Die Legende von Assan

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Rückkehr nach Hause

Die Zeit ihrer Ausbildung ging langsam dem Ende entgegen. Als Tana eröffnete, dass sie Laniki bald zurück zu ihrer Familie bringen würde, war deren Freude groß. Doch je näher der ersehnte Tag heranrückte, um so größer wurde auch die Furcht vor der Aufgabe, die sie erwartete.

Eines Abends, als sie mit ihren täglichen Übungen fertig waren, erzählte das Mädchen ihrer Lehrerin von ihren Sorgen. „Ich weiß nicht, wie ich das ohne dich schaffen kann. Ich weiß nicht mal, wann und wo ich mit der Suche nach Eras Amphore beginnen soll.“

Tana legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter und sagte: „Hab keine Angst! Angst ist ein schlechter Ratgeber. Du wirst nicht allein sein auf deinem Weg. Nicht nur Era wird dich unterstützen. Auch andere Götter haben sich unserem Kampf gegen das Böse angeschlossen und einige Menschenkinder mit ihren Gaben ausgestattet. Du wirst sie zu deinen Gefährten machen und sie werden dich mit Kräften unterstützen. Folge deinen Instinkten, dann wirst du auf den rechten Weg geführt werden.“

In einer sternenklaren Nacht kamen sie zum Dorf des Mädchens zurück. Alles schien friedlich und ruhig. Laniki hatte das Gefühl, ihr Herz würde so laut schlagen, dass es jeden seiner Bewohner aus dem Schlaf rufen musste. Doch nichts geschah.

Tana blieb plötzlich stehen. „Hier trennen sich unsere Wege. Lass uns Abschied nehmen“, sagte sie mit einem schwermütigen Lächeln.

„Jetzt schon?“, fragte Laniki verwundert. „Warum kommst du nicht mit ins Haus. Du kannst die Nacht bei uns verbringen und morgen zurückkehren“, versuchte sie ihre geliebte Lehrerin aufzuhalten. Tana war inzwischen wie eine zweite Mutter für sie und sie wollte sie am liebsten nicht gehen lassen.

Doch diese schüttelte nur langsam den Kopf. „Nein. Was würde das bringen? Es würde uns den Abschied nur schwerer machen. Ich werde immer in deinem Herzen sein, also direkt bei dir.“ Dann griff sie zwischen ihre Rockfalten und holte ein Medaillon hervor. „Trage es immer bei dir! In der größten Not wird es sich öffnen und ich werde dir beistehen. Bis dahin achte auf die kleinen Signale, die es dir gibt. Du wirst schon sehen.“ Mit diesen Worten legte sie es Laniki um den Hals und küsste ihr zum Abschied die Stirn. Dann drehte sie sich um und war alsbald in der Dunkelheit verschwunden.

Mit einem Gefühlschaos aus Abschiedsschmerz von Tana und Vorfreude auf das Wiedersehen mit den Ihren, machte sich das Mädchen auf den Weg zur Hütte ihrer Eltern. Voller Aufregung klopfte Laniki an die Tür. Zunächst geschah nichts, doch dann hörte sie Geräusche.

„Wer ist da? Mitten in der Nacht!“, rief es verschlafen von drinnen.

„Ich bin es, Vater!“, antwortete sie mit zittriger Stimme. Sie hörte Schritte und das Schaben des Riegels. Dann wurde die Tür geöffnet und eine Laterne vor ihr Gesicht gehalten.

„Bei allen Göttern! Uma, sie ist es wirklich!“, ertönte der fassungslose Ausruf ihres Vaters. Er ließ die Laterne sinken und schloss Laniki fest in seine Arme. Über seine Schulter hinweg sah sie in die vor Freude weit aufgerissenen Augen ihrer Mutter. Ganz langsam löste sie sich von Bahan und umarmte Uma voller Inbrunst.

Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, saßen sie sich am Tisch gegenüber und die Eltern musterten aufmerksam ihre so lang entbehrte Tochter.

„Du bist erwachsen geworden. Und so wunderschön“, sagte Bahan voller Stolz.

Laniki war inzwischen einundzwanzig Jahre alt und zu voller Weiblichkeit erblüht. Sie errötete ein wenig und lenkte das Gespräch schnell in eine andere Richtung. „Wie ist es euch hier ergangen, seit ich wegging. Wo ist Luka? Schläft er?“

Die Eltern warfen sich einen verunsicherten Blick zu. „Uns erging es nicht schlecht. Era hat bis heute ihre schützende Hand über uns gehalten und das Treiben des Krieges ist auf wundersame Weise von uns ferngeblieben. Doch ...“

Laniki wurde unruhig. „Was ist? Ist Luka etwas zugestoßen?“ Panik stieg in ihr auf.

