Hungern für die Liebe

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Ich bin hier gerade im Krankenhaus. Ich kann nicht mehr. Ich vermisse Mutti, Vati, meine Schwester und meinen Kater. Ich darf keine Besuche, keine Anrufe und keinen Briefkontakt haben. Nichts.

Am Dienstag habe ich Geburtstag. Na toll!

Ich sollte eigentlich erst am Freitag hierher. Doch Mutti meinte, es hat keinen Zweck mehr, noch zu warten …

Nun bin ich schon heute hier.

Ich will hier raus. Ich kann nicht mehr. Liebe Engel, helft mir doch! Ich vermisse sie so sehr.

Der Arzt hat heute gesagt, es kann bis Februar dauern, bis ich hier raus bin. Er hat auch gesagt, dass ich einen Body Mass Index von 13 habe, und unter 17 ist es schon Magersucht und lebensbedrohlich. Er meinte, ich bin so dünn, dass ich jede Minute sterben könnte. Ich habe Angst und keiner ist hier, der mich tröstet. Ich vermisse sie alle so.

Mir laufen die Tränen, denn das bin ich, die da so um Hilfe schrie. Das tut weh. Ich war gerade noch dreizehn Jahre alt, saß in diesem Krankenhaus und wusste nicht, was mit mir geschah. Drum herum dachten sie, ich würde bald sterben, und ich stand mit meiner Angst ganz allein da.

Die Bestätigung: Wieder allein!

Ich bin froh, dass ich diese Zeit überstanden habe. Aber sie hat mich geprägt – und auch die Beziehung zu meinen Eltern. Denn mit dreizehn getrennt von allem zu sein, das konnte ich bis jetzt nicht vergessen. Ich verzeihe, aber es sitzt so tief, dass mir das Vergessen nicht gelingt.

Noch heute ist es bei mir so, dass Vertrauen mit Angst einhergeht. Angst davor, wieder allein gelassen zu werden. Dabei ist es vorbei und ich weiß: Diese Angst ist nicht mehr real. Wissen ist aber nicht Fühlen, und so lerne ich nur langsam, Stück für Stück, neu zu vertrauen. Noch heute.

Die größte Hilfe war damals meine Oma. Denn nachdem ich über Jahre in Behandlung und in verschiedenen Krankenhäusern gewesen war, zog ich zu ihr. Wir hatten eine wundervolle Zeit zusammen. Bei ihr durfte ich bedingungslose Liebe kennenlernen. Sie liebte mich unendlich und zeigte mir, dass ich vertrauen durfte und konnte. Dass ich wütend sein durfte und weinen konnte, dass ich in den Arm genommen wurde und ich nicht allein war. Dass ich gut bin, so wie ich bin. Dass ich immer geliebt werde – egal wie die äußeren Umstände sind.

Höre auf dein Herz! Unser innerster Kern zählt – nur der.

Alles andere ist vergänglich und nebensächlich.

Die Seele bleibt.

Die Zeit in der Klinik

Ich schrieb weiter:

Heute Morgen, als Mutti und Vati mich hergebracht haben, war kein Arzt hier. Wir sollten um 12.30 Uhr noch mal wiederkommen. In der Zeit war ich mit Mutti in der Nähe in Geschäften schauen. Wir haben was zum Lesen und zum Schreiben gekauft.

Dort waren total süße Figuren, und zwar kleine Schweinchen, die habe ich ihr gezeigt.

Später, als sie weg waren und ich alleine im Krankenhaus, hat mir die Schwester ein Schweinchen von Mutti gegeben. Das hat sie heimlich gekauft.

Ich will hier raus! Ich habe Angst und so weiter.

Morgen früh werde ich gewogen und dann wird ein Programm angefangen: 6 Mahlzeiten am Tag (2500 kcal). Ich muss jeden Tag 100 Gramm zunehmen.

Ich hoffe, das schaffe ich. Ich will hier raus.

