Hungern für die Liebe

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Mein Geburtstag in der Klinik

Dienstag, der 05.12.2000

Hallo liebes Tagebuch!

Toll. Heute ist mein Geburtstag.

Heute Morgen, als ich gewogen wurde, ist es 34,8 kg geblieben.

Das heißt eigentlich Bettruhe – die habe ich aber nicht.

Die Schwestern haben das, glaube ich, nicht bemerkt oder wegen meinem Geburtstag »übersehen«.

Ich glaube, Mutti hat heute Morgen angerufen. Weil: Eine Schwester sollte von Mutti fragen, ob sie mich besuchen dürfen. Ich habe zur Schwester gesagt: »Ja!«, und dann hat sie Mutti Bescheid gesagt.

Ich hatte doch erst am Anfang gesagt, sie sollen mich nicht besuchen, aber ich glaube, das kann ich auch nicht. Wenn ich sie gar nicht sehe, halte ich es auch nicht aus.

Nur wenn ich sie sehe, ist das Heimweh doch so groß. Ich hoffe, sie kommen, ich vermisse sie doch so. Hauptsache, mein Wunsch geht in Erfüllung. Sie sollen mich mitnehmen. BITTE.

Wenn man diese Worte liest, möchte man sich nicht vorstellen, was es für Gefühle hervorruft, wenn der Wunsch nicht in Erfüllung geht. Wenn der letzte »Strohhalm« wegbricht.

Wäre es ein Märchen, dann würde ich diesem Kind – mir früher – die Hand reichen, es umarmen und mitnehmen, ihm Liebe schenken und mit ihm das Essen üben. Ich würde es befreien.

Doch es war eben kein Märchen – es war Realität.

Sprachlos.

Ich wartete auf meine Familie und schrieb:

Bis jetzt sind sie noch nicht da. Ich werde bald verrückt. Ich vermisse sie so sehr. Vorhin war ich bei einer Therapiegruppe zur Entspannung, da habe ich heimlich geweint, weil ich so an sie denken musste. Ich weine bestimmt, wenn sie kommen.

Ich schreibe heute Abend noch mal ein. Jetzt ist es 13.20 Uhr. Wünsche mir Glück. Ich möchte nach Hause.

Ich hätte nie gedacht, dass ich meinen Geburtstag hier verbringen muss. Ich habe Angst und bin aufgeregt, sie zu sehen. Bis dann.

Nach dem Besuch meiner Familie schrieb ich wieder in mein Tagebuch.

Mutti, Papa und Marleen waren hier. Ich habe solche Angst gehabt, dass sie nicht kommen. Mitgenommen haben sie mich nicht. Sie haben gesagt, wenn es mit mir klappt, dann holen sie mich. Papa hat gesagt, wenn ich 45 kg wiege, soll ich ihm Bescheid sagen, er fährt dann sofort los und holt mich hier raus – auch wenn es in der Nacht ist.

Nach 17 Uhr sind sie gekommen. Ich war im Fernsehen und mir wurde im Fernsehen mit Foto gratuliert. Das hat meine liebe Oma für mich organisiert. Im Fernsehen …

Ich musste heute den ganzen Tag weinen. So einen schrecklichen Geburtstag hatte ich noch nie. Mutti und Vati waren zwischendurch eine Stunde weg. Sie waren zum Elterngespräch mit anderen Eltern, wo die Kinder auch magersüchtig sind.

Ich war mit Marleen alleine. Beim Abendbrotessen war sie dabei.

Als Mutti, Vati und Marleen losgegangen sind, habe ich nicht mehr geweint.

Sie haben mich aufgebaut. Jetzt will ich auch, dass ich das schaffe mit Weihnachten. Mutti und Vati haben gesagt, ich muss das jetzt hier einmal richtig durchziehen, und dann muss ich hier nicht noch mal her.

Ich schreibe morgen mehr ein, was ich heute bekommen habe und was mir noch zu heute einfällt.

