So bitter die Erkenntnis

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Eine Zeit lang fand Ines es ganz in Ordnung, dass sie immer nur gemeinsam aßen, tranken und redeten, schließlich lernten sie sich so nach und nach besser kennen. Aber dann begann sie darauf zu hoffen, dass Felix eines Abends einfach beschloss, bei ihr zu bleiben.

Doch sie hoffte vergebens. Ines haderte mit sich, musterte sich kritisch im Spiegel und versuchte zu ergründen, was Felix wohl davon abhalten könnte, den ersten Schritt zu tun. Lag es an ihrem Äußeren? Nein, sie schüttelte verneinend den Kopf, eigentlich vermittelte er ihr den Eindruck, als fände er sie wirklich attraktiv. War es ihr Alter? Vielleicht, Männer in seinem Alter bevorzugten oft jüngere Frauen, aber nie brachte er eine andere Frau mit oder blieb die ganze Nacht weg. Den Gedanken, dass Felix grundsätzlich nichts mit Frauen anzufangen wusste, verwarf sie gleich, nachdem er ihr eingefallen war, wieder. Nein, seine Blicke sprachen von etwas anderem.

Manchmal, wenn sie zusammensaßen, schien er innerlich weit weg zu sein und seine Augen verdunkelten sich. An solchen Abenden sprachen sie nicht sehr viel und Ines respektierte seine wortkargen Phasen, weil sie genauso zu Felix gehörten, wie sein Mitteilungsdrang. Eigenartig war nur, dass er jedes Mal, wenn sie sich verabschiedeten, davon überzeugt zu sein schien, dass sie die ganze Zeit über miteinander geredet hätten. Ines nahm sich immer wieder vor, ihn bei der nächsten Gelegenheit in die Stille hinein nach dem Grund zu fragen, unterließ es aber jedes Mal wieder.

Die Zeit verging und alles blieb wie gehabt. Felix und Ines verbrachten viel Zeit miteinander und standen sich nahe, jedenfalls empfand Ines das so, aber bis auf eine flüchtige Umarmung zum Abschied, die sie ihm regelrecht aufdrängte, passierte nichts. Ines beschloss daher, Felix beim nächsten Mal die Pistole auf die Brust zu setzen. Irgendetwas musste geschehen, um die Situation zwischen ihnen zu klären, denn so ertrug sie es nicht länger. Der Premierenabend erschien ihr für ihr Vorhaben perfekt, und da sie wusste, dass Felix sich bald von der anschließenden Feier zurückziehen würde, weil er feucht-fröhliche Feste hasste, konnte sie darauf bauen, dass er nach einem »Anstandssekt« gehen würde.

Enttäuscht war sie schon gewesen, als er es, sogar ziemlich rigoros, abgelehnt hatte, dass sie selbst zur Premiere kam. Den Grund, er könne sich dann vielleicht nicht richtig auf seine Rolle konzentrieren, wenn er sie im Zuschauerraum wisse, konnte sie weder verstehen noch hinnehmen. So wie er sich aufführte, beschlich sie fast das Gefühl, als brächte ihre Anwesenheit Unglück, was sie regelrecht traurig machte. Aber schließlich respektierte sie seinen Wunsch.

Und nun saß sie in ihrem neuen, schwarzen Kleid auf dem gemütlichen, roten Sofa mit den vielen Kissen und wartete. Sein überraschtes Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf, wenn er ihre Inszenierung begriff …

Ines spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann, und goss sich mit einer fahrigen Geste noch einen Schluck Wein ein. Halt, sie stellte die Flasche entschlossen zurück, zu viel durfte sie auch nicht trinken, schließlich hatte sie noch nichts gegessen, und Felix sollte nicht den Eindruck gewinnen, sie habe sich Mut angetrunken.

Wie lange sie tief in Gedanken versunken einfach so dagesessen hatte, wusste sie später nicht mehr genau, vielleicht war sie sogar kurz eingenickt. Der beißende Bratengeruch war es schließlich, der Ines wieder auf den Plan rief. Sie stürzte in die Küche, wo ihr die Nebelschwaden bereits die Sicht nahmen. Zum Fenster zu laufen, es aufzureißen und tief Luft zu holen, waren eins.