„Nein, es geht ihm gut. Er dient in Sauls Heer und hat sich dort schon einen großen Namen gemacht.“

Laniki sprang vor Entsetzen auf. Luka ein Handlanger des Krieges? Das durfte nicht sein. Sie hatte ihm doch immer gesagt er solle, sobald man ihn mit fünfzehn auf seine Kampfqualitäten prüfe, so tun, als ob er dazu keine Gabe hätte.

„Er hat sehr unter deinem Weggang gelitten“, begann Uma zu erzählen. „Er trieb sich mit den anderen Jungs herum, ließ sich von ihnen beeinflussen und machte schließlich die Tosmaner für alles verantwortlich. Er meinte, sie seien Schuld daran, dass überhaupt Krieg sei. Er hat doch an die Geschichte geglaubt, die wir damals für alle anderen erfunden haben, um sein Auftauchen zu rechtfertigen. Er meinte, wegen dieses Krieges sei sein Vater gestorben und du hast weggehen müssen. Er hat immer auf deine Rückkehr gewartet. Sein Kummer wurde schließlich zu Hass und wir konnten nichts dagegen tun. Es war zu spät. Wir hätten ihm nicht mehr sagen können, dass er selbst zu den Menschen gehört, denen er jeden Funken Liebe aberkennt und die er für Tiere hält. Das wäre zu viel für ihn gewesen. Als er dann mit König Sauls Männern ging, konnten wir schon erahnen was kam. Er gab sein Bestes an der Heeresschule und man erkannte in ihm ein wahres Ausnahmetalent der Kampfkunst. Er ist kürzlich zum Legionsführer ernannt worden. Zum wohl jüngsten aller Zeiten. In zwei Schlachten hat er ruhmreich gekämpft. Luka ist König Saul zutiefst ergeben.“

Laniki starrte ins Leere und Tränen rollten über ihre Wangen. „Aber das ist ja furchtbar! Wir müssen ihn da wegholen. Sie töten sein Herz!“

Bahan trat hinter sie und strich ihr übers Haar. „Das wird nicht möglich sein. Er will es so. Er ist jetzt ein Mann und trifft seine eigenen Entscheidungen.“

Lanikis Miene gab zu erkennen, dass sie ganz anderer Meinung war. Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf.

„Erzähl uns doch erst einmal, wie es dir so ergangen ist“, bat Uma jetzt schnell, um das Thema vorerst zu beenden.

Laniki kam ihrer Bitte zögerlich nach und erzählte in groben Zügen das, was Tana ihr zu erzählen erlaubt hatte. Niemand sollte das ganze Ausmaß von ihren Kräften kennen.

Nach zwei Stunden voller gegenseitiger Fragen und Antworten, begannen Lanikis Augen schwer zu werden.

„Bei den Göttern! Du musst ja völlig müde sein von der langen Reise und wir lassen dir keine Zeit, dich auszuruhen. Leg dich jetzt schlafen! Wir können morgen weitersprechen.“ Mit diesen Worten schob Uma sie zum Bett und das Mädchen ließ es sich gern gefallen. Ihre letzten Gedanken bevor sie einschlief, kreisten um Luka und wie sie ihn wieder auf den rechten Weg bringen sollte. Sie konnte ihn doch unmöglich in den Fängen dieser Kriegstreiber lassen. Sollte er sich so verändert haben? Laniki beschloss, sich am nächsten Tag weiter darüber Sorgen zu machen. Jetzt konnte sie es ja doch nicht ändern.

In dieser Nacht hatte sie wieder diesen Traum. Heftiger als je zuvor durchfuhr sie die Angst und sie schreckte hoch. Es war inzwischen hell und ihre Mutter stand am Feuer und bereitete den Haferbrei fürs Frühstück zu. Laniki atmete den Duft ihrer Kindheit ein und fühlte sich sofort besser

„Guten Morgen, Liebes! Hast du gut geschlafen?“

Laniki sammelte sich kurz und erhob sich dann mit einem herzhaften Gähnen. „Danke! Und ihr?“ Freundlich lächelnd ging sie auf ihre Mutter zu und ließ sich in deren schützende Arme schließen.

„Oh, so gut wie lange nicht mehr“, antwortete Bahan, der kurz zuvor zur Tür hereingekommen war. Gemeinsam nahmen sie das Frühstück ein und alle hatten das Gefühl, dass noch nie ein Haferbrei so gut geschmeckt hatte.