Das Programm hieß »Grazer Modell«. Entsprechend dem Modell wurden am Aufnahmetag das Ist-Gewicht sowie der BMI (Body Mass Index) ermittelt. Des Weiteren wurde das Zielgewicht, das es zu erreichen galt, damit ich entlassen werden konnte, festgelegt. Darüber hinaus wurde ich täglich vor dem Frühstück – nach Blasenentleerung, worauf geachtet wurde – gewogen. In einem Diagramm wurde das tägliche Gewicht als Kurve festgehalten. Diese musste kontinuierlich steigen – bis zum Idealgewicht. Ich musste täglich 100 Gramm zunehmen. Wenn ich dies nicht schaffte, bekam ich Bettruhe verordnet. Das bedeutete, den ganzen Tag nicht bewegen. Nur im Bett liegen und in das alte, kalte Krankenzimmer schauen.

Hatte ich abgenommen oder bewegte sich mein Gewicht nicht entsprechend der geplanten Kurve, war vorgesehen, mich über eine Sonde künstlich zu ernähren.

Die Mahlzeiten durfte ich nicht zusammen mit anderen einnehmen, nein ich musste sie allein zu mir nehmen – im Bett. Das Essen wurde mir gebracht und ich hatte eine halbe Stunde Zeit, alles aufzuessen. Tat ich das nicht oder schaffte ich es nicht in der vorgegebenen Zeit, wurde das Essen wieder mitgenommen.

Harte Regeln für ein Kind. Meine Gefühle spielten da überhaupt keine Rolle. Es ging nur um Zahlen, um mein Gewicht und um die Pläne der Krankenhausleitung sowie meiner Eltern.

Mein Gewicht, was ich haben muss, sodass ich hier raus darf, wird morgen auch festgelegt. Es liegt zwischen 44 und 46 kg. Jetzt wiege ich aber nur maximal 35 kg. Noch nicht mal ganz.

Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Ich möchte doch so gerne Weihnachten nach Hause und nicht wieder hierher. Es soll alles wieder gut werden.

BITTE! Ich muss es schaffen. Das Schweinchen, die Engel und der liebe Gott müssen mir helfen. Ich will nach Hause. BITTE. Ich schreibe dir morgen.

Wie klein und liebesbedürftig ich war, sehr sensibel – verloren in der großen Welt.

Das geplante Entlassungsgewicht wurde mit den Eltern und den Therapeuten festgelegt. Ich konnte mir alles anhören und daneben sitzen – Einfluss auf das Gewicht, das als »Limit« festgelegt wurde, hatte ich jedoch nicht.

Freitag, der 01.12.2000

Hallo liebes Tagebuch!

Heute ist der 1. Dezember und Sonntag schon der 1. Advent.

Vorheriges Jahr um diese Zeit haben wir die Sonntage immer gemeinsam genossen. Zusammen alles schön geschmückt und dann in der Wohnstube im Kerzenschein gesessen. Wir alle vier.

Ich vermisse sie so. Ich will unbedingt nach Hause.

Heute Morgen hat Marleen bestimmt ihr Kalendertürchen aufgemacht.

Ich würde gerne sehen, was für einen Adventskalender sie hat. Ich hätte mir auch einen gewünscht – zu Hause. Wir haben heute hier auf Station einen Adventskalender bekommen.

Diese Zeilen verdeutlichen mein Heimweh, meine Traurigkeit, die kindliche Hilflosigkeit und die Verzweiflung, der ich ausgesetzt war. Das dreizehnjährige Mädchen, das ich zu diesem Zeitpunkt war, schien vielleicht auf den ersten Blick »erwachsen«, war aber im Herzen klein, kindlich, liebes- und hilfebedürftig. Und ist es denn nicht bei Erwachsenen, beispielsweise bei einem Vierzigjährigen, auch so? Im Inneren sind wir doch alle klein, verletzlich und sehnen uns danach, dass sich unsere Bedürfnisse erfüllen. Wie auch immer das aussehen mag, wenn man an die Lebenspartner, an Freunde oder das sonstige Umfeld denkt.

Zu diesem Zeitpunkt war ich jedoch in der Klinik, und die in mir wachsenden Bedürfnisse konnten nicht berücksichtigt werden. Die erste und wichtigste Priorität war meine Gewichtszunahme. Wie ich mich dabei fühlte, war unwichtig. Ich musste damit fertigwerden und allein einen Weg finden, das alles durchzustehen. Mir blieb also nichts anderes übrig, als schnell erwachsen zu werden. Gefühle und Bedürfnisse blieben dabei auf der Strecke und ich lernte sie zu verdrängen.

