüber und lebst auch noch." „Mehr schlecht als recht", er lacht. Angeber, denke ich. Mehr schlecht als recht. Sein unbekleideter Oberkörper ziert sicher diverse Fitness-Magazine. Mehr schlecht als recht. Morgens hüpft er vital wie ein junger Gott aus dem Bett, trinkt keinen Kaffee, dafür aber frisch gepressten O-Saft. Mehr schlecht als recht. Theramed hat auch schon für eine neue Kampagne angefragt. Mehr schlecht als recht. Die Frauen stehen bei ihm Schlange. Er hat eine Fan-Group auf Facebook und 13k Follower auf Instagram. Mehr schlecht als recht. Paula?" „Äh ja. Sorry. Man hat's immer schwer im Leben." „Ja! Das Leben ist eins der härtesten." „Genau. Und lebend kommt man aus der Sache eh nicht raus." „Exakt!", er lacht. „Genieß dein Training, ... so lange noch Vialfunktitonen vorhanden sind." „Ha-ha." „Du lachst, junge Dame. Aber komm du erst mal in mein Alter - da ist das nicht mehr gegeben." Pfft, denke ich. „Ach komm, Sven, zieh den Trizeps aus dem Grab! Mit deinem geringen Körperfettanteil hast du dir echt kein Mitleid verdient." Oh mein Gott. Hab ich das wirklich gesagt? Er lacht einfach. „Alex heiß ich, übrigens. Okay, okay. Ich werde versuchen, nicht mehr zu jammern." „Ich bitte darum", sage ich. Dann gehe ich in die Umkleidekabine, wechsle die Schuhe, schaue mir dabei ungewollt Körperteile anderer Frauen an und bin irgendwie amüsiert. „Gute Laune?", fragt Carmen mich, als ich mich auf den Crosstrainer neben ihr schwinge. „Ne", sage ich, „Wieso?" „Ah, wirkte so", sagt sie und kichert. Was ist nur los mit den Menschen? „Clausen hat gesagt, ich soll ein Buch schreiben." „Mach doch, du hast ja Zeit." „Ja. Aber ein Buch? Da werden doch drei Wochen niemals ausreichen." „Schreib halt 'ne Kurzgeschichte." „Hm." Carmen erzählt, dass Rami und sie überlegen, eine Aushilfe einzustellen. „Irgendwie ist es doch einfach viel Arbeit", sagt sie. Seit Jahren rate ich Ihnen dazu. „Müssen ja nicht viele Stunden in der Woche sein", redet sie weiter.

Sag ich ja auch seit Jahren.

„Vielleicht einen Studenten. Die haben ja nix. Was meinst du dazu?", sie sieht mich fragend an.

„Finde ich gut", sage ich. Seit Jahren. Hm. Dann machen wir das wohl. Na ja. Eventuell wollen wir auch mal in den Urlaub, irgendwann. Ich hatte seit Jahren keinen Urlaub. Oder zumindest mal für einen Tag an die Ostsee, weißt du. Das wär schon schön. Man vergisst sich selbst irgendwie immer. Arbeit kann ja nicht alles sein. Wir haben nun mal keine Garantie auf ein langes Leben", sie seufzt. Kurz befürchte ich, dass sie anfängt zu weinen, aber sie fasst sich sehr schnell wieder. „Jedenfalls ... wir werden das dann bald ausschreiben. Und falls dir jemand einfällt, also, so ein schnittiger junger Student, dann schick den zu uns. Haha." „Okay", sage ich. „Leider kenne ich wenige schnittige junge Männer. Eigentlich nur Ferdi. Und der hat einen Job, einen schlechten zwar, aber ... ach du Scheiße!" Ich habe meine Schicht im Nachtlicht vergessen. Carmen auch, eigentlich wäre es ja ihre Schicht gewesen. Zum Glück bin ich noch ganz gut in der Zeit. „Mach dein Training in Ruhe fertig", sage ich zu ihr. Sie verspricht, mich später auf ein Bier zu besuchen. Auf einmal steht Sven neben uns. „Was ist hier los? Sind deine Vitalfunktionen schon erschöpft?", er mustert mich kritisch. „Ach, so ein Quatsch ... ich muss in die Kneipe!", antworte ich hektisch. Er lacht und sagt: „Wie oft bin ich schon mit den Worten vom Crosstrainer gesprungen!" Um 21 Uhr stehe ich aufs