Am folgenden Abend wurde im Dorf Lanikis Rückkehr gefeiert. Man schlachtete ein Schwein und traf sich am Feuer. Sie hatte Mühe, die ganzen Fragen zu beantworten und fühlte sich schlecht dabei, die alten Freunde zu belügen. Denn jede ihrer Aussagen war frei erfunden, genau wie die Anstellung als Magd in der Ferne. Alle gaben ihrer Verwunderung Ausdruck, dass ein so schönes Mädchen in der langen Zeit noch keinen Mann gefunden hatte. Laniki schaffte es aber schnell, das Gespräch auf andere Dinge zu lenken, indem sie ihr Leben in der Ferne sehr eintönig und uninteressant schilderte. Bald erzählten alle bunt durcheinander und sie konnte sich entspannen. Interessiert ließ sie den Blick durch die Runde gleiten. Ihre Freunde aus der Kindheit waren inzwischen ebenfalls erwachsen geworden. Einige hatten schon Familien gegründet. Doch viele der Jungen von einst fehlten. Sie hatten den gleichen Weg gewählt wie Luka. Bei dem Gedanken an den Bruder zog sich Lanikis Herz erneut schmerzlich zusammen. Nach ein paar Tagen hatte sich die größte Aufregung gelegt und der normale Alltag kehrte ein.

Das Zeichen

Einige Monate geschah nichts Außergewöhnliches um das Mädchen herum. Sie half ihren Eltern bei der anfallenden Arbeit und gewöhnte sich wieder ein. Es tat gut, den alltäglichen Aufgaben nachzukommen und sich wie ein normaler Mensch zu fühlen. Den ganzen Winter über hatte Bahan alle Hände voll zu tun, um eine große Waffenbestellung des Königs anzufertigen. Es wurde gemunkelt, dass es in wenigen Monaten einen großen Angriff auf Tosman geben sollte. Im Frühjahr bepackte der Vater das Fuhrwerk, um die Bestellung auszuliefern. Laniki ging ihm dabei zur Hand. Mit jedem Schwert, das sie auf den Wagen lud, hatte sie das Gefühl, selbst zu Sauls Gehilfin zu werden. Doch sie wusste, dass ihre Eltern davon lebten und dass Bahan nur so einer Teilnahme an den Feldzügen entging. Wenn er die Waffen nicht schmiedete, würde es ein anderer tun. Es war eben, wie es war und sie hatte nicht das Recht, ein Urteil zu fällen.

 

Plötzlich begann das Medaillon an ihrer Brust heiß zu werden und Laniki zog es schnell heraus. Sie konnte nichts Auffälliges erkennen, außer der Hitze, die es ausstrahlte.

War dies das erwartete Zeichen? Begann jetzt ihre Reise? Nun, da sie darüber nachdachte, wurde das Schmuckstück in ihrer Hand wieder angenehm kühl. Sie traf eine Entscheidung.

„Ich werde dich begleiten, Vater!“, sagte sie entschlossen und packte ihr Bündel zusammen.

„Nein, tu das nicht!“, rief Uma hinter ihr. „Dein Vater muss durch unsichere Gegenden. Die Leute sind verbittert und voller Hass. Sie denken nur an sich und wenden schnell Gewalt an.“

Laniki ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken.

„Deine Mutter hat recht, Kindchen! Du glaubst nicht, was für Elend ich auf diesen Reisen schon gesehen habe“, sagte Bahan streng. Damit wähnte er die Sache für erledigt und schaute später überrascht drein, als Laniki ihr Bündel dennoch auf den Wagen legte.

„Wir haben dir doch gesagt ...!“

„Ich muss gehen. Ihr wisst, dass ich die letzten Jahre nicht fort war, um mich dann hier zu verstecken. Ich fühle - ich weiß, dass heute der Tag ist, an dem meine Aufgabe beginnt.“ Sie sagte das mit einer solchen Überzeugungskraft, dass weder Uma noch Bahan an ihr zweifeln mochten. Bald schon gaben sie ihren Widerstand auf.

„Aber du bist doch gerade erst zurückgekehrt“, seufzte die Mutter beim Abschied.

Laniki antwortete ihr mit einer innigen Umarmung.

„Pass auf dich auf, mein Kind!“, flüsterte Uma.

„Das werde ich! Und vergiss nicht, Era beschützt mich! Ich bin nicht allein.“

Mit diesen Worten stieg sie zu ihrem Vater auf das Fuhrwerk und sie rollten vom Hof.