Heute haben wir mit dem Grazer Modell angefangen.

Ich wurde vor dem Frühstück gewogen (34,2 kg).

Das heißt, morgen früh muss ich 34,3 kg wiegen, sonst bekomme ich Bettruhe.

Liebes Tagebuch, ich klebe morgen das Grazer Modell auf einem Zettel hier rein, dann sieht man, wie hart die hier sind.

Ich musste heute Morgen ein Brötchen essen, was mir schon fertig auf den Tisch gestellt wurde. Ich sitze ganz alleine an einem kleinen Tisch. Die Marmelade, die ich auf dem Brötchen hatte, war so dick geschmiert … Oh Gott.

Ich habe das Brötchen nicht geschafft. Sie haben es mir weggenommen. Ich habe nur eine halbe Stunde Zeit zum Essen.

Na ja, dann so um 9.30 Uhr gab es Zwischenstück – einen Joghurt. Den habe ich geschafft, oder besser gesagt, den musste ich schaffen.

Um 11.30 Uhr gab es Mittag. Igitt, Pilzpfanne! Mit Fleisch und Pilzen in Soße und Reis, danach Kirschen. Das hat alles richtig künstlich geschmeckt.

Das habe ich natürlich auch nicht ganz geschafft. Die Kirschen habe ich aber noch essen können. Die sollte ich auch wenigstens noch essen. Anschließend haben sie mir mein Mittag dann auch noch weggenommen.

Um 14.30 Uhr gab es Kaffee. Ich dachte, ich gucke nicht richtig. Es gab eine Rolle mit Kirschen und Pudding. Natürlich mit viel Pudding – das war klar. Ich esse doch keinen Pudding.

Jetzt, wo ich diese Zeilen aus meinem Tagebuch abschreibe und mir das alles noch einmal in Erinnerung rufe, wird die Verzweiflung zum damaligen Zeitpunkt ganz deutlich.

Man könnte durchaus denken, dass die Lebensmittel, die es dort zu essen gab – und die ich nicht wollte! –, aufgrund der Essstörung von mir abgelehnt wurden. Dem ist jedoch nicht so.

Schon zu Zeiten, in denen ich in den Kindergarten ging, konnte ich einige Lebensmittel nicht essen, da sie mir sonst »postwendend« wieder hochgekommen wären. Dazu zählte und zählen noch heute Pudding und Produkte mit viel Milch wie beispielsweise Milchnudeln, Grießbrei oder auch Sauce Carbonara. Bei diesen Lebensmitteln sträuben sich mir die Haare. Heute sehe ich Nahrungsmittel als Heilmittel, je nach Qualität der Nahrung und der individuellen Konstitution eines jeden.

 

Aus diesem Thema – Lebensmittel, die einem gut bekommen, die man mag oder die einem nicht schmecken – kristallisiert sich für mich eine wichtige Sichtweise heraus. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es für viele Angehörige, Ärzte, Psychologen etc. natürlich naheliegt, gerade bei Essgestörten beziehungsweise suchtkranken Menschen von bestimmten Vorurteilen auszugehen. »Es sind immerhin Suchtkranke, und deren Glaubwürdigkeit ist oft infrage gestellt.« Zu diesem Thema wird viel gelesen, erzählt und gedacht. Wichtig ist aus meiner Sicht jedoch, vorurteilsfrei zu bleiben und jeden »kranken« Menschen individuell zu betrachten, ihm oder ihr Gehör zu schenken und ein vertretbares Maß zwischen Glauben und Hinterfragen zu finden. Aufgrund von allgemeingültigen Meinungen oder schulmedizinischen Erfahrungsberichten Essgestörte oder andere suchtkranke Menschen einzuordnen und sie zu be- oder verurteilen, halte ich für fragwürdig. Sicher finden sich Parallelen in den Krankheitsbildern, jedoch sollte dies nicht das Maß aller Dinge sein.