Feinste herausgeputzt vorm Nachtlicht. Ich kann nicht mal genau sagen, warum ich so ein dringendes Bedürfnis dazu habe, gut auszusehen. Aber es ist immerhin Freitag Abend und ich stehe mitten auf dem Kiez vor der Kneipe, über die ich heute Abend regieren werde. Ich bin ein bisschen stolz und etwas aufgeregt. Ich war schon lange nicht mehr am Wochenende auf der Reeperbahn unterwegs, aber das letzte Mal, als ich Carmen an einem Freitag hier besucht habe, war es ziemlich voll. Ich auch, was natürlich meine Erinnerung rückwirkend getrübt haben könnte. Kuddel kommt ebenfalls schon um die Ecke getigert, heute in Begleitung einer etwas verbraucht wirkenden Dame. „Das ist Roswitha!", sagt er, „Meine Frau." Roswitha streckt mir die faltige, solariumgebräunte Hand entgegen. „Moin." „Moin", sage ich. „Du bist also die neue Bardame, ja?" „Ja, genau. Vorübergehend zumindest." „Ah jo!", Roswitha lächelt. Schöne Zähne hat sie, vielleicht ist es aber auch nur der hohe Kontrast zu ihrer Hautfarbe. Dann kommt auch Jürgen um die Ecke. „Hallo Kinder!", flötet er. Er umarmt Roswitha und mich zur Begrüßung, Kuddel klopft er auf die Schulter. „Seid ihr bereit für 'nen Schnaps?" Alle nicken begeistert. Jürgen schließt auf schenkt uns die erste Runde Jägermeister ein. Dann schaut er überall im Laden nach dem Rechten, stellt noch ein paar zusätzliche Biere kalt und setzt sich für eine Weile mit an den Tresen. „Roswitha, wie geht es dir? Was machen die Kinder?" „Ach, hör bloß auf, Jürgen! Auf die Nerven gehen die mir, jeden verdammten Tag. Steffen hat jetzt seine erste Freundin. Die ist ja ein süßes Mädel, aber wirklich nicht gerade die hellste, das sag ich dir. Und Janette, die hat einfach heimlich das Rauchen angefangen.", sie schüttelt den Kopf. „Dabei hab ich extra selbst damit aufgehört, um ihr ein besseres Vorbild zu sein. Aber kannste nix machen, die treffen ihre eigenen Entscheidungen." Kuddel nickt zustimmend. „Ihren eigenen Kopf haben die, ja ja." „Wenigstens ist sie gut in der Schule, was man von ihrem Bruder nicht behaupten kann. Wir hoffen, dass er dieses Jahr noch eine Lehrstelle findet. Eigentlich wollte er Abitur machen, ist jetzt in der 11. Klasse, aber mit den Noten ..." „Nee, nee", seufzt Kuddel. „So schlecht war nicht mal ich in der Schule." „Na", fährt Roswitha ihn an, „bis in die 11. Klasse hast du es nicht mal gebracht." „Ich hatte auch keine Wahl", sagt Kuddel, „ich musste nach der Realschule direkt an die Arbeit. Aber mein Abschluss, der war astrein! Astrein sag ich euch!" Jürgen nickt. „Ich hatte auch nie die Wahl, andere Zeiten waren das." „Ja, genau! Andere Zeiten", Kuddel stimmt zu. Er bestellt ein Bier für sich und ein Glas Prosecco für Roswitha. Ich wusste überhaupt nicht, dass es im Nachtlicht Prosecco gibt. Die Idee gefällt mir eigentlich gut und ich schenke mir selbst auch ein Glas ein. Jürgen und Kuddel stecken auf einmal in einer angeregten Diskussion über ihre offenbar gemeinsame Schulzeit fest, reden über ehemalige Lehrer, Klassenkameraden, Schulausflüge. Roswitha prostet mir zu. „Schätzelein, schön, dass Carmen jetzt auch mal bisschen mehr frei hat. Man muss der schon lassen, fleißig, das isse. Aber jetzt, wo Maria nicht mehr ist, da muss sie auch mal einen Gang runter fahren. Die ist ja auch noch so jung. Eine Schande ist das." Ich nicke. Roswitha redet weiter: „Ne gute Frau war das, die Maria. Hat sich immer engagiert, bei sich drüben in Steilshoop. Nachhilfe gegeben hat se. Und für die Nachbarn