Nach zwei Tagen näherten sie sich der Festung von König Saul. Viele Menschen lebten im Umkreis des gigantischen Gemäuers. Als sie eine größere Ansiedlung durchquerten, begegnete ihnen ein Trupp Gefangener, die von Soldaten getrieben wurden. Sofort fielen Laniki die Bilder von einst wieder ein, als sie im Wald auf Luka und seine Mutter getroffen waren. Der Vater hielt an, um die Geschundenen vorbeizulassen. Die Menschen an den Straßenrändern riefen den abgemagerten kranken Gestalten wüste Beschimpfungen zu und feuerten die Bewacher an, wenn sie sie mit ihren Peitschen zur Eile trieben. Kein Funken Mitgefühl war in ihren Gesichtern zu erkennen.

„Eine Schande ist das!“, flüsterte Bahan ihr zu. Laniki versuchte sich zurückzuhalten, denn sie hatte noch immer Tanas mahnende Worte im Ohr. Doch als ein alter Mann zu Boden ging und um Wasser flehte, war sie nicht mehr aufzuhalten. Sie griff nach ihrem Wasserschlauch und sprang vom Wagen.

„Niki, nein!“, rief ihr entsetzter Vater, doch sie achtete nicht darauf. Als sie neben dem Mann niederkniete und ihm das ersehnte Nass an die Lippen hielt, wurde sie derb zur Seite gestoßen.

„Was fällt dir ein, Weib?“ Ein grobschlächtiger Kerl mit eiskalten Augen stand über ihr. Langsam erhob sie sich und stellte sich vor ihn hin.

Ohne die geringste Spur von Unsicherheit zu zeigen, erwiderte sie seinen Blick.

„Dieser Mann bittet nur um etwas Wasser. Wenn er stirbt, wird er euch nicht mehr von Nutzen sein.“ Durch eine Kopfbewegung gab sie ihrem Vater zu verstehen, dass er sich heraushalten sollte. Mit geballten Fäusten beobachtete der die Szene weiter und hielt sich nur widerwillig zurück.

„Wen interessiert das? In ein paar Monaten gibt es wieder Nachschub. Und jetzt verzieh dich!“

Seine Peitsche erhob sich in die Luft und wollte auf den Mann am Boden niederfahren, als Laniki seine Hand ergriff und ihm fest in die Augen sah. Unter ihrem Blick veränderte sich das kalte Gesicht des Mannes zusehends. Die Umstehenden wurden Zeuge einer unglaublichen Vorstellung. Der Koloss ging auf die Knie, als würde ihn eine untragbare Last zu Boden ziehen. Er vergrub sein Antlitz in den Händen und begann bitterlich zu weinen. Ein anderer Gefangener half dem Alten auf und nahm rasch den Wasserschlauch an sich. Sie warfen Laniki einen dankbaren Blick zu und machten sich schnell daran, den Mitgefangenen zu folgen. Inzwischen kamen andere Soldaten zu ihnen, um nachzusehen, was die Gruppe aufgehalten hatte.

„He, Batu, was ist mit dir?“, fragten sie den immer noch am Boden hockenden, gebrochenen Mann. Als der keine Reaktion zeigte, zogen sie ihn hoch.

Laniki und Bahan nutzten die allgemeine Verwirrung, um sich aus dem Staub zu machen.

Als sie weit genug entfernt waren, hielt der völlig entsetzte Vater sein Fuhrwerk an und polterte los. „Bist du verrückt geworden? Wir hätten jetzt tot sein können! Was, wenn dieser Schinder nicht zufällig zusammengebrochen wäre?“

Laniki blieb ruhig. Sie konnte seinen Zorn verstehen. Sie wusste, dass ihr Vater im Grunde richtig fand, was sie getan hatte. Ihm fehlte nur selbst der Mut dazu, genau wie etlichen anderen auch. Den meisten war es wirklich egal, was mit den Tosmanen geschah, aber es gab Menschen, die sich beim Anblick solcher Szenen zumindest unwohl fühlten, doch dies aus gutem Grund verbargen. Mitgefühl für den Feind, soweit es überhaupt irgendwo auftauchte, wurde hart bestraft.

„Er ist nicht zufällig zusammengebrochen“, sagte sie nur knapp.

„Wie meinst du das?“, fragte Bahan überrascht.