Ich habe morgen bestimmt Bettruhe, weil ich heute so viel Kummer hatte und geweint habe. Das macht einem zu schaffen und da nimmt man schnell ab. Ich hoffe aber nicht!

Nachdem ich diese letzten Zeilen meines Tagebuches abgeschrieben hatte, setzte ich mich am Abend mit meiner Mutter zusammen. Mir brannte die Frage unter den Nägeln, warum sie mich damals nicht doch noch nach Hause geholt hatten. Es wurmte mich und ich wollte sie gerne fragen, wie es ihr und meinem Vater in der Zeit ging. Ich war in der Klinik und konnte nur anhand kurzer Besuche einen Einblick in deren Leben zu Hause gewinnen, weshalb mich auch die andere Seite der Medaille interessierte, um einen vollständigen Eindruck zu gewinnen.

Meine Mutti erzählte mir, dass für sie, meinen Vater und meine Schwester zu Hause die Welt zusammenbrach. Marleen verstand nicht, warum unsere Eltern mich einfach wegbrachten. Sie vermisste mich und war mehr als sauer. Sie machte auf ihre eigene Art und Weise Stress in der Hoffnung, unsere Eltern würden ihre Meinung ändern.

Wie ich nun weiß, wollten meine Eltern mir mit dem Klinikaufenthalt eine direkte Einweisung ins Krankenhaus sowie künstliche Ernährung ersparen. Sie konnten nichts mehr tun. Bei dem Gewicht war jeden Augenblick damit zu rechnen, dass ich einen Kreislaufkollaps erlitt und dass ich danach vielleicht nicht mehr wach werden würde.

Meine Mutter meinte, es sei das Schlimmste, wenn man sein Kind am vollen Essenstisch verhungern sieht. Sie und mein Vater wussten sich keinen anderen Rat und es ging einfach nicht mehr anders, als mich in eine Klinik zu geben. Wir hatten es lange genug zu Hause probiert, doch ich hatte nicht essen wollen.

Als ich schließlich in die Klinik kam, wäre die erste Maßnahme die künstliche Ernährung gewesen. Meine Eltern setzten sich jedoch immer wieder dafür ein, dass mir dies erspart blieb. Heute bin ich dankbar dafür, denn diese schlimme Zeit und die Unachtsamkeit, mit der man zunehmen musste, war schlimm genug. Meine Seele litt. Körper und Geist waren nicht im Einklang. Künstliche Ernährung wäre so schrecklich gewesen! Flüssigkeitszufuhr entgegen dem eigenen Willen. Gefühlsmäßig geht das fast gar nicht. Man wird vollkommen »gebrochen«. Die Seele schreit.

Was das Gefühl betraf, kam es in meinem Innern zu einem Bruch. Zu diesem Zeitpunkt war nicht mehr ich der Entscheider in meinem Leben. In der Klinik wurden die Entscheidungen von anderen gefällt, und daran musste ich mich halten. Sicher ging es den anderen Patienten nicht anders. Ob wir dort nun freiwillig waren oder nicht, wir mussten das vorgegebene Leben »mitspielen«. Ich glaube, dass die meisten Patienten unfreiwillig dort waren. Es war eine Notstation, so gut wie jeder akute Fall kam hierher. Von Drogenabsturz bis Psychosen, Epilepsie und vielem mehr. Alles durcheinander auf einer »Kinderstation«. Kinderstation hieß: bis 21 Jahre.

Ich fühlte mich hilflos und ausgeliefert. Wie in einem falschen Film. Und ich wusste nicht, wie lange dieser Film wohl gehen mochte. Mein Wille – mein Innerstes – wurde »gebrochen«. Ich handelte entgegen meinem Selbst.

Mir blieb nichts anderes übrig, als das Leben, das mir hier vordiktiert wurde, zu leben. In einer solchen Situation wird einem die Autonomie entzogen.

Am Tag nach meinem Geburtstag schrieb ich wieder in das Tagebuch:

Mittwoch, der 06.12.2000

Ich habe Bettruhe. Heute Morgen habe ich 34,7 kg gewogen. Ich muss jetzt hier einschreiben, denn ich bin schon wieder fast am Weinen. Ich vermisse sie so.