Vielmehr gelten Züge wie »Urteilsfreiheit, interessiertes Hinterfragen und das jeweilige individuelle Wesen für sich zu sehen« als wertvoll. Und zwar in therapeutischer Hinsicht ebenso wie im familiären Umfeld und auch für die betroffene Person selbst. All dies ist in der heutigen Zeit in viele Bereiche übertragbar. Aus meiner Sicht ist es auch sinnvoll, Menschen und Situationen individuell zu betrachten, sie zu hinterfragen und sich dann mit dem globalen Wissen einen Weg zu bahnen.

Niemand braucht schwarz-weiß zu denken – in die eine oder andere Richtung – und dann die daraus gewonnene Erkenntnis in eine geeignete »Schublade« zu drücken. Nein, denn wir haben die Freiheit, den Menschen mit seinen ganz eigenen Themen, Beweggründen und Vorlieben individuell zu sehen. Und das können wir tun!

Ich habe es probiert, es aber dann nicht gegessen. Dafür habe ich mir einfach etwas anderes genommen, was nicht erlaubt ist. Ich habe jedoch gefragt, ob ich so einen komischen anderen Kuchen mit Rosinen essen darf. Der hat ekelig süß geschmeckt, weil da purer Zucker drüber war.

Das war irgendwie alles nicht mein Fall.

Hauptsache, es gibt zum Abendbrot etwas, was man wenigstens runterbekommt.

Na ja, zu Hause schmeckt es besser.

Ich glaube, bald muss ich schon wieder Abendbrot essen. Danach dann Spätstück.

Das ist viel, was? Das sind sechs Mahlzeiten (2.500 kcal) am Tag. Schrecklich!

Hier wird klar, dass das Thema »Essen« und eine damit verbundene Angst den größten Teil meiner Gedanken einnahmen. Wann wird gegessen? Was muss gegessen werden? Ist das für mich zu schaffen?

Mich begleitete eine tiefe Abneigung gegen das Essen und im Endeffekt eine Abneigung gegen mich selbst. Eine Abneigung gegen das Leben.

Die folgenden Zeilen fühlen sich wie Widerstand, Angst und Verzweiflung an.

Morgen früh werden wir ja sehen, wie viel ich wiege. Drücke mir BITTE die Daumen für morgen früh und auch dafür, dass das Abendbrot und Spätstück erträglich sind – nicht so ekelig.

Ich will hier raus!

Ich war so jung, und ja, ich war verzweifelt und wollte mich befreien. Aber ich konnte es nicht. Das ist heute anders, jedoch hat mich diese intensive Zeit des »Eingesperrtseins« geprägt.

Heute bin ich meistens hellwach, achtsam und schaue: Komme ich hier raus? Egal wo ich bin, ich versichere mich immer wieder, dass ich irgendwo »rauskomme«.

Ich fahre weg und achte darauf, nicht in einen Stau zu geraten, bei dem es keine Umleitung gibt. Ich gehe feiern und schaue, wo der Notausgang ist. Oder ich gehe einkaufen und registriere sehr genau, wo der Ausgang ist, wo ich rausgehen darf. Egal in welcher Situation ich auch sein mag, einer der wichtigsten Gedanken für mich ist: Ich kann hier raus!

Heute bin ich, abgesehen von diesen Gedanken des Bloß-nicht-noch-maleingesperrt-Seins, bereits »frei«. Das versichere ich mir oft selbst in Form der Achtsamkeit bezüglich möglicher »Fluchtwege«.

Am folgenden Nachmittag schrieb ich folgende Zeilen:

Samstag, der 02.12.2000

Hallo liebes Tagebuch!

Als ich heute Morgen gewogen worden bin, habe ich nicht zugenommen. Jetzt habe ich den ganzen Tag Bettruhe.

Na toll. Ich bin ganz alleine hier – den ganzen Tag.

Die anderen Personen aus meinem Zimmer haben heute Tagesurlaub und dürfen nach Hause.

Mein Essen bekomme ich hier ans Bett. Das ist alles so schrecklich, ich möchte hier raus und nach Hause.