„Ich habe einiges bei Tana gelernt, wie du weißt. Ich habe ihn gezwungen, seine eigenen Untaten zu sehen. Sagen wir einfach, ich habe ihm mein Mitgefühl geliehen. Er hat sich dabei selbst durch meine Augen gesehen. Sein Herz hat noch nie einen solchen Schmerz und solche Scham durchlebt wie in diesen Sekunden. Ihm muss es endlos erschienen sein. Dieses Gefühl hat er nicht ausgehalten. Nur darum ist er zusammengebrochen.“ Aus ihren Worten klang keine Genugtuung. Sie empfand eher Mitleid mit diesem Mann, der sein ganzes Leben ohne Gefühl gelebt hatte.

Bahan brauchte noch eine Weile, um sich zu sammeln. Er betrachtete Laniki, als sähe er sie heute zum ersten Mal. Sie hatte sich wirklich verändert! Nur zu gern hätte er etwas von ihrem Mut gehabt. „Und wird er sich in Zukunft bessern?“, fragte er zögernd.

„Ich glaube, die Sache wird ihm in Erinnerung bleiben, aber deshalb besitzt er noch lange kein gutes Herz. Er ist allein nicht dazu in der Lage, fremdes Leid zu empfinden.“

„Wie auch immer, wir können jetzt nicht mehr zur Festung fahren. Man würde dich wiedererkennen und sofort in den Kerker werfen lassen.“

Laniki dachte einen Augenblick nach. „Verlasse dich auf deine Instinkte!“, hatte Tana ihr geraten. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie den Dingen ihren Lauf lassen sollte. Sie war sich plötzlich sicher, dass sie sogar zur Festung musste! Doch sie wollte den Vater nicht unnötig in Schwierigkeiten bringen. Bald kam ihr eine Idee.

„Nein! Wir werden wie geplant hinfahren. Aber wir werden nicht gemeinsam hineingehen. Wenn dich jemand mit mir in Verbindung bringt, dann behaupte, dass du mich nur auf deinem Wagen mitgenommen hast, aber nicht kennst. Dann erledige deine Geschäfte und fahre nach Hause.“

„Das kommt überhaupt nicht infrage!“, rief Bahan erzürnt aus. „Ich werde meine Tochter nicht dieser Gefahr aussetzen, und wie ein Feigling verschwinden!“

Laniki beugte sich zu ihm hin und sah ihm verschwörerisch in die Augen.

„Doch, du musst! Mein Weg hat begonnen und ich werde ihn jetzt gehen. Nur auf diese Weise kannst du mir helfen. Ich muss mir sicher sein, dass Mutter und du in Sicherheit seid.“

Langsam begriff Bahan, dass er keinerlei Chance hatte und begann sich damit abzufinden. „Also gut!“, sagte er nur knapp und das Fuhrwerk setzte sich wieder in Bewegung.

Sie warteten bis kurz vor Sonnenuntergang und verabschiedeten sich schweren Herzens, für unbekannte Zeit, voneinander. Als Laniki sah, dass der Wagen das Tor passiert hatte, wartete sie noch eine Weile und tat es ihm gleich.

Sie ließ sich durch die Gassen treiben und beobachtete, wie ein paar Männer - überwiegend Soldaten - bei einem Becher Wein Karten spielten und dabei nicht selten in Streit und wilde Raufereien ausbrachen. Laniki wusste nicht, was sie tun sollte, darum setzte sie sich an einen Brunnen und wartete einfach, bis das Schicksal sie weiterführte.

In den Mauern der Festung

Im Inneren der Festung herrschte unterdessen große Aufregung. Die unglaubliche Geschichte vom Nachmittag hatte schnell ihre Runde gemacht. Jeder redete über die schöne junge Frau, die einen Soldaten bezwungen hatte. König Saul wanderte, in höchstem Maße beunruhigt, durch die Halle.

Ihm dicht auf den Fersen sein Berater und Seher Salim, ein höchst abstoßendes hageres Männchen, mit stechenden schwarzen Augen.

„Es könnte sich durchaus um das Mädchen aus der Prophezeiung handeln, mein König. Ich sagte Euch schon des Öfteren, dass die Zeichen auf ihr baldiges Erscheinen hindeuten. Ich habe den Soldaten eindringlich befragt. Er sagte mir, dass er eine dieser Kreaturen antreiben wollte, als sich ihm dieses Weibsbild in den Weg stellte. Sie hätte etwas von Mitleid gefaselt und ihm dann einen Zauber an den Hals gehetzt, der ihn für eine Weile alles infrage stellen ließ, was er bisher für richtig hielt. Zum Glück ist er wieder der Alte. Nicht auszudenken ...!“

Saul blieb ruckartig stehen und drehte sich zu ihm herum. „Schweig! Ich werde diese Hexe finden und töten lassen!“, zischte er leise.