Oh Gott – alles war verbrannt! Spontan stiegen Ines Tränen in die Augen, die ganze Mühe war umsonst; sogar der Salat hatte es aufgegeben knackig auszusehen und gab sich stattdessen als sprichwörtliches Häuflein Elend aus. Der nächste Schlag traf sie im Esszimmer, als sie sah, dass die Rosenblätter bereits vertrockneten, und sich rote Wachspfützen um den Fuß der silbernen Kerzenleuchter herum wie Krakenarme auf dem weißen Tischtuch ausbreiteten.

Im Grunde konnte sie von Glück sagen, dass noch nichts in Flammen stand.

Ines’ pragmatische Ader verhinderte, dass sie sich jetzt völlig in Verzweiflungstränen auflöste. Stattdessen begann sie ganz rigoros damit, das Chaos zu beseitigen. Wut stieg in ihr auf, eine Wut, die sich unmittelbar gegen Felix richtete, der es offensichtlich vorgezogen hatte, sich nicht zurückzumelden, oder doch auf der Premierenfeier zu bleiben. Dabei wusste er doch, dass Ines für ihn kochte und sich auf den Abend mit ihm freute. Unverzeihlich! Mit einer ausholenden Geste fegte sie die Vase mit den roten Rosen vom Tisch, die klirrend auf dem Boden zersprang. Der Anblick der Scherben, des auslaufenden Wassers und der jetzt verstreut herumliegenden Blumen entsetzte und beschwichtigte sie zugleich. Sie bückte sich zögernd, um das Malheur zu beseitigen. Ob Felix ihre Absicht vielleicht erraten und sich deshalb erst gar nicht gemeldet hatte?

Nein, das passte nicht zu ihm. Er hätte sie auf jeden Fall angerufen, wenn er sich verspätete.

Einen Moment lang überlegte sie angespannt, was sie tun sollte, dann wählte sie seine Handynummer. Niemand antwortete und sie zwang sich dazu, ein paar knappe, neutral klingende Sätze auf die Mailbox zu sprechen. Weder wollte sie den Eindruck erwecken, er müsse sich vor ihr rechtfertigen, noch sollte er den wahren Anlass für ihre Nachfrage erahnen.

Nachdem sie einige Zeit abgewartet hatte, in der kein Rückruf erfolgte, entschloss Ines sich spontan, in Felix’ Wohnung nachzusehen. Vielleicht war er ja doch da. Als sich auf ihr Klingeln nichts regte, benutzte sie den Schlüssel, um sich gleich nach dem Öffnen der Tür lautstark bemerkbar zu machen.

»Felix, bist du da? Geht es dir gut?«

Ines rief dreimal, aber er antwortete nicht. Zögernden Schrittes betrat sie sein Schlafzimmer – das Bett war unbenutzt – im Wohnzimmer war er nicht, auch nicht in der Küche, weder im Arbeitszimmer noch im Bad. Die Wohnung war leer.

Ines ließ sich ratlos auf einen Stuhl sinken. Also musste er doch die Nacht im sprichwörtlichen Sinne zum Tage gemacht haben, ohne ihr ein Wort zu gönnen. Draußen dämmerte es bereits.

Enttäuscht verließ sie die Wohnung und fand sich eine Minute später vor ihrem großen Spiegel wieder, der ihr überdeutlich die Müdigkeit in den Augen und das verwischte Make-up zeigte. Mit einer resignierten Geste zog sie die Nadeln aus ihrem Haar, wusch sich die Schminke aus dem Gesicht, öffnete den Reißverschluss ihres Kleides und ließ es achtlos auf den Boden gleiten. Dann ging sie ins Schlafzimmer, kroch ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Alles war schiefgelaufen. Ines drehte sich auf die Seite, zog die Beine dicht an den Körper, umschlang sie mit ihren Armen und begann schließlich zu weinen.

Nachdem sie endlich eingeschlafen war, träumte sie wirr und albtraumgleich von Felix, erblickte lodernde Flammen, hinter denen er unerreichbar schien. Sie schrie und versuchte sich bemerkbar zu machen, vergebens, die Feuersbrunst übertönte ihr Rufen. Dann hörte sie ihn lachen, verzweifelt und glücklich zugleich. Er lachte, lachte und lachte, sodass Ines sich die Ohren zuhalten musste, weil sie es nicht ertragen konnte.