In einer Viertelstunde bekomme ich Kaffee. Hauptsache, es ist nichts mit Pudding. Hauptsache, ich esse das. Es ist wichtig, weil heute zum Mittag habe ich nicht die ganze Portion aufgegessen. Heute Morgen habe ich mein Brötchen geschafft, aber nur weil sie mich vergessen hatten und ich deshalb Zeit zum Essen hatte.

Ich hoffe, dass ich morgen keine Bettruhe habe. Morgen ist der 1. Advent und ich will nach Hause. Ich vermisse sie. Wünsche mir Glück.

Es ist erstaunlich, wie wertvoll mir mein Tagebuch war. Der einzige Gesprächspartner in dieser Zeit voller Druck, Gedanken, Ängste und Hoffen. Hoffen auf Besserung, Hoffen auf ein Wunder, das mich befreit.

1. Advent, der 03.12.2000

Heute habe ich keine Bettruhe. Als ich heute Morgen gewogen worden bin, habe ich 34,6 kg gewogen, das heißt, ich habe zugenommen. Vorher waren es 34,3 kg. Das war auch ganz schön schwer gestern. Die eine Schwester kann mich und ich sie nicht leiden.

Was Mutti, Marleen und Papa jetzt wohl machen?

Sie sitzen bestimmt mit einer Adventskerze zusammen und trinken Kaffee.

Ich bin schon fertig damit. Bei mir gab es Baumkuchen und Joghurtdrink – liegt ganz schön schwer im Bauch, aber bis zum Abendbrot ist ja noch Zeit.

Weißt du, ich habe eben wieder geweint. Ich bin hier ganz alleine und möchte so gerne nach Hause. Der Schmerz ist so groß. Ich vermisse sie so sehr und habe sie so doll lieb. Ich glaube, ich gehe hier ein. Es ist alles so schwer. Mein Herz kann bald nicht mehr.

Morgen ist Montag und am Dienstag habe ich Geburtstag. Ob sie mich besuchen kommen?

Ich habe die Regeln des Grazer Modells gelesen, dass ich 1 Mal in der Woche anrufen und 1 Mal für 2 Stunden Besuch haben darf.

Ich wünsche mir zu meinem Geburtstag, dass ich hier rauskomme.

Es tut weh und bringt ein bedrückendes Gefühl mit sich, wenn ich lese, dass ich emotional nicht mehr konnte. Wie die kleine Kinderseele von damals gelitten hat.

Wie bildlich die Worte von damals geschrieben sind: das Herz, das dann nicht mehr kann. Gott hat uns das Herz als Mittelpunkt, als Zentrale des Körpers geschenkt. Das Herz, unser zentrales Organ, ohne das kein Leben möglich ist. Wenn das Herz nicht mehr kann, dann ist es das Ende für unseren physischen Körper. Das Ende des jetzigen Lebens auf dieser Erde. Und ich schrieb damals, dass es das Ende meines Lebens wäre.

Verhungert. Verhungert an fehlender Liebe und Herzschmerz.

Das berührt mich sehr. An diesem Punkt gibt es nicht viel zu schreiben, denn egal welche Worte ich jetzt verwende, sie könnten diese Tiefe nicht widerspiegeln. Jeder, der diese Zeilen liest, kann es fühlen.

Ohne Worte …

Am selben Tag schrieb ich weiter. Mit einer Hoffnung, die mich am »Leben« hielt. Die Hoffnung, die mich an diesem Tage getragen hat.

Ich würde auch den Plan (das Grazer Modell) zu Hause durchführen. Ich weiß, dass ich das dann schaffen kann. Hier glaube ich das nicht, denn ich kann schon aus Sehnsucht und Schmerz nicht essen. Mutti und Papi müssen natürlich einstimmen. Wir können es doch probieren, jeden Morgen wiegen und so – alles nach dem Modell. Wenn irgendetwas nicht klappt, dann können sie mich doch sofort wieder herschicken.

Ich wünsche mir das zu meinem Geburtstag. Von Herzen. Hoffentlich sind Mutti und Vati dafür bereit.