Ich sage mir aber jetzt, dass sie nächste Woche wiederkommen, und darauf freue ich mich schon.

So muss ich das sehen, es ist aber gar nicht so leicht. Es fällt mir sehr schwer. Ich habe sie alle lieb. Das ist mir hier drinnen alles noch mehr bewusst geworden. Jetzt sehe ich auch, dass sie sich Sorgen gemacht haben. Papa und Mama sahen gestern ganz schlecht aus. Vor allen Dingen Papa, ich habe ihn noch nie so gesehen und ich habe bemerkt, dass er geweint hat. Das habe ich erst ein einziges Mal in meinem Leben gesehen, und das war, als seine Oma gestorben ist. Papa sah auch ganz rot und irgendwie komisch im Gesicht aus.

Ach, wir leiden alle darunter, glaube ich.

Marleen auch, ich hoffe, dass sie keine bleibenden Schäden hat – psychisch oder schulisch. Das glaube ich aber nicht.

Wenn das hier alles vorbei ist, dann müssen wir alle zusammen eine Therapie machen. Das hat der Arzt gesagt, denn Marleen leidet mit. Sie hat auch gestern probiert, Mutti und Vati zu überreden, dass ich nach Hause kann. Aber das hat nicht geklappt. Sie hat auch geweint.

Sie hat mir erzählt, dass Tante Andrea geweint hat und meine Lieblingsoma. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, dass Tante Andrea geweint hat.

Marleen hat auch erzählt, dass eine Freundin aus der Schule, mit der ich gerne Zeit verbracht habe, angerufen hat. Mutti hat ihr erzählt, dass ich zur Kur bin.

Meine andere Freundin, mit der ich am meisten zu tun hatte, hat noch nicht einmal gefragt, wie es mir geht, oder Hausaufgaben gebracht. Nichts.

Das hätte ich mir denken können, sie weiß ganz genau Bescheid.

Ich war immer schon ein sensibler Mensch, und bereits damals konnte ich feststellen, dass die Welt nicht nur aus guten Handlungen bestand.

Ich hatte eine gute Freundin, die in dem Dorf wohnte, in dem ich zur Schule ging. Ich erinnere mich, dass ich gerne mit ihr zusammen war. Als dann im Übergang von der 6. zur 7. Klasse der Schulwechsel kam, gingen auch unsere Wege teilweise auseinander. Sie kam auf eine andere Schule als ich, was es schwieriger machte, uns zu treffen.

Da ich in einem Dorf wohnte und sie in einem anderen, blieb uns nur der Schulbus, der bis 17 Uhr fuhr. Oder unsere Eltern fuhren uns, damit wir uns besuchen oder gemeinsam etwas unternehmen konnten. Mit dem Fahrrad war die Strecke zu weit. Abgesehen davon entwickelte es sich so, dass der Schulstress Zeitdruck mit sich brachte.

 

An der neuen Schule fühlte ich mich nicht wohl. Ich wurde gehänselt und als blöd hingestellt. Die anderen Schüler lästerten hinter meinem Rücken und machten sich lustig über mich. Zu dieser Zeit umgab ich mich mit einer Freundin, die ordentlich »mitrührte«. Sie kannte mich schon lange und wusste viel von mir, weshalb sie »Futter« hatte, das sie gegen mich verwenden konnte. Traurig, aber wahr. Junge Leute können schrecklich gemein zueinander sein.

Es waren viele unschöne Gefühle, die all dies in mir auslösten. Ich fühlte mich dumm, schlecht, hässlich, unter Druck gesetzt. Mir wurde keine Freude gegönnt und ich konnte mich niemandem anvertrauen. Die einzige Person, eine Bekannte, der ich etwas erzählte, verwendete es gegen mich. Bis ich irgendwann nichts mehr sagte und so gut es ging für mich war.