„Bei allem Respekt, Hoheit. Warum wollt Ihr Euch diese Gelegenheit nicht zunutze machen? Ich habe gesehen, dass sie sich auf die Suche nach Eras verschollener Amphore begeben wird. Stellt Euch vor, Ihr gelangt durch sie in ihren Besitz.“ Er machte eine Pause um dem König Zeit zu geben, seinen Gedanken zu folgen. „Ihr könntet Zerus' Armee unterwandern. Ein Tröpfchen konzentriertes Mitgefühl hier, ein Tröpfchen Liebe da. Ihre wagemutigen Krieger würden zu solch jämmerlichen Memmen mutieren wie dieser Soldat heute. Und Ihr wäret für immer Herrscher über das neu erstandene Assan! Wer sollte je dahinterkommen?“

Saul blickte ihn mit jenem Ausdruck der Anbetung an, mit dem er jeden gelungenen Vorschlag seines Beraters bedachte. Dieser wiederum sah selbstzufrieden zu, wie er den Köder schluckte.

„Das ist genial, aber du hast etwas Entscheidendes vergessen! Glaubst du etwa, sie geht das Ding für mich holen?“ Die eben noch so bewundernde Miene des Königs hatte sich in eine sarkastische Fratze verwandelt.

Doch Salim kannte ihn schon von Geburt an und ließ sich davon nicht weiter beeindrucken. „Nun, natürlich nicht, wenn Ihr sie direkt fragt. Umgarnt sie! Heuchelt ihr vor, Ihr steht auf ihrer Seite. Unterstützt sie mit allen Mitteln.“ Salim sah nun kalt lächelnd seiner Marionette entgegen.

Der König erwiderte triumphierend: „Sucht sie und bringt sie zu mir!“

Unterdessen beobachtete Laniki die Menschen ringsum. Sie hatte sich ein Tuch um den Kopf geschlungen, um nicht erkannt zu werden. In der Hand hielt sie das Medaillon und bat Tana um Hilfe. „Bitte Tana, schick mir ein Zeichen!“, flüsterte sie inständig.

Da bewegten sich zwei angetrunkene Männer auf sie zu.

„He, Kleine, was sitzt du da so allein herum?“, sagte einer der beiden und zerrte sie hoch. Dabei rutschte ihr das Tuch herunter.

Der Mann schnalzte vor Wonne mit der Zunge. „Was für eine Schönheit! Ich habe dich hier noch nie gesehen. Dabei dachte ich, inzwischen jedes Weib in der Stadt zu kennen“, raunte er ihr entgegen und sie konnte den Alkohol in seinem Atem riechen. Die Männer begannen damit, sie hin und her zu stoßen.

Da ertönte aus einiger Entfernung eine Stimme. Ein weiterer Mann eilte auf sie zu und wurde von einem Tross Wachen verfolgt. „Das ist sie! Das Weibsbild, das mich verhext hat.“

Ungläubig blickten sich Lanikis Angreifer an. „Was redest du für einen Unsinn?“, schrie einer der beiden dem Mann entgegen. Doch der wies mit der Hand auf seine bewaffneten Begleiter und brachte ihn damit zum Schweigen.

„Wir haben den Befehl des Königs, dieses Mädchen zu verhaften und direkt zu ihm zu bringen“, verkündete der Anführer der Wachen.

„Aber bei den Göttern, was soll die denn getan haben?“ Lanikis Peiniger staunten nicht schlecht.

„Das geht nur den König was an!“ Mit diesen Worten nahmen sie das Mädchen mit sich fort und die Männer machten sich eilig aus dem Staub.

Ohne ein Wort der Erklärung wurde Laniki in die Festung geführt. Sie gingen durch lange dunkle Flure, bis sie zu einem riesigen Eingangsportal gelangten. Nachdem man Meldung gemacht hatte, wurde sie hineingeschoben und die Wachen entfernten sich eilig.

 

Mit einem dumpfen Grollen schlossen sich die Türen der Halle hinter ihr. Der Raum war von grauer Düsternis erfüllt und Laniki begann zu frösteln. An den Wänden sah sie Bilder der grimmig dreinblickenden Ahnen des Königs. Durch die geöffneten Fenster drang ein kalter Windhauch und spielte mit den langen Vorhängen. Nicht weit von ihr entfernt stand König Saul mit seinem Berater. Das Mädchen spürte sofort, dass in diesem Raum alles andere als Aufrichtigkeit zu finden war. Ehrerbietig verneigte sie sich dennoch vor ihrem König. Sie wollte das Spiel mitspielen.

„Majestät!“, grüßte sie höflich.