Als sie erwachte, setzte sie sich schweißgebadet mit einem Ruck im Bett auf. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Noch ganz unter dem Eindruck des Traumes stehend, schwang sie gerade die Beine aus dem Bett, um ins Bad zu gehen und sich das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen, als es Sturm läutete.

Ines blieb erschrocken auf der Bettkante sitzen. Felix, schoss es ihr dann durch den Kopf, das konnte nur Felix sein. Endlich! Mit einem Satz sprang sie auf, warf sich eilig eine Strickjacke über, rannte zur Tür und öffnete.

»Felix, Gott sei Dank, ich habe mir schon …« Während die Worte auf ihren Lippen erstarben, blickte sie verwirrt in zwei blaue Augen, die sie aufmerksam musterten. Ines stand einen Moment lang wie angewurzelt auf der Schwelle und zog sich abwehrend die Jacke vor der Brust zusammen.

»Frau Wagner?« Die Stimme ihres Gegenübers klang angenehmer, als sie gedacht hatte. »Hauptkommissarin Seibold.« Die entschlossen wirkende Mittvierzigerin hielt Ines ihren Polizeiausweis unter die Nase. »Darf ich reinkommen?«

»Natürlich.« Verdattert trat Ines einen Schritt zurück und machte eine einladende Handbewegung.

»Ziehen Sie sich ruhig erst etwas über.« Die blauen Augen blickten mitfühlend. »Ich warte solange.«

Ines nickte und verschwand für einige Minuten im Schlafzimmer. Zitternd sprang sie in ihre Jeans und versuchte die aufkommende Panik in den Griff zu bekommen. Nur nicht darüber nachdenken, was es bedeutete, wenn die Polizei morgens vor der Tür stand. Als sie schließlich der Kommissarin gegenübersaß, ertappte Ines sich dabei, dass sie diese, während sie ihr Anliegen vortrug, aufmerksam ansah, dabei aber nicht verstand, was sie sagte. Hübsch war sie, ja, und auch sympathisch, mittelgroß, schlank und modisch gekleidet. Die blonden Haare trug sie zu einem Bob geschnitten, was ihr feines Gesicht vorteilhaft zur Geltung brachte. Ines nickte in sich hinein. Ein abwesendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, was die andere in ihren Ausführungen abrupt innehalten ließ.

»Frau Wagner, haben Sie verstanden, was ich Ihnen sagte?« Der eindringliche Tonfall riss Ines aus ihren Gedanken.

»Wie bitte, ja … nein.« Ines hörte das Blut in ihren Ohren rauschen und zuckte hilflos die Schultern. »Ich befürchte, ich habe nicht richtig zugehört, entschuldigen Sie bitte.«

Katharina Seibold seufzte. Dies war wieder so ein Moment, an den sie sich niemals gewöhnen würde. Nie würde sie gefühllos damit umgehen können, wenn sie Menschen die schlimmste Nachricht überbringen musste, die man sich vorstellen konnte. Das Leid hatte so viele Gesichter, mehr als man verkraften konnte. In diesem Fall schien Frau Wagner sich innerlich völlig zurückgezogen zu haben, um dem fürchterlichen Schlag auszuweichen, den sie ihr jetzt doch versetzen musste. Katharina Seibold spürte, dass ihre Hände zu zittern begannen, und schloss sie mit kräftigem Druck zu zwei Fäusten zusammen.

 

»Frau Wagner, Sie haben versucht, Herrn Meister auf dem Handy anzurufen.«

»Ja, er ging nicht ran, dabei waren wir fest verabredet. Wissen Sie, ich hatte ja extra schön gekocht, aber er kam nicht …« Ines Stimme geriet zu einem Flüstern. »Dabei sollte es ein ganz besonderer Abend werden.«

»Frau Wagner, ich muss Ihnen mitteilen, dass Felix Meister nicht mehr lebt. Er ist gestern Abend am Ende der Vorstellung tot auf der Bühne zusammengebrochen.«