Meine Mitschüler auf dem angesehenen Gymnasium waren »scheinbar« gebildet und stellten etwas »ganz Besonderes« dar. Menschlich gesehen waren sie oberflächlich und gehässig. Tatsächlich gab es hier nur wenige Schüler, die mit herausragenden Leistungen glänzten. Bei einigen Mitschülern waren es die Kontakte der Eltern, die es ihnen ermöglichten, die Schule zu besuchen.

Bei mir waren es die Leistungen. Mein Wesen jedoch passte überhaupt nicht hierher. Der Schein trog. Guter Ruf und kaum etwas dahinter.

Aus heutiger Perspektive würde ich die Schule wechseln, mich diesem Umfeld nicht mehr aussetzen. Damals sah ich diese Möglichkeit nicht. Für mich gab es nur eines: Ich musste da durch! Musste es ertragen. Es gehörte eben dazu.

Und irgendwann begann ich zu glauben, dass ich so war, wie sie mich hinstellten: dumm, hässlich, blöd, nichts wert, einfach überflüssig. Sie wollten mich weghaben. Und ich wollte gehen. Nur für mich sein. Weg. Nur ich. Niemand sollte in meiner Nähe sein, der mir wehtat und der mich schlechtmachte. Ich wollte nichts als meine Ruhe haben.

Irgendwie glaube ich, dass ich nur für Mutti, Vati … zunehme. Ich weiß nicht genau, ob der Wille da ist. Ich weiß es einfach nicht.

Ein Teil von mir glaubt es aber doch, denn ich möchte hier zu Weihnachten raus sein.

Und genau das ist auch irgendwie der Punkt.

Ist ja jetzt auch egal, für wen ich das mache. Ich weiß nur, dass ich hier raus möchte, und dann schaffe ich das schon.

Es ist zu erkennen, dass eine Gewichtszunahme nur unter Druck möglich war. Sie geschah nicht von innen heraus.

Ich verstand nicht, so glaube ich heute, weshalb ich zunehmen sollte, außer um aus der Klinik zu kommen. Nach Hause. Zu meiner Familie.

Für mich selbst war es nicht. Ich hatte mich längst aufgegeben. Ich aß aus Liebe zu meinen Eltern und meiner Schwester.

Nicht für mich.

Ich ging sozusagen über mich selbst hinweg. Über meine Bedürfnisse, über meine Gefühle – über mich.

Die Hauptsache für mich war: Raus da, egal wie! Eine Wahl hatte ich nicht mehr außer Bettruhe und künstlicher Ernährung, und das wollte ich definitiv nicht. Lieber sterben als das!

Vielleicht kann ich mich ja überwinden und zu Hause anrufen, denn zwei Mal in der Woche darf ich, und ich habe noch nicht angerufen.

Gestern, als Mutti, Vati und Marleen losgehen wollten, habe ich ihnen gesagt, dass sie mir nächstes Mal was für zwischendurch zum Knabbern mitbringen. Schokolade oder so.

Sie haben sich gewundert, und da habe ich ihnen erzählt, dass es hier oft Pudding oder Lebensmittel mit Pudding drin gibt. Und sie wissen, dass ich Pudding schon, seit ich ein kleines Kind bin, nicht esse.

Das hat die eine Schwester mitbekommen und Papa hat sie gefragt, ob man dann etwas anderes haben kann.

Sie hat gesagt: »Ja, man muss es nur sagen.«

Papa hat zu mir gesagt, das soll ich dann immer machen. Dabei habe ich gefragt, und sie haben mir nichts anderes gegeben! Heute beim Kaffee schon wieder. Sie meinten, sie haben keinen anderen Kuchen und so weiter, dabei hatten Sie doch anderen!

Ich habe mich dann überwunden und habe den gegessen (ist doch gut). Jetzt haben die Schwestern wieder etwas Neues zum Tratschen und Hochziehen.

Immer müssen diese ollen Weiber lästern.

Das sage ich auch beim nächsten Mal Mutti und Vati.