Der liebe Gott, du, Diddl Maus, das Schweinchen von Mutti und alle Glücksbringer müssen mir helfen. Ich möchte es wenigstens probieren. Man kann es doch wenigstens versuchen. BITTE!

Die Weihnachtszeit ist doch jetzt, mein Geburtstag und Nikolaus, ach BITTE!

Ich glaube, es ist sehr schwer für Eltern, wenn ein Kind solche Lösungsvorschläge macht.

Ich bin keine Mutter und würde aus meinem Gefühl heraus gegen alle logischen Argumente das Kind mitnehmen und ihm eine Chance geben, das Problem zu Hause zu lösen. Eine Mutter sieht das vielleicht ganz anders. Es ist ja auch eine riesengroße Gefahr und ein Spiel mit dem Leben. Die Verantwortung der Entscheidung trägt in diesem Moment die Familie.

Es sterben circa 15 % an Magersucht, hat der Arzt zu mir gesagt, und ich bin nahe daran.

Gott ist bei uns. Bei Mami, Papi, Marleen und auch bei mir. Er hilft uns.

Ich frage mich, wie ein junges Mädchen oder auch ein erwachsener Mensch – egal wer – damit klarkommt, dass man gesagt bekommt: Du stirbst vielleicht gleich.

Ich bekomme Gänsehaut und es ist komisch ruhig. Anders.

Ich versuche nachzuvollziehen, wie man das verarbeiten kann.

Ich schätze in diesem Fall, dass da eine große kindliche Leichtigkeit war und mir das Ausmaß dessen, was Tod eigentlich bedeutet, nicht vollkommen klar war. Tod bedeutete für mich nicht zwangsläufig das Ende.

Es ist noch heute so, dass ich weiß, dass unser Körper von hier weggeht.

Das ist jedoch nicht das Lebensende. Es ist aus meiner Sicht das Ende hier in diesem Körper, aber es geht auf einer anderen Ebene weiter. Es ist völlig legitim, wenn man das anders sieht. Das hier ist die Meinung, die ich dazu vertrete.

Damals und auch heute.

Der große Unterschied zu damals ist der, dass heute Respekt vor dem Tod da ist. Achtsamkeit.

Ich kann verstehen, dass sich meine Eltern damals für diesen Weg entschieden haben. Zumindest vom Verstand her. Vom Herzen möchte ich es nicht verstehen. Ich kann nicht für sie reden, ich denke jedoch, dass die Angst um das Leben ihres Kindes, die Angst um mich, ihr Handeln bestimmte. Bestimmt fiel es ihnen alles andere als leicht.

Angesichts der Zahlen von damals – 15 Prozent! – ist es ein erschreckender Faktor und ein großes Druckmittel, wie viele Menschen aus seelischen Gründen bei uns verhungern. Verhungern in einer Gesellschaft, die alle erdenklichen Lebensmittel und Luxusgüter bereithält.

Unsere Gesellschaft hat vieles, emotional jedoch kaum etwas zu bieten. Alles Materielle ist gegeben, aber wenig von dem, was die Seele des Menschen nährt. Mit steigendem Materialismus fällt die emotionale Fürsorge. Man kann alles haben, es kann einem an nichts mangeln, und doch kann man in der Tiefe seines Geistes einsam und allein, traurig, gebrochen oder hilflos sein.

In einer Gesellschaft, in der scheinbar genügend Nahrung zur Verfügung steht, starben schon zum damaligen Zeitpunkt 15 Prozent der an Magersucht Erkrankten. Die heutige Recherche ergab, dass in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Menschen, die an Magersucht sterben, um 30 Prozent gestiegen ist. 1,1 Prozent der Frauen und 0,3 Prozent der Männer in den westeuropäischen Ländern sind an Magersucht erkrankt. Das sind die offiziellen Zahlen. Hinzu kommen Menschen, die nicht behandelt werden, die nicht wissen, dass sie krank sind – die Dunkelziffer. (Quelle: statista.com)

Darüber hinaus fiel mir bei der Recherche eine interessante Textstelle auf. Hier hieß es, dass die magersüchtige Person nicht das Problem beziehungsweise der Fehler im System ist. Die magersüchtige Person ist sozusagen das Symptom und »bringt etwas nach draußen«. Sie oder er deckt etwas auf. Die von der Krankheit betroffene Person ist der Ausdruck des Problems, nicht die Ursache.