Ines schien durch die Kommissarin hindurchzusehen. Verständnislos schüttelte sie den Kopf, als verstünde sie nicht, was die andere sagte. »Das kann nicht sein.« Ines lachte hysterisch auf. »Ich habe ihm gestern doch noch alles Glück gewünscht! Es war der Premierenabend, wissen Sie, dann ist er immer besonders aufgeregt. La Traviata war es diesmal. Die Oper liebt er besonders und gerade die Rolle des Giorgio Germont. Er war bestimmt toll.«

»Ja, so sagt man.« Die Kommissarin nickte, stand auf und setzte sich neben Ines auf das andere Sofa. »Er muss wirklich so wunderbar gesungen haben, wie nie zuvor, das sagen jedenfalls seine Kollegen.« Katharina Seibold legte den Arm um Ines. »Aber nach der letzten Arie brach er zusammen. Der Theaterarzt war sofort zur Stelle und hat versucht, Herrn Meister zu reanimieren, aber umsonst, er konnte nur noch den Tod feststellen.«

Langsam, ganz langsam sickerten die Worte in Ines’ Bewusstsein.

Felix war tot! Nein, sie schüttelte vehement den Kopf. Das konnte alles nicht stimmen. Warum sollte Felix tot auf der Bühne zusammenbrechen? Vor ihrem inneren Auge spielte sich im nächsten Augenblick eine dramatische Szene ab: Felix, der im Kostüm mitten auf der Bühne zusammenbrach, das ungläubige Staunen der anderen, das für Sekunden sowohl die Kollegen als auch das Publikum lähmte, die anschließende hektische Betriebsamkeit, der herbeieilende Theaterarzt, der versuchte, Felix durch eine rhythmische Herzmassage wiederzubeleben.

Nein, das alles konnte so wirklich nicht gewesen sein, es musste sich um einen furchtbaren Irrtum handeln. Ines sah die Kommissarin zweifelnd an und obwohl sich alles in ihr sträubte, las sie in deren Blick die Wahrheit, die sie selbst nicht akzeptieren konnte. Tränen, die sich unbemerkt aus ihren Augen stahlen, wurden zu einem immer stärkeren Strom, der alle Hoffnung mit sich davontrug. Zurück blieb allein die wahre und bittere Erkenntnis, der sie sich nun stellen musste. Nein, alles in ihr bäumte sich auf. Sie wollte diese Wahrheit nicht, die all ihre Hoffnungen und Träume mit einem Schlag zunichte machte. Sollte sie bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ines presste die Handflächen gegen ihre Schläfen, als könne sie so ihrem Kopf das Denken verbieten.

»NEIN!« Ihr Schrei klang wie der einer Ertrinkenden. Dann begann sie haltlos zu schluchzen.

Katharina Seibold schloss ihre Arme ganz fest um den verzweifelt zitternden Körper neben sich und spürte, dass ihr selbst die Tränen in die Augen stiegen. Das Unglück anderer zu erleben und nicht helfen zu können, geriet jedes Mal zu einer Grenzerfahrung.

Ein Scheißberuf, den du da hast, schalt sie sich, du bringst allen nur Unglück.

Aber dieser Anflug von Selbstmitleid, einem momentan ziemlich vertrauten Begleiter, half hier nicht weiter. Sie musste versuchen, die Situation auf eine sachlichere Eben zu bringen, vielleicht fing sich Frau Wagner dann wieder.

»Sie waren mit Herrn Meister liiert?«, fragte die Kommissarin leise, worauf Ines’ Tränenstrom, der inzwischen langsam verebbte, wieder stärker zu fließen begann.

Das war offensichtlich die falsche Frage, schalt sich Katharina Seibold, aber irgendwie musste sie weiterkommen.

»Eigentlich …, eigentlich waren wir liiert, ja, wenn auch nicht im üblichen Sinne.« Ines suchte schluchzend nach Worten.

»Wie meinen Sie das denn?«, fragte die Kommissarin erstaunt.