Aus kindlicher Sicht super ausgedrückt, wie ich finde. Während ich das schreibe, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Ich kann mich daran erinnern, dass auch im Krankenhaus hinter dem Rücken der Patienten geredet wurde. Das war schlimm! So etwas scheint Standard geworden zu sein, ist aber absolut fehl am Platze.

Menschen in Psychiatrien, Altenheimen oder Krankenhäusern sind nicht dumm. Und sie merken mehr, als man annehmen mag. Während der Zeit, die sie dort verbringen, benötigen Sie Hilfe von außen.

Völlig legitim. Jeder von uns kann in eine solche Situation geraten. Und ich wünsche jedem, der auf Hilfe angewiesen ist, das Beste und einen wertschätzenden Umgang zwischen Helfenden und Hilfebedürftigen.

Dieses Thema regt vielleicht den ein oder anderen meiner Leser zum Nachdenken an. Oder auch nicht. Beides ist vollkommen in Ordnung, denn wir sind Menschen, und wären wir vollkommen, wären wir nicht hier.

Da war eine ganz aufmerksame Art in meinem Wesen, die mir auch heute noch innewohnt, weshalb ich es regelrecht fühlen kann, wenn andere über mich reden. Vielleicht nicht immer schön für die anderen, aber gut für mich.

Heute nehme ich es wahr und ordne es für mich ein. Ich spreche diejenigen an oder ziehe Schlüsse daraus und sehe mir an, aus welchen Gründen sie abwertende, unpersönliche Dinge sagen. Das Verstehen des anderen bringt meistens Klärung und ich kann loslassen.

Mittlerweile ist es jedoch so, dass die Menschen, mit denen ich mich umgebe, solche Verhaltensweisen nicht an den Tag legen. Bei allen anderen, also bei denjenigen, die ich mir nicht aussuchen kann, ist es eben manchmal so, dass sie negativ reden. Ich registriere das. Anschließend überlege ich mir, wie ich damit umgehe, und stelle fest, was ich fühle. Natürlich nehme ich mir auch heute noch manches zu Herzen, aber ich reflektiere es, um damit abschließen zu können.

Heute habe ich an Papas Worte gedacht und habe einfach gegessen. Egal ob es geschmeckt hat oder nicht.

Ach Mann, ich möchte nach Hause. Heute ist Nikolaus!

Wir haben von der Station einen Spekulatius, einen kleinen Weihnachtsmann, zwei Mandarinen und einmal Marzipankartoffeln bekommen. Den Spekulatius habe ich heute schon gegessen – zu dem komischen Puddingkuchen. Morgen früh werde ich ja sehen, ob sich etwas auf der Waage getan hat.

Wieder schleicht sich mir ein kleines Grinsen ins Gesicht, wenn ich lesen darf, dass ich nie den Blick für die kleinen Dinge verlor. Auch dort war ich dankbar für das Nikolausgeschenk und konnte es wahrnehmen. Trotz aller negativen Aspekte war es mir möglich, Positives zu sehen. Diese Eigenschaft konnte ich mir bis heute bewahren.

Heute darf Marleen ihr Nikolausgeschenk von mir aufmachen. Ich hoffe, sie freut sich darüber. Ich bin schon gespannt, was sie nächstes Mal dazu sagt. Es ist ein Armkettchen.

Mich berührt die Tatsache, dass ich meine Schwester schon damals sehr liebte. Sie war mir wertvoll und lag mir am Herzen. Bereits als kleines Kind dachte ich bei jeder Geburtstagsfeier meines Kumpels an sie. Laut Bericht seiner Mutti fragte ich jedes Mal: »Darf ich denn auch was für Marleen mitnehmen?« Süß, wie ich finde.

Heute ist unser Verhältnis nicht so eng. Da ist eine gewisse kühle Distanz. Schwer zu beschreiben. Wir sehen uns kaum, leben jedoch zurzeit nicht weit voneinander entfernt. Zwischen uns entstand irgendwann ein Bruch und ich glaube, das muss in genau dieser Zeit geschehen sein.