 

Dies ist ein wichtiger Fakt, den es zu erwähnen gilt. Er mag dem Leser als Hintergrundinformation dienen. Diese Information erscheint mir plausibel und nachvollziehbar. Sie ist jedoch nicht das »Gesetz«.

Ich habe mir noch nie etwas so gewünscht wie jetzt. Mein einziger Geburtstagswunsch ist, dass ich nach Hause darf und wir es da mit dem Modell probieren.

Ich würde dann auch nicht zur Schule gehen, erst im zweiten Drittel des Modells. Bloß Mutti und Vati müssen ja sagen. Meine Chancen stehen aber kaum gut. Fast gar keine Chance besteht.

Ich hoffe nur, der liebe Gott steht mir bei und probiert es, dass sie ja sagen. Ein Versuch ist es doch wert, oder?

Ach BITTE, ich wünsche es mir so sehr.

Ich vermisse sie. Am liebsten würde ich jetzt mit allen dreien über den Weihnachtsmarkt schlendern.

Alles duftet und sieht nach Weihnachten aus. Zusammen basteln, Gestecke machen, Fenster schmücken, in der Stube sitzen. Schön weihnachtlich.

Ach wäre das schön, bei ihnen zu sein. Ich würde auch alles dafür tun, doch sie lassen mich bestimmt nicht, denn ich könnte auch schnell sterben, wenn etwas danebengeht.

Aber ich würde versprechen, dass nichts danebengeht – wirklich.

Hilf mir doch bitte, lieber Gott. Ich vermisse sie.

Es ist erstaunlich, was für eine Sicherheit hinter diesen Worten steckt. Die Sicherheit und das damalige Vertrauen in mein Leben – das Vertrauen, dass ich nicht daran sterben würde. Die Gewissheit, dass es noch nicht an der Zeit war zu gehen. Vielleicht auch gemischt mit Leichtsinn oder der gespürten Grenzenlosigkeit. Dem Körper kaum Essen zuzuführen war mehr, als nur über körperliche Grenzen zu gehen. Es war quasi selbstverständlich, die Warnsignale des Körpers zu überhören und trotzdem zu leben.

Im Gegensatz zu Zeiten vor der Klinik. Zu diesen Zeiten hatte ich, wie bereits beschrieben, des Öfteren das Gefühl, mein Herz würde bald stehen bleiben und es wäre vorbei. Daran kann ich mich sehr genau erinnern. Ich erinnere, dass ich im Bett lag und mein Herz kaum noch schlug. Kurz vor dem Ende.

Da war diese Sicherheit am Wanken.

Ich kann nicht dafür garantieren, wenn ich sage, dass ich anhand dieses Wissens den Vergleich ziehen darf, dass ich es innerlich gespürt hätte, wenn das Ende nah war. Ich glaube, ich hätte es gemerkt, denn da kann man nicht mehr drüber hinwegsehen.

Montag, der 04.12.2000

Heute hatte ich keine Bettruhe. Ich habe 100 Gramm zugenommen. Morgen habe ich Geburtstag und ich hoffe, ich bekomme keine Bettruhe. Ich hoffe auch, dass ich Besuch von Mutti, Vati und Marleen bekomme.

Ich vermisse sie so sehr. Die Schwester hat mir gerade einen schönen Gruß von Mutti und Marleen bestellt. Mutti wollte bestimmt horchen, ob alles in Ordnung ist.

Ich könnte den ganzen Tag heulen.

Das alles an meinem Geburtstag – na toll.

Ich sterbe bald vor Sehnsucht, sie fehlen mir so und mein Herz ist fast am Springen, so schmerzt alles.

Diese Worte sind direkt aus meinem Tagebuch. Nichts wurde verändert. Wie deutlich, bildlich und genau ich meine Gefühle beschrieb, finde ich wundervoll. Schmerzhaft und berührend und für mich kaum zu fassen, wie ich unbewusst die seelischen Leiden auf die körperliche Ebene brachte.