»Na ja, wissen Sie, Felix ist so zögerlich …, wir gehören zusammen, das spüre ich, aber er hat es mir noch nie gesagt.«

»Sie wollten ihn sozusagen überzeugen?«

»Nein«, Ines begann wieder zu schluchzen, »ich wollte ihm zeigen, dass alles längst so war. Deshalb habe ich alles so schön arrangiert: das Essen, die Rosen, die festliche Stimmung. Ich habe mir sogar ein neues Kleid gekauft, mit Ausschnitt, wissen Sie …, mit dem ich ihn beeindrucken wollte. Und dann kam er einfach nicht. Ich muss, ohne es zu merken, sehr lange in Gedanken versunken auf dem Sofa gesessen haben, und darüber ist mir der Braten verbrannt. Die ganze Küche war verqualmt.« Ines fing sich ein wenig, während sie weitersprach. »Dann bin ich rüber zu ihm – ich habe ja einen Schlüssel, weil ich Felix auch den Haushalt führe – aber er war nicht da. Also habe ich ihn angerufen, aber er ging nicht ran. Wütend war ich und unglücklich, weil er mir fest versprochen hatte, mit mir zu essen. Ich bin dann ins Bett gegangen und habe fürchterlich geträumt, bis Sie klingelten.« Ines musterte die Kommissarin mit abwartendem Blick.

Auch das noch … gerade, als die Liebesgeschichte wirklich beginnen sollte, war der Tod eingeschritten. Katharina Seibold seufzte schwer.

Im Kommissariat wurde sie hinter vorgehaltener Hand auch »das Seelchen« genannt, weil sie sich vieles mehr zu Herzen nahm als andere. In der Tat war sie eine Ausnahmeerscheinung in diesem Beruf, zu dem sie, nach einer Grenzerfahrung in ihrem eigenen Leben, gekommen war, denn eigentlich ging es in Katharinas Innenleben eher kreativ zu.

Sie hatte Kunst studiert, mit dem Ziel, Restauratorin zu werden, ehe sie zur Polizei ging, und das Einzige, ihr im Grunde wenig entsprechende Verhalten, das sie sich hatte antrainieren können, war es, forsch aufzutreten. Bei Fällen wie diesem jedoch gewann ihre einfühlsame, vorsichtige Art bald wieder die Oberhand.

»Frau Wagner, können Sie sich vorstellen, dass man Felix Meister nach dem Leben trachtete?«

»Um Gottes willen, nein!« Ines schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Er war besonders beliebt bei den Kollegen und auch bei seinen Freunden. Nein, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«

»Was ist mit seiner Familie? Leben seine Eltern noch? Hat er Geschwister? Wissen Sie etwas über sein Verhältnis zu ihnen?«

Ines fixierte die Kommissarin, schien aber in ihren Gedanken weit weg zu sein. »Nein, ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht ist es mir im Moment aber auch nur entfallen. Irgendetwas muss er ja mal darüber gesagt haben. Ich werde darüber nachdenken.«

Nach wiederkehrenden Momenten der Verzweiflung, die immer wieder Tränen fließen ließen, schien Ines sich nach einer Weile ein wenig gefangen zu haben, sodass die Hauptkommissarin das Gefühl bekam, die Trauernde jetzt allein lassen zu können. Verwandte, bei denen Ines hätte bleiben können, gab es nicht und ihre einzige, enge Freundin Beatrice machte zurzeit eine Abenteuerreise durch Afrika. Katharina nahm Ines das Versprechen ab, sich sofort – gleichgültig wie spät oder früh es sei – bei ihr zu melden, wenn sie meinte, es nicht auszuhalten zu können, und verließ die Wohnung doch mit einem unguten Gefühl. Aber es ging nicht anders, sie musste darauf vertrauen, dass Ines Wagner die Situation meisterte.

Nachdem die Kommissarin gegangen war, ließ Ines sich wieder auf das Sofa im Wohnzimmer sinken und blieb für eine lange Weile fast regungslos sitzen. In ihrem Kopf rasten die Gedanken immer im Kreis herum, wie bei einem Karussell, ohne ihr jemals Ruhe zu gönnen oder in einen endgültigen Gedanken zu münden. Ines schlug sich verzweifelt mit der Faust gegen die Stirn, als ob sie auf diese Weise alles auf Anfang setzen könnte. Aber Gedanken und Gefühle purzelten weiterhin wild durcheinander und rissen sie in den Abgrund eines übelerregenden Schwindelgefühls, das übermächtig von ihr Besitz ergriff, sodass ihr schließlich die Sinne schwanden.

Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich auf dem Boden liegend wieder und der saure Geruch, der ihr in die Nase stieg, zeugte davon, dass sie sich übergeben hatte. Vorsichtig versuchte sie sich aufzusetzen, die Übelkeit kehrte zurück. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Couch und atmete bewusst tief ein und aus, während ihre Augen nach einem Fixpunkt suchten, bis ihr Blick sich durch die Scheibe hindurch an einem Buchenzweig festmachte, der vor dem Fenster sanft im Wind schwang.

Warum sind die Blätter so grün?, fragte sie sich erstaunt, es gibt doch überhaupt kein Leben mehr, alles ist tot.

Der Schmerz, der sie jetzt überwältigte, war so groß, dass sie ihn qualvoll in jeder Faser ihres Körpers spürte. Wie ein geschundenes Tier kroch sie auf allen vieren hinüber ins Schlafzimmer, in ihre Höhle, zu der die Welt keinen Zutritt hatte.

4

Den Wechsel von Tag und Nacht, Hunger, Durst, eine Scheibe Brot auf dem Teller, die Dusche, die sie allem Anschein nach benutzt haben musste – alles das nahm Ines erst wahr, als sie nach zwei Tagen aus ihrer Trance erwachte und die Trauer über ihren Verlust wieder von ihr Besitz ergriff.

Getrieben von dem Bedürfnis, Felix auch über seinen Tod hinaus nahe zu sein, legte sie die Schritte über den Flur zu seiner Wohnung ganz automatisch zurück. Als sie den Schlüssel schon im Schloss herumdrehen wollte, stellte sie fest, dass die Wohnung versiegelt war. Verdattert zog sie den Schlüssel wieder heraus, trat einen Schritt zurück und betrachtete das Amtssiegel. Nein, hier gab es kein Fortkommen, aber aufgeben wollte sie ihr Ansinnen deshalb noch lange nicht. Zögernd ging sie zurück in ihre Wohnung und setzte sich an den Esstisch, der wie ein Relikt aus früheren Zeiten immer noch festlich gedeckt war. Die erstarrten roten Wachspfützen, die ihr wie Blutlachen erschienen, hatten die weiße Tischdecke aus Ines’ Familienbesitz rückhaltlos ruiniert, aber das war gleichgültig. Tief in Gedanken versunken begann Ines damit, dem Wachs mit den Fingern zu Leibe zu rücken, bis ihr ein spitzes Stückchen unter das Nagelbett geriet, und sie mit einem kleinen Aufschrei aufgab. Während sie versuchte, das Wachs vollständig von ihrem Finger zu entfernen, hielt sie plötzlich inne.

Die Verbindungstür – natürlich, warum war sie nicht eher darauf gekommen?

Richtig, die erste Etage des herrschaftlichen Hauses war im Zuge der zurückliegenden Sanierung in zwei Wohnungen aufgeteilt worden, die spiegelverkehrt und gleich groß waren. Die Verbindungstür, die früher die Zimmer der Beletage miteinander verband, war damals nicht entfernt worden – vielleicht, um sich die Möglichkeit zu erhalten, die Räume bei Bedarf wieder zusammenzuführen – auf jeden Fall hatte Ines damals ihren Biedermeierschrank davorgestellt, und jetzt war es ihr wieder eingefallen.

Entschlossen stemmte sie sich mit dem Rücken gegen eine Seite, beugte sich nach vorn, um mehr Kraft zu haben und drückte mit aller Macht dagegen. Der Schrank kippelte ein wenig, bewegte sich aber nicht. Nein, so ging das nicht, sie musste ihn wohl oder übel ausräumen. Alles, was sich über Jahre an mehr oder weniger unnützen Dingen in einem Haushalt ansammelte, fiel ihr jetzt in die Hände: alte, üppig dekorierte Kerzenleuchter, die sie früher einmal schön gefunden hatte, Geschirr, das sie längst nicht mehr benutzte, Trockenblumensträuße, die sich langsam in Staub auflösten, und die sie damals nicht wegwerfen wollte, groß gemusterte in Orange, Braun und Grün gehaltene Vorhänge, die ihr jetzt angesichts des Musters Schauer über den Rücken jagten. Ines fand jede Menge Krimskrams, von dem sie längst nichts mehr wusste, und der es nicht wert war, wieder in den Schrank zurückzufinden. Lange Minuten verstrichen, in denen ihr Tun sie von den Gedanken an Felix ablenkte und ihr kurzfristig ein Gefühl der Normalität zurückgab, bis ihr wieder einfiel, warum sie den Schrank ausräumte, und die Tränen erneut zu fließen begannen.