„Du bist also die Auserwählte? Ein kleines zartes Geschöpf von solcher Schönheit hat die Macht, unsere Länder zum lang ersehnten Frieden zu führen?“ Ein aufgesetztes Lächeln strafte seine Worte Lüge.

Doch Laniki ließ sich nichts anmerken. „Wie kommt ihr darauf, dass ich die Auserwählte bin?“, fragte sie freundlich zurück.

„Es hat sich herumgesprochen, was heute auf der Straße geschehen ist. Daraufhin hat mein Seher die Geister befragt und der Verdacht hat sich bestätigt. Willst du es etwa abstreiten?“

Laniki fand dieses Schauspiel unwürdig und es kostete sie alle Anstrengung, sich zurückzuhalten. „Nein, das will ich nicht“, antwortete sie ruhig. „Ich weiß nicht, weshalb Eras Wahl gerade auf mich gefallen ist, aber ich will ihr mit all meinen Kräften dienen.“ Sie sah ihn mit entschlossener Miene an. „Ich bin mir jedoch bewusst, dass Ihr nicht gerade zu ihren Anhängern zählt, Majestät. Muss ich befürchten, dass Ihr mich aufhalten werdet?“ Herausfordernd blickte sie ihm ins Gesicht.

„Keineswegs, mein Kind. Ein alter Mann wie ich sehnt sich nach Ruhe und Frieden. Ich habe diese Kämpfe schon so lange satt. Doch was soll ich tun? Ich kann schlecht Zerus' Männer ungehindert in unser Land einfallen lassen, um unser Volk zu unterdrücken!“ Wieder warf er ihr ein falsches Lächeln zu.

'Und was war dann mit den Überfällen, die du auf Tosman verübt hast?', dachte Laniki bei sich. Laut sagte sie: „Es ehrt Euch, dass Ihr dem Volk Frieden wünscht. Ich darf also auf Eure Hilfe hoffen?“

Saul sah sie eine Weile aufmerksam an. „Unter einer Bedingung! Du bringst Eras Amphore zu mir, bevor du sie in den Tempel trägst. Erfüllst du einem alten Mann wie mir den Wunsch, das Wichtigste auf der Welt kurz in seinen Händen zu halten?“ Seine flehende Leidensmiene war genauso unglaubwürdig wie seine Worte.

Laniki hatte keine Wahl. Sie traute ihm in keiner Weise, doch wenn er sie in den Kerker sperrte, konnte sie gar nichts mehr ausrichten. Sollte sie die Amphore erst einmal haben, würde ihr schon etwas einfallen. „Wenn das Eure einzige Bedingung ist, kann ich sie nicht abschlagen“, entgegnete sie freundlich.

„Dann sind wir uns einig. Ich werde dir ein paar Männer zur Begleitung mitgeben und Proviant für die Reise. Mehr kann ich leider nicht für dich tun.“

Da kam ihr eine Idee und sie wagte einen großen Vorstoß. „Darf ich einen Wunsch äußern, was meine Begleitung betrifft?“

Der König hob überrascht die Brauen, ließ sie aber weitersprechen.

„Ich hörte von einem jungen Mann. Ich glaube, er heißt Luka. Er soll ein überragender Kämpfer sein, obwohl noch sehr jung an Jahren. Genau solche Männer brauche ich zu meinem Schutz, denn es wird sicher kein Spaziergang werden. Ich würde ihn gern zu meinen Begleitern zählen.“

Sauls Augen verengten sich zu Schlitzen. Er kannte den jungen Krieger. Er war überragend in seiner Art zu kämpfen. Wieso wollte sie ihn? Vielleicht, weil man ihn überall lobpreiste für seinen Heldenmut? Andererseits war es auch in seinem Sinne. Luka war ihm zutiefst ergeben und würde sich von ihr nicht auf dumme Gedanken bringen lassen.

„Einverstanden! Du sollst ihn haben“, stimmte er zu.

Laniki versuchte ihren Triumph zurückzuhalten und nickte nur dankend in Sauls Richtung. Innerlich jedoch schrie sie vor Freude. Man führte sie hinaus und brachte sie in einem einfachen Quartier unter.

Am nächsten Morgen wurde Luka zum König beordert. Ergeben ging er vor seinem Herrscher auf die Knie. „Ihr habt nach mir verlangt, Majestät?“

„Steh auf, mein Sohn! Ich habe einen Auftrag für dich, der äußerstes Stillschweigen verlangt.“

Erwartungsvoll blickte Luka auf seinen Herrn.