Jetzt als erwachsene Frau frage ich mich von Zeit zu Zeit: Warum stolpert denn mein Herz so? Um schließlich darauf zu kommen, dass es vielleicht Sehnsucht ist.

Man überhört so viel, je mehr Erfahrungen man im Leben gesammelt hat.

Es braucht viel Mut, weich und gefühlvoll zu bleiben oder es wieder zu werden, trotz vieler Verletzungen.

Ich hoffe so sehr, dass ich morgen keine Bettruhe bekomme und dass sie mich besuchen. Ich muss es ihnen doch sagen, mit dem Vorschlag.

Wenn nicht, dann möchte ich nur noch bis Weihnachten hierbleiben, und dann zu Hause würde ich es ihnen beweisen, dass ich essen kann.

Nach Weihnachten möchte ich hier nicht mehr her, aber ich weiß auch nicht, ob ich es bis dahin hier aushalte.

Erschreckenderweise dreht sich so vieles darum, dass ich wieder nach Hause komme. Da ist das Gefühl des Eingesperrtseins. Enge, Angst, Hoffnung, Traurigkeit. Ein lebensbedrohliches Gefühl für einen Menschen. Erst recht für ein Kind.

Wenn ich das so lese, dann möchte ich diesem Kind so gerne helfen. Dem Kind, das ich damals war.

Heute war ich zur Einzeltherapie, so um 14.00 Uhr.

Oh Gott, das war schrecklich. Ich musste danach so heulen. Auch schon während des Gespräches.

Ich habe mich danach im Spiegel angeguckt. Ich war kreidebleich und so habe ich mich auch gefühlt.

Mein Magen und mein Herz waren wie zugeschnürt. Ich dachte, ich sterbe vor Schmerz und Sehnsucht.

Ehrlich gesagt waren mir diese intensiven Gefühle und das Leid, das ich zu der Zeit erfahren musste, nicht in diesem Maße bewusst. Erst jetzt, wo ich diese Zeilen niederschreibe, bin ich sprachlos, was da für Gefühle in mir vorgingen.

Für mich erklären sich jetzt viele Ängste und Gefühle, die ich heute manchmal kaum aushalte und von denen ich nicht wusste, woher sie kamen. Doch ich sehe, sie haben ihren Ursprung genau dort. Dort, wo ich hilflos auf mich allein gestellt war. Wo ich Angst vor Tod, Bestrafungen wie Bettruhe und unendliches Heimweh hatte. Das Gefühl, allein zu sein.

Ich bin dankbar dafür, dass ich damals mein Tagebuch hatte. Das Schreiben und die damit verbundene Hoffnung hielten mich am Leben.

Kaffee habe ich aber trotz der Sehnsucht und der schrecklichen Gefühle getrunken. Danach habe ich mein Kalendertürchen geöffnet.

Als ich bei einer anderen war, die auch magersüchtig war, hat sie mich etwas gefragt und ich musste losweinen. Ich habe ein bisschen mit ihr erzählt und dann habe ich von ihr einen Schokoriegel bekommen – ich habe ihn auch gegessen, denn Mittag war heute auch nicht so gut.

Außerdem möchte ich morgen nicht im Bett liegen – ich habe Angst.

Das Mädchen hat mich ein bisschen aufgebaut und mir klargemacht, dass ich essen muss. Sie ist wegen Depressionen und so hier, Magersucht hatte sie auch – jetzt aber nicht.

Eben habe ich Abendbrot gegessen, nachher gibt es noch Spätstück. Drücke mir mal die Daumen, dass es etwas ist, was ich auch esse – es ist so oft Pudding. Hoffentlich kann ich diese Nacht schlafen. Nachts ist die Sehnsucht immer so groß.

Hauptsache, sie besuchen mich und ich habe KEINE Bettruhe.

Hilf mir doch bitte. Ich habe Angst und möchte nach Hause. Ich vermisse sie alle so sehr.

Es fällt auf, dass das Tagebuch immer mehr zum festen Ansprechpartner für mich wurde. Traurig und hart, nur noch diesen Halt gehabt zu haben. Dieses eine kleine Licht.