eingekauft. Und vor allem nie gejammert. Auch wenn das Leben nicht immer gut zu ihr war. Als sie damals nach der zweiten Schwangerschaft nicht zurück in den Job konnte, weil man sie schon ersetzt hatte, während ihrer Elternzeit, das war 'ne fiese Nummer. Ganz, ganz fies. Und dann ist ihr der Mann abgehauen. Und sie, allein mit 2 kleinen Mädchen. Da war an Arbeit nicht mehr zu denken. Die Jenny, die war auch nicht leicht. Ich weiß, keiner redet davon ... aber ich weiß noch, als die klein war. Die war ein echter Wildfang, hat sich immer mit den Jungs geprügelt in der Schule. Das war nicht leicht für Maria, nicht leicht ... " Sie trinkt noch einen Schluck Prosecco. „Ich hoffe jedenfalls, Carmen nimmt sich jetzt genügend Zeit für sich", schließt sie ihren Monolog ab. „Wir gehen jetzt zusammen zum Sport", erzähle ich. „Nicht, dass ich ein großer Sportfan bin, aber Carmen hat mich darum gebeten. Sie braucht etwas Abwechslung." „Sport, soso", sagt Roswitha. „Als ich jung war, da habe ich Hockey gespielt!" Ich bin nicht überrascht, tue aber so. Sie erzählt noch ein wenig von ihrer anscheinend sogar recht erfolgreichen Hockey-Karriere, die ganz abrupt endete, als sie sich das Knie verletzte. „Von da an war ich nur noch als Fan im Stadion. Und irgendwann, eines schönen Tages, Heimspiel, wir sind gerade ganz kurz davor, zu gewinnen, rempelt mich so ein besoffenes Arschloch von der Seite an und verschüttet sein Bier über mich. Dem hab ich erst mal eine reingehauen. Na, jedenfalls, ... so haben Kuddel und ich uns kennengelernt", sie streichelt liebevoll über seinen Arm. Romantisch, denke ich. „Seine Nase war gebrochen, ich bin dann mit ins Krankenhaus. Weil, das tat mir dann doch leid. Und ich hab ihn auf ein Bier eingeladen, später. Über 20 Jahre ist das jetzt her." Kuddel unterbricht sein Gespräch mit Jürgen. „Was sagst du, Sternchen?" „Dass ich dich und deine Krüppelnase jetzt schon über 20 Jahre kenne, das sach ich." „Ja, 18 Jahre Ehe", sagt Kuddel, „und ich habe sie noch nie geschlagen.", er lacht und nimmt sie in den Arm. Irgendwie finde ich das alles abstrus und entschließe mich, noch einen Schluck Prosecco zu trinken. Jürgen, Roswitha und Kuddel schwelgen jetzt zu dritt in gemeinsamen Erinnerungen (Roswitha scheint eine ehemalige Schulfreundin von Jürgens Exfrau zu sein) und das Nachtlicht füllt sich nach und nach. Ich bediene drei bärtige Männer, die sich rechts neben Jürgen und Co. an den Tresen gesetzt haben, Jürgen auch zu kennen scheinen, allen zuprosten und nach der ersten Runde Schnaps auch direkt die zweite bestellen, dicht gefolgt von der dritten. Ich kann kaum so schnell einschenken, wie sie trinken. Nach der fünften Runde steigen sie auf Bier um. Ich schreibe an, alles geht auf den schlaksigen bärtigen Mann in der Mitte, sein Name ist Jörg. Eine blonde, zierliche Frau ruft mir über den Tresen zu, dass sie dringend ein Bier braucht. Zwei grauhaarige Damen mit Kurzhaarschnitt, schätzungsweise um die 60, bestellen ein Leitungswasser und einen Cognac. Ich habe gut zu tun. Irgendwann quetscht sich aus dem Nichts Carmen an den Leuten vorbei und stellt sich zu mir hinter den Tresen. „Paulaaa, hier ist ja was los! Wahnsinn. Steht dir, so eine Bar", sie lacht. Jörg mit dem Bierdeckel will zahlen, die drei Bärtigen gehen. Auf einmal tauchen Sven, der eigentlich Alex heißt, mit zwei anderen Männern auf. Sie setzen sich auf die gerade frei gewordenen Plätze. „Hi, Paula!", sagt Alex. „Äh, hi! Was machst du denn