Ich kann für mich sagen, dass ich Marleen nach wie vor liebe. Egal was sie auf dem Herzen hätte, ich wäre für sie da.

Ich weiß, dass auch sie mich liebt. Nur eben anders.

Gerne möchte ich dir noch erzählen, was ich gestern zum Geburtstag bekommen habe. Mutti, Vati und Marleen haben mir einen Blumenstrauß und einen Luftballon (riesengroß) – wo »Happy Birthday« draufsteht und ganz viele kleine Luftballons, bunte Bändchen und das Geschenk drin sind – geschenkt.

Dann habe ich einen Weihnachtsmann mit einem Kalender (ohne Schokolade, extra an mich gedacht) von meiner Tante bekommen. Das Geschenk sollten Mama und Papa mitnehmen. Mutti hat mir erzählt, dass meine Tante mir den Weihnachtsmann schenkt, damit ich mich nicht so alleine fühle, zum Kuscheln. Der Weihnachtsmann ist auch total süß.

Ich habe von einer aus einem anderen Zimmer auch ein kleines Geschenk bekommen. In einer Serviette total süß verpackt. Einen Nagellack. Der ist so silber, lila-rot, weinrot. So wie ein Mantel, den ich in Krefeld bekommen habe. Na ja, wenn ich hier raus bin, mache ich ihn mir ran, das habe ich Marleen versprochen, und dazu soll ich dann auch den Mantel anziehen.

Den Luftballon, den Kalender und den kuscheligen Weihnachtsmann habe ich noch nicht ausgepackt. Den Weihnachtsmann und den Kalender packe ich vielleicht morgen oder am Wochenende, wenn ich traurig bin, aus.

Mit dem Luftballon warte ich noch, bis Mutti, Vati und Marleen kommen. Mutti hat mir auch noch neue Sachen geschenkt. Eine Trainingshose (schwarz und aus Filz) und einen grünen Pullover, auch aus Filz. Sie hat mir das nicht zum Geburtstag geschenkt, sondern jetzt, weil ich einen brauche. Ich sehe es aber als Geburtstagsgeschenk. War bestimmt teuer, denn der grüne Filzpullover ist von adidas.

Das alles ist nicht so wichtig und Nebensache. Ich möchte nichts Materielles, das wissen sie auch. Sie hätten mir nichts schenken müssen. Ich freue mich aber darüber, dass sie mir etwas geschenkt haben. Trotzdem.

Trotzdem, weil ich sie enttäuscht habe, und ich habe das nicht verdient. Ich will nur, dass ich nach Hause komme und sie mir verzeihen. Wenn sie mir verzeihen, dann bin ich froh.

Aber ICH werde es mir NIE verzeihen.

Ich habe sie enttäuscht und verletzt und alle mit reingezogen. Sogar Marleen. Und das ist nie wiedergutzumachen. Wenn ich zu Hause bin, möchte ich gerne meinen Geburtstag nachfeiern. Außerdem möchte ich dann meine Geburtstagspost lesen, denn die durften sie nicht mitbringen. Das war kein guter Geburtstag, ohne Familie – und dann noch Nikolaus. Es ist alles so schwer. Ich habe sie lieb.

Bis morgen.

Bei dir kann man sich gut das Herz ausschütten.

Hart und wie ein Stich ins Herz fühlt es sich an, wenn ich lese, dass ich mir selbst »nie« verzeihen wollte. Als ich gerade die Zeilen abschrieb, dachte ich: Oh, oh, das ist nicht gut, eine solche Schuld immer mit sich zu tragen.

Gleichzeitig weiß ich, wie gut es ist, dass ich dieses Buch schreibe. Gut, dass ich jetzt weiß, was ich mir damals selbst auferlegt habe. Es ist traurig, welche Schuld ich auf mich geladen habe.