Um einiges leichter geworden, ließ dieser sich nun Zentimeter um Zentimeter verrücken und gab endlich die Verbindungstür, die seinerzeit mit Tapetenbahnen überklebt worden war, frei. Mit einem Ruck riss Ines einen Großteil der Tapete ab, der Rest war ebenso schnell entfernt. Zögernd drückte sie die mit Kleister verklebte Klinke herunter und öffnete langsam die Tür, die daraufhin ein befreites Ächzen von sich gab.

 

Scheinbar wie durch kleine Fenster hindurch, die ihr die Fächer des Regals auf der anderen Seite vermittelten, nahm sie verschiedene Details aus Felix’ Wohnzimmer wahr. Den schönen, gemütlichen, mit braunem Leder bezogenen Ohrensessel, die alte Kirschholzkommode und den edel gerahmten Picassodruck darüber.

Ines versuchte vorsichtig, das Regal ein Stück zur Seite zu rücken, um so viel Platz zu gewinnen, dass sie hindurchpasste. Es ging leichter, als sie befürchtete, und einen Augenblick später stand sie in den verwaisten Räumen Felix Wagners. Obwohl er noch vor zwei Tagen hier gelebt hatte, wirkte die Wohnung verlassen und seelenlos, wie ein Relikt aus früheren Zeiten, an dessen Präsenz man sich wie an einen verlorenen Schatz erinnerte. Ines traf die Erkenntnis wie ein Keulenschlag. Wie gern hätte sie das Gefühl gehabt, dass alles nur ein Irrtum war und dass sie sich nur zur Tür wenden müsse, um gleich das Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels zu vernehmen – vergebens. Felix würde nie wieder durch diese Tür gehen. Nie wieder würde er mit einem vielsagenden Lächeln auf den Lippen zwei Weingläser aus dem Schrank nehmen, um Ines – gespannt auf ihr Urteil – eine neue Weinsorte zu kosten zu geben. Nie wieder würde er sie während ihrer lebhaften Gespräche aufmerksam ansehen. Nie wieder würde er den Zeigefinger senkrecht auf seine Lippen legen und einen Punkt in der Ferne fixieren, wie er es immer tat, wenn er konzentriert nachdachte. Was Felix betraf, so gab es nur noch dieses »Nie wieder«, das Ines fast umbrachte.

Wie in Trance ging sie durch die Räume, nahm hier seinen Füllfederhalter, der seiner schwungvollen Schrift ihre besondere Note verliehen hatte, in die Hand, dort seinen Talisman, einen runden, weißen Schmeichelstein, um schließlich bei seinem Rollenbuch zu verweilen, in dem sie gedankenverloren blätterte. Das Geräusch der umgewendeten Seiten hatte etwas Tröstliches, so als ob nicht sie, sondern Felix selbst hier saß, um einen neuen Part zu lernen.

Nach Stunden, die sie in sich versunken, die Gedanken ganz bei Felix, in seiner Wohnung verbracht hatte, griff sie wahllos nach einem Buch, das auf dem Schreibtisch lag, einem Stapel ungeordneter Zeitungen und nach dem in dezenten Farben gemusterten Seidenschal, den sie so sehr an ihm geliebt hatte, und drückte alles, wie einen soeben gefundenen Schatz an ihre Brust. Wieder in ihrer Wohnung, breitete sie die Erinnerungsstücke auf ihrem Bett aus, weil sie das Gefühl hatte, Felix dadurch noch näher zu sein.

An diesem Abend schlief sie, den Schal um ihren Hals geschlungen, das Buch in der Hand und die Zeitungen wie eine Decke über sich gebreitet ein, um schon bald wieder aus einem unruhigen Traum zu erwachen, weil sie fror. Als Ines sich der Situation bewusst wurde, liefen ihr wieder die Tränen, die erst versiegten, als sie, aller Trauer zum Trotz, wieder eingeschlafen war.

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