hier?", blaffe ich ihn beinahe an. „Na, du hast doch gesagt, du gehst in die Kneipe! Und heute ist Freitag. Da dachte ich, also, da dachten wir ... wir lassen uns von Carmen mitnehmen. Weil, äh, sie hatte schon häufiger von der Kneipe ihres Onkels erzählt, und, na ja ..." „So kam eins zum anderen", fällt ihm Carmen ins Wort und lacht. „Wir haben schon im Klönschnack ein paar Schnäpse vor getrunken!" Innerlich verdrehe ich die Augen. Dass ich den jetzt auch noch außerhalb des Fitnessstudios sehen muss. „Eiweiß-Shakes führen wir leider nicht", sage ich. „Ah, Mist. Dann nehm ich 'n Bier!", sagt Sven. „Aber das hat doch überhaupt keine Proteine!", rutscht es mir raus. Er ignoriert mich und fragt seine Kumpels, was sie trinken wollen. Alle drei sitzen nebeneinander, Sven sitzt ganz links. Je länger ich seine beiden Mitbringsel ansehe, desto mehr habe ich das Gefühl, dass ... der eine nimmt die Hand des anderen. Sie sind schwul! Oh mein Gott, Sven ist schwul. Wie konnte ich es nicht merken, es war doch so naheliegend. Attraktiv, etwas zu gepflegt und etwas zu nett. Natürlich! Vielleicht spricht hier auch der Prosecco aus mir, aber auf einmal ist mein Herz voller Liebe für Sven. Und für seine Freunde sowieso. Sie bestellen zwei Astra und einen Prosecco für den, der ganze rechts sitzt. Hübsch ist er. Ich stoße mit ihm an. Wir plaudern ganz locker, Carmen unterhält sich mit Sven und dem in der Mitte und sie und ich bedienen abwechselnd die Gäste. Irgendwann verabschieden sich Jürgen, Kuddel und Roswitha, die mich zum Abschied umarmt und mir anbietet, sie von nun an Rosi zu nennen. Das passt eigentlich gar nicht zu ihr, aber ich freue mich trotzdem. Jürgen klopft mir auf die Schulter und lallt: „Super machsss du das! Ganz her-vor-ragen'd", küsst Carmen zum Abschied auf die Wange, sagt „Hab dich lieb, mein Sonn'schein!" und schwankt nach draußen. Wir werfen uns einen belustigten Blick zu, dann gibt Carmen eine Runde Jägermeister für uns und unsere neuen schwulen Freunde aus. Ich bin irgendwie erleichtert. Fast ein wenig glücklich. Jetzt kann ich Sven verzeihen, dass er so perfekt ist! Hätte er doch nur was gesagt. Wir hätten einfach direkt Freunde werden können, uns gemeinsam verschwören können, gegen die Gesellschaft. Nein, gegen den Rest der Welt! Er hat es sicher auch nicht leicht. Ich seufze leise und trinke dann meinen Schnaps. „Alles in Ordnung?", fragt Sven, der meinen kleinen Seufzer gehört haben muss. „Ja, alles super!", singe ich beinahe. „Schön!", Sven lächelt. „Hübsch siehst du aus heute Abend." „Oh, danke. Na, weißt du, Sportkleidung ist nicht bei jedem so schmeichelhaft." Er lacht, freut sich über das indirekte Kompliment. Ich hoffe, er findet auch so einen netten Freund wie sein Kumpel rechts von ihm. „Ich finde, du kannst dich auch sehen lassen in Sportklamotten", sagt Sven. Hat er gerade die Augenbrauen hochgezogen, oder bilde ich mir das nur ein? „Pfft!", mache ich. „Doch doch", sagt er. „Da kann man wirklich schon zwei mal hinschauen. Und die enge Sporthose, die du heute anhattest ..." Flirtet er mit mir? „... da musste ich schon kurz meine Vitalfunktionen überprüfen! Puh!" „Ja äh. In deinem Alter ist's schon besser, du kontrollierst die auch regelmäßig", sage ich und bin irritiert. Sven geht kurz auf die Toilette. Ich packe Carmen am Arm und ziehe sie kurz zur Seite: „Carmen, bitte sag mir, dass Sven schwul ist!", flüstere ich ihr ins Ohr. „Alex meinst du. Wieso?", antwortet sie viel zu laut. „Weil ... weil