Dieser Entschluss, mir nicht zu verzeihen, dass ich nicht essen konnte und damit den anderen wehtat, darf jetzt gelöst werden. Ich verzeihe mir, indem ich hier und jetzt dazu schreibe. Ich verzeihe mir, dass ich so mit meinem Körper umgegangen bin. Ich verzeihe mir, dass ich mir und anderen Menschen wehgetan habe.

Ich weiß, dass ich zu dieser Zeit nicht anders hätte handeln können. Vielleicht war das eine der Aufgaben für mich auf dieser Welt. Ich könnte diese Erfahrungen niemandem mitteilen, wenn ich das alles nicht so, wie ich es hier niederschreibe, erlebt hätte.

Was mir widerfuhr, war ein Hilfeschrei und sicher auch ein Warnschuss für meine Eltern, die Familie, Angehörige. Ich weiß nicht, was jeder Einzelne für sich daraus mitgenommen hat, was er oder sie gelernt hat, aber es wird einen Sinn gehabt haben.

Zumindest mussten wir alle aufwachen, in welcher Weise auch immer. Heute verzeihe ich mir und all den Menschen, die an der damaligen Situation beteiligt waren.

Meditation: Verzeihen

Um zu verzeihen, kannst du alte Glaubenssätze lösen, Dinge, die du dir auferlegt hast oder die dir auferlegt wurden. Dies kannst du in deinem Herzensraum mithilfe einer Meditation umsetzen. In deinem Herzensraum bist nur du. Du ganz allein bestimmst, wer in diesen Raum darf. Niemand kommt ohne deinen Willen hinein. Der Herzensraum ist ein geschützter Raum in dir. Dein Raum. Ein Ort, an dem du und dein Herz sich ausbreiten können. Egal wann und egal wo du bist, du kannst dich jederzeit in diesen Raum begeben. Dich fühlen und Dinge lösen.

 

Wenn dir alte Glaubenssätze bewusst werden, deren Zeit zu gehen gekommen ist, kannst du diese gern mit folgender Meditation lösen:

Lege oder setze dich bequem hin. Atme tief durch und schließe die Augen. Schenke dir drei ganz tiefe und bewusste Atemzüge, um hier, in dieser Position, anzukommen. Lass den Atem weiter fließen, er geht ganz regelmäßig ein und wieder aus. Fühle ihn. Fühle den Atem. Fühle, wie die Atmung einfach geschieht, wie sie ohne dein Zutun immer ein und aus geht.

Richte alle Aufmerksamkeit nach innen.

Gehe nun gedanklich in deinen Herzensraum. Wie sieht dieser Herzensraum aus?! Kannst du diesen Raum spüren?!

Angekommen im Herzensraum sage dir den entdeckten Glaubenssatz gedanklich. Sage ihn dir so lange, bis du diesen Satz fühlen kannst.

Wo fühlst du diese Worte? Fühlst du Beklemmung? Angst? Druck auf den Bauch oder den Brustkorb? Übelkeit? Unwohlsein? Fühle in dich hinein und sage dir gedanklich den Glaubenssatz, den du lösen möchtest.

Wo kannst du den Glaubenssatz spüren?

In diesen Moment, in dem du den Glaubenssatz spürst, sage dir:

»Dieser Glaubenssatz darf JETZT, hier in meinem Herzensraum, gelöst und transformiert werden. Der neue Glaubenssatz lautet (hier formulierst du den negativen Glaubenssatz so, dass er ein positiver Glaubenssatz wird – einer, der dich begleiten darf): Ich liebe mich und verzeihe mir aus tiefstem Herzen, dass ich nicht essen konnte und anderen Menschen wehgetan habe. Ich liebe mich und verzeihe mir. Dieser Glaubenssatz darf sich nun in mir ausbreiten. In tiefer Dankbarkeit.«

Gehe aus dem Herzensraum. Schließe die Tür hinter dir. Dann spüre, wie du hier sitzt oder liegst. Atme dreimal tief durch und komme ins Hier und Jetzt zurück. Öffne die Augen, und spüre in dich hinein, wie es dir nun geht.

Du bist nun ein Stück näher bei dir selbst. Fühle die Erleichterung.

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