„Du hast sicher schon einmal von der Prophezeiung gehört? Das Menschenkind, das kommen wird, um den Bewohnern von Assan Eras Gaben zurückzubringen?“

Luka war überrascht. Er hatte einen Befehl zu einem Feldzug oder etwas Ähnliches erwartet. Was hatte das zu bedeuten? Respektvoll verbarg er seine Verwunderung.

„Ja, ich hörte schon davon. Aber ist das nicht nur eine Legende?“

„Nein, das ist es nicht. Die Auserwählte ist hier in der Festung. Ich habe ihr Geleit zugesichert.“

Wieder war Luka zutiefst überrascht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Saul plötzlich zu einem Anhänger Eras geworden war. Doch es oblag ihm nicht, danach zu fragen.

„Ich will diese Amphore haben, wenn das Mädchen sie wirklich finden sollte! In den Händen unserer Feinde könnte sie großen Schaden anrichten.“

Nun begann Luka zu verstehen. „Ich werde alles tun was nötig ist, um Euch nicht zu enttäuschen, mein König!“

„Das will ich hoffen! Ich werde dir meine Befehle zukommen lassen. Wähle ein paar gute Männer aus deinen Reihen! In zwei Tagen solltet ihr bereit zum Aufbruch sein.“

Luka wollte sich gerade verabschieden, da hielt Saul ihn noch einmal zurück.

„Eines noch. Sollte etwas schiefgehen, und das Mädchen sich weigern, mir die Amphore zu überbringen, dann töte sie oder zerstöre Eras Gabe. Um keinen Preis darf sie ihrer Bestimmung zugeführt werden. In ein paar Wochen soll der Feldzug gegen Tosman beginnen. Ich habe große Hoffnungen, dass wir sie diesmal endgültig schlagen können und keine der verschwundenen Gottheiten soll mich daran hindern!“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und Luka verließ nachdenklich die Halle.

Unterdessen grübelte Laniki darüber nach, wohin sie überhaupt gehen sollte. Die Amphore konnte schließlich überall sein. Was sollte sie Luka und seinen Männern sagen, wenn sie nach dem Weg fragten? Sie beschloss zu meditieren und hoffte, so vielleicht Kontakt zu Tana herzustellen. Laniki versetzte sich in Trance und konzentrierte sich mit voller Seele auf ihre Lehrerin. Helles Licht hüllte sie ein und eine tiefe Wärme erfüllte ihr Herz. Dann konnte sie Tana spüren. Es fühlte sich an wie früher, als sie gemeinsam geübt hatten.

Tana, ich werde mich bald auf den Weg machen. Wo soll ich hingehen? Gib mir ein Ziel!“

Nach einer schier unendlich erscheinenden Zeit, bekam sie Antwort.

Deine Reise führt dich zum Silamgebirge. Wähle deine Route so, dass du die Dörfer Hurt und Suma durchquerst. Dort findest du deine Gefährten. Ihr werdet euch erkennen, wenn ihr euch begegnet. Hab keine Angst, du bist auf dem richtigen Weg ...“

Dann war sie schon wieder verschwunden. Laniki war enttäuscht. Sie hätte noch so viel mehr wissen wollen. Aber wenn sie ehrlich war, hatte Tana ihre Frage beantwortet. Mehr konnte sie wohl nicht erwarten. Um die Zeit sinnvoll zu nutzen, begann sie damit, die alten Übungen zu machen. Sie schärfte ihre Sinne für das Kommende. Doch immer wieder wurde sie abgelenkt von ihren eigenen Gedanken: Wie würde Luka reagieren? Würde ihr Verhältnis wieder so werden, wie es einst war? Sollte sie ihn in alles einweihen? Die Aufregung und die Vorfreude auf das Wiedersehen stieg ins Unermessliche. Doch es war wichtig, einen kühlen Kopf zu behalten. Er war kein kleiner Junge mehr. Laniki musste, nach allem was sie gehört hatte, damit rechnen, dass er einer von jenen kampfeshungrigen jungen Männern geworden war, die Saul blind vertrauten. Bei dem Gedanken begann sie zu frösteln. Was wenn sie sein reines Herz verdorben hatten? Sie beschloss ihre Identität zunächst so lange vor ihm verborgen zu halten, bis sie sich weit genug von der Festung entfernt hatten. Das würde sicher nicht einfach werden, war aber unumgänglich. Der König durfte nichts von ihrer gemeinsamen Vergangenheit erfahren, sonst würde er leicht Rückschlüsse auf Lanikis Eltern ziehen und hätte damit ein Druckmittel gegen sie beide.

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