seine Freunde schwul sind und da dachte ich, ich dachte ... CARMEN! Er ist doch schwul?" Sie lacht laut auf. Ich schaue sie böse an. „Sorry", sagt sie und zuckt mit den Achseln, „aber davon ist er ganz weit entfernt." Ich merke, wie mir alles aus dem Gesicht fällt. „Bist du dir sicher ...?" "Paula, er kommt seit Jahren in den Klönschnack. Ich kenne die ganzen Geschichten von seiner Exfreundin." "Exfreundin?!" "Ja, wie sie ihn betrogen hat. Aber aufs Übelste." Carmen meint das ernst. Sie verzieht keine Miene. Erst als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt, fängt sie laut an zu lachen. Svens Freunde, die gerade sehr in ihr Gespräch vertieft waren, schrecken auf. „Du machst ein Gesicht wie ein Pferd, Paula. Hahaha. Oh Gott, sieht das lustig aus. Komm, komm! Du brauchst noch einen Schnaps." Sie tätschelt meine Schulter, als wäre ich tatsächlich ein Pferd. In dem Moment kommt Sven von der Toilette zurück. „Zeit für einen Schnaahaaaps!", trällert sein Kumpel ihm ins Ohr. Er nickt nur. Und als Carmen die Schnäpse eingeschenkt hat, schaut er mir beim Zuprosten tief in die Augen. Ich glaube, ich werde knallrot. Gut, dass das Licht hier so schlecht ist. Ich will, dass er wieder schwul ist. Es hätte so schön sein können. Nun bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn wieder nicht zu mögen. Auch wenn er offensichtlich so betrunken ist, dass er mich unermüdlich angräbt. Klar, denke ich, er hat ja auch keine andere Option, zumindest gerade, vor Ort jetzt. Carmen ist vergeben und Rami scheint er dann ja auch zu kennen, wenn er ein langjähriger Klönschnack-Kunde ist. Und es ist mittlerweile so spät, dass nicht mehr mit besonders vielen Gästen zu rechnen ist. Zwei Männer mittleren Alters stehen mit jeweils einer Flasche Bier an der Jukebox und spielen einen deutschen Schlager nach dem anderen an. Ansonsten ist das Nachtlicht leer – abgesehen von Carmen, den Jungs und mir. Ich bin in Gedanken, als einer von Svens Kumpels zu Carmen sagt: „Alles klar, dann lass uns los." Sie wollen sich zu dritt ein Taxi teilen, die beiden wohnen wie Carmen in Altona. Sven doch eigentlich auch? „Wo musst du hin?", frage ich ihn. „Na, zu dir!", sagt er. „Ähm. Nein?!", patze ich ihn an. Er lacht nur. Warum verdammt noch mal lacht er? „Tschüüüüss", Carmen und Svens Kumpels winken uns noch einmal zu. Nein, will ich schreien. Neiiiin, Carmen, lass mich nicht hier zurück, aber sie ist zu betrunken und viel zu schnell durch die Tür. Ich seufze. „Also, mal im Ernst ... wo musst du hin?", frage ich noch einmal. „Nach Bahrenfeld", sagt Sven. "Okay, ... ich auch. Also, wir nehmen gleich auch ein Taxi. Ich sag kurz den Herren Bescheid, dass wir schließen." Das mache ich auch, dann räume ich die letzten Flaschen weg und schmeiße die Schnapsgläser in die Spüle. Er grinst mich über den Tresen an und zieht eine Augenbraue hoch. „Was?!", frage ich ihn. „Ich wohne gar nicht in Bahrenfeld. Du aber schon, hihi." Ich stöhne laut. „Sven, ganz im Ernst: Wenn du meinst, du musst heute noch so dringend einen wegstecken, dann ruf doch eine von deinen Notfallkontakten an, hm. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du keine Anwärterinnen auf der Liste hast." Er wirkt kurz tatsächlich etwas vor den Kopf gestoßen. Die Wahrheit ist nun mal hart, denke ich. Dann sammelt er sich und sagt: „Notfallkontakte? Dein Ernst? Du denkst, ich bin so einer?" „Äh. Hast du mal in den Spiegel geguckt? Klar denke ich das." Unbeeindruckt spüle ich ein paar letzte Schnapsgläser. Er schüttelt den Kopf und sieht fast ein bisschen traurig aus, so aus dem Augenwinkel heraus. Ich schaue von der Spüle auf und merke, dass mein Puls auf einmal in die Höhe schießt. Was sage ich da eigentlich für gemeine Dinge zu ihm? Und wieso? Er lässt die Schultern hängen. „Entschuldige", sage ich und mein Herz pocht in meiner Brust. Die Rollen sind hier gerade komplett falsch verteilt. Der oberflächliche Mensch, der andere nach ihrem Äußeren beurteilt und sie dann in eine Schublade einsortiert, der bin auf einmal ich. Ich mache mit ihm genau das, was andere Leute mein Leben lang mit mir gemacht haben. Das sage ich ihm auch. „Es tut mir leid, Sven." „Alex", sagt er. „Es tut mir auch leid, dass ich deinen Namen nicht auf die Reihe kriege. Ich habe eigentlich gar kein schlechtes Namensgedächtnis." „Es sind also nur die Namen von Fitnesstrainern, die du dir nicht merken kannst?" „Hm, nein, nicht mal das. Ich kann mir nur deinen Namen nicht merken." Er grinst, ganz unerwartet. „Solange du mich Sven nennst und nicht ... Jochen oder so." „Oder Eberhard." „Oder Vitali." „Vitali würde auch zu dir passen." „Weil ich so vital bin?" „Genau!" Er lacht. „Ich trinke eigentlich auch gar keinen Schnaps." „Nein?" „Nein." „Und Bier?" „Nein." „Nein?!" „Nur Eiweiß-Shakes." „Pha!" „Okay, okay. Das war ein Scherz. Ich trinke Bier." „Gottseidank. Ich hatte schon kurz Angst, dass ich dich ins Krankenhaus bringen muss. Damit die deine Vitalfunktionen überprüfen." „Das sollten die eh." Er sieht mir etwas zu lange in die Augen und kommt immer näher. Ich drehe den Kopf weg. „Ich kann das nicht", sage ich. „Es liegt ... gar nicht an dir, also, wahrscheinlich nicht. Eher an meinem Ex, der gar nicht mein Ex war, meiner Kündigung, der angeblichen Schwangerschaft und an dem Mord an Carmens Mutter. Ein wenig sicher auch an Clausen und den 11 fetten Frauen, die wir zur Zeit verhören ... und ehrlich gesagt fühle ich mich ein bisschen wie DJ Dumpfbacke gerade." Er schaut mich erstaunt an. „Ooo-kay. Also, Paula, das ist zu viel Transferleistung für meinen Pegel. Vielleicht erzählst du mir das alles ganz in Ruhe?" „Jetzt?" „Klar." „Bei ... mir?" Er grinst doof. „Ich hab auch keine andere Wahl. In der Zwischenzeit hab ich 25 Notfallkontakte angeschrieben und keine von ihnen hat Zeit. Nötig hätt ich's jetzt aber schon." „Pha", mache ich. „Bekleidet natürlich!" „Natürlich, bekleidet. Komm!" Wir nehmen wirklich ein Taxi zu mir. Schon auf der Fahrt sprudeln die Worte nur so aus mir raus. Sven ist ein guter Zuhörer, vielleicht auch gerade, weil er insgesamt nicht so viel von sich preisgibt. Das fällt mir zwar auf, ich spreche es aber nicht an. Ich will ohnehin sowieso lieber selbst reden – und zwar ohne Punkt und Komma. Wir liegen in Klamotten auf meinem Bett und ich erzähle von Maria, meiner Jugend auf dem Land, meiner stets bevorzugten kleinen Schwester, meiner unvollendeten Karriere in der Kita, dem sinnbefreiten Kreativ-Studium, meinem egozentrischen Agentur-Chef, Said, meinem Goldfisch Waldi und dessen Beisetzung, von der Katzenfrau und schlussendlich von Clausen und seiner Vorstellung von einem guten Kartoffelsalat. „Dass man überhaupt Salat zu Kartoffeln in Mayo sagt. Das verstehe ich nicht. Aber ist es nun eine Beleidigung oder ein Kompliment? Salat ist ja nicht von sich aus besser, gesünder vielleicht, aber das muss ja nichts heißen." Dann schlafe ich ein. Als ich aufwache, ist Sven verschwunden. Ich seufze, bin irgendwie erleichtert und auch ein wenig traurig zugleich. Falls er wirklich an mir interessiert war, auf welcher Ebene auch immer, dann habe ich ihn spätestens mit meinem mehrstündigen Monolog abgeschreckt. Clausen hatte Recht: 30 Sekunden hätten vermutlich genügt. Und ich habe ihm mein Leben kurz und knapp in 30.000 wichtigen Fakten um die Ohren gehauen. Ich vergrabe meinen Kopf unter dem Kopfkissen. „Scheiße", murmle ich. „So eine Scheiße." Da höre ich eine Stimme. „Paula, du bist ja wach! Möchtest du auch einen frisch gepressten O-Saft?" „Nein, Kaffee", murmle ich und ziehe das Kopfkissen langsam von meinem Kopf. Da steht er tatsächlich in meiner Tür, strahlend wie eh und je mit einem Glas O-Saft in der Hand. „Vitali. Lass den Quatsch und mach mir Kaffee." Er lacht. „Probier halt wenigstens. Ich war extra beim Kiosk." Er stellt das Glas auf dem Nachttisch ab und hoppelt energetisch wieder in die Küche, wo ich nun die Kaffeemaschine höre. Ich schaue auf die Uhr. Erst 11 Uhr. Was stimmt nur nicht mit ihm? Wir waren doch mindestens bis 6 Uhr wach. Ich seufze, probiere den Orangensaft und verschlucke mich. „Vitaminschock?", er kommt mit einer Tasse Kaffee um dich Ecke, setzt sich zu mir aufs Bett und klopft mir auf den Rücken, bis ich mich beruhigt habe. „Hm, scheint so", brumme ich. „Gib mir lieber den Kaffee ... warum bist du eigentlich schon wach?" Er legt sich neben mich und streckt sich. „Ich muss um 12 Uhr arbeiten." „Igitt." „Ja, ich weiß." „Ich muss um 14 Uhr zu meiner Schwester. Ich glaube, ich sag ab." „Hm. Das klingt nach Luxus." „Kannst du nicht deine Schicht tauschen oder so was?" „Hab ich schon", sagt er kleinlaut. „Eigentlich hab ich am Wochenende immer die frühen Schichten." "Argh. Warum?", frage ich. "Na ja. Weil meine Angestellten die nicht unbedingt gern machen und ich mir Mühe gebe, ein guter Chef zu sein." "Du bist der Chef von dem Laden?" "Hätte ich euch sonst eine Gratis-Mitgliedschaft schenken können?" "Hm. Okay, macht Sinn." Ich bin schon ein bisschen beeindruckt, stelle den Kaffee ab und lege mich ebenfalls wieder hin. So als Untätige, die ihren Nachmittagstermin aus alkoholischen Gründen absagen wird, neben einem trainierten, hart-arbeitenden Founder-Typen zu liegen – irgendwie unangenehm. „Hast du gar keinen Kater?" frage ich ihn. Er dreht sein Gesicht zu mir, weil er merkt, dass ich ihn anstarre. Ich habe bei ihm ein paar kleine Lachfalten entdeckt, an denen ich mich aufhänge. Er hat Falten! Ha! „Doch, und wie." Seine Augen sind recht trüb, einige Äderchen sind geplatzt, er hat tatsächlich Augenringe und ... Poren. Eindeutig ein echter Mensch und keine Alien-Invasion, wie zuerst befürchtet. „Warum leidest du gar nicht?", frage ich ihn. „Hm?", macht er. „Na, du wirkst ganz zufrieden." „Bin ich auch ... also, mal abgesehen von den Kopfschmerzen." „Hast du auch so einen fiesen Schädel? Au ...", ich reibe mir eine Schläfe. „Ja. Verdammter Jägermeister. Aber weißt du, eine Frau hat mal zu mir gesagt, sie hätte kein Mitleid für Menschen mit geringem Körperfettanteil", er grinst. „Darum jammere ich lieber nicht." „Ha-ha", mache ich und bin zugegeben amüsiert. Verbal bewaffnet ist er ja – und auch ein bisschen charmant. „Ich hab übrigens nachgedacht", sagt er. Jetzt kommt's, denke ich, aber er spricht weiter: „Dieser Zeuge Jehovas, der bei Maria war. Der ist eigentlich eure beste Chance, also, euer einziger Verdächtiger! Und ihr müsst mit Nilüfer sprechen. Wobei ich irgendwie nicht glaube, dass jemand aus der Rommé-Runde Maria vom Balkon schubsen würde. Aber das ist natürlich nur so ein Gefühl." „Du weißt noch, was ich dir erzählt habe letzte Nacht?", ich ziehe ungläubig eine Augenbraue hoch. „Jedes Wort." „Es waren ziemlich viele Wort." „Das stimmt." „Willst du nicht ... vielleicht mal was über dich erzählen? Also, weil, ich fühl mich schon ein bisschen schuldig, dass ich dich einfach so zugetextet hab." „Nein. Alles gut." „Also, du kannst aber gern auch was über dich erzählen, ich höre gar nicht so schlecht zu, wie es rüber kommt", biete ich an. Er lächelt. „Danke, Paula. Vielleicht komm ich irgendwann darauf zurück." Wir liegen eine Weile schweigend nebeneinander. Dann streichelt er mir über den Arm und sagt: „So, ich muss jetzt zur Arbeit. Es wäre doch ganz nett von mir, ich würde vorher duschen und mir etwas anderes anziehen." Er riecht an seinem Pullover und verzieht das Gesicht. Das Nachtlicht ist eine Raucherkneipe. Ich lache. „Was sollen sonst die Leute in der Gymeinde denken? Du hast immerhin eine Vorbildfunktion!" Er schaut mich gewollt genervt an. „Du kannst dir vorstellen, mit wie wenig Spaß das meistens verbunden ist." „Ach komm! Heut gönnst du dir einen Eiweiß-Shake mit Geschmack - Erdbeere oder so. Und dann wird das schon!" Er schubst mich von sich weg, ich lache. Dann steht er auf und sagt: „Bis bald, Paula! Erhol dich noch gut.", und schon ist er durch die Tür. Ich sehe ihn vor meinem inneren Auge am Empfang der Gymeinde stehen, wie er schlecht gelaunt am Erdbeer-Eiweiß-Shake nippt und muss noch immer ein bisschen vor mich hin kichern. Sven, nein, Alex. Mein neuer Hetero-Kumpel. Ich nehme O-Saft und Kaffee mit und setze mich auf den Balkon, wo ich eine Zigarette nach der anderen rauche und dabei hin- und her überlege, ob ich meiner Schwester tatsächlich absagen soll. Dann rufe ich sie einfach mal an. Schlussendlich einigen wir uns darauf, dass sie Mutti einfach mit ins Auto lädt und mit ihr zu mir nach Hamburg fährt. „Soll doch Tante Lotte meine Steuer machen, die hat doch sowieso immer Langeweile", sagt meine Schwester. „Ich hab eine Torte gemacht. Und später können wir ja noch was zu Essen bestellen, das geht bei dir in der Stadt eh viel besser als bei uns hier auf dem Land." Essen, das ist das Lieblingsthema meiner Familie. „Okay", sage ich. „Aber dafür musst du mir auch alles von diesem Sven erzählen", fordert meine Schwester. Ich knurre in die Leitung. Ich brauchte einen Vorwand, um nicht aufs Land fahren zu müssen und habe von meiner kurzen alkoholhaltigen Nacht mit Mann erzählt. „Paula! Du weißt, dass ich schon so lange verheiratet bin, dass es von mir einfach keine neuen Männergeschichten gibt – außer die von Heiner. Und die sind meistens stinklangweilig, es sei denn, er hat gesoffen, rofl. Also tu mir doch bitte den Gefallen!" Ich seufze laut. Ich will meiner Schwester nicht von Sven erzählen. Auch nicht von Nico, nicht von Ferdi, und erst recht nicht von Said. „Okay, ich mach mich dann mal fertig. Bussi, bis später! Tschüsschen!", und schon hat sie aufgelegt. Meine Schwester. Rofl, denke ich. Jetzt sieht sie sicher schon, ganz in alter Dorfmanier, Sven und mich vorm Traualtar stehen. Dabei sind wir gerade erst seit fünf Minuten Freunde – und auch generell überhaupt nicht mehr als das. Etwas genervt und ziemlich verklatscht stelle ich mich unter die Dusche und hoffe, dass das kalte Wasser meinen Kater weg wäscht.

 
 
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