Die Legende von Assan

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Mit Tränen in den Augen und zitternden Händen, weckte sie ihren Mann.

„Es ist so weit, wir werden Laniki verlieren!“, keuchte sie ihm aufgeregt entgegen.

Er nahm seine schluchzende Frau in den Arm. „Beruhige dich! Was ist denn geschehen?“, fragte Bahan. Uma erzählte ihm alles und dann saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander auf ihrer Bettstatt.

„Liebste, wir haben es immer gewusst. Sie ist nicht nur ein Geschenk für uns, sondern auch die Hoffnung für so viele Menschen. Wir hatten nur das Privileg, sie bis hierher zu begleiten. Lass sie gehen und alles wird ein gutes Ende nehmen. Ich fühle es in meinem Herzen.“

Sie antwortete nur mit einem schwachen Nicken, das von einem tiefen Schluchzen begleitet wurde. „Aber sie ist doch fast noch ein Kind!“

„Sie ist fünfzehn! Man muss und wird sie auf ihre Aufgabe vorbereiten. Und dies hier ist wohl eine der größten Herausforderungen, denen sich ein Mensch je stellen musste.“

Den Rest der Nacht lagen sie wach und überlegten, wie sie es Laniki am besten beibringen sollten.

Sie entschieden sich für den direkten Weg.

Eines Abends bat Uma das Mädchen, mit ihr gemeinsam Eras Altar aufzusuchen, um dieser ein paar Blumen zu bringen. Als sie vor dem Stein knieten, begann sie mit ihrer Geschichte. Sie wiederholte für Laniki zunächst die bruchstückhafte Überlieferung der Prophezeiung. Dann erzählte sie ihr von dem lange unerfüllten Kinderwunsch und der Nacht, als ihr Era das erste Mal erschienen war. Langsam und voller Ehrfurcht begriff das Mädchen das wahre Ausmaß von dem, was ihre Mutter ihr zu sagen versuchte.

Als Uma alles offenbart hatte, was sie wusste, blieben sie schweigend nebeneinander hocken.

„Ich soll das Kind aus der Prophezeiung sein? Aber das ist doch nicht möglich?“, unterbrach Laniki nach einer Weile die Stille.

Die Mutter griff nach ihrer Hand. „Doch, das ist es! Und wenn du darüber nachdenkst, erkennst du auch die Zeichen dafür. Ist dir nie aufgefallen, dass du es oft geschafft hast Schmerzen zu lindern oder Streit zu schlichten, ohne dass du etwas Besonderes dafür getan hast? Und Luka? Du hast - wie auch immer - seiner Mutter damals die Gewissheit gegeben, dass es ihm bei uns gut gehen würde. Ich bin mir sicher, dass die Göttin auch dabei ihre Hand im Spiel hatte.“

Laniki erinnerte sich zurück. Nie hatte sie dieses verzweifelte Gefühl vergessen, das sie befiel, als sie der Fremden damals in die Augen sah. Mit ihren vier Jahren konnte sie es noch nicht deuten. Jetzt war sie fünfzehn, fast schon eine Frau, und wusste, dass sie in diesem Moment das Leid einer Mutter gefühlt hatte. Nein! Es war das Leid dieser Mutter, dieser fremden, gefangenen Frau, welches sie gespürt hatte. Es war eine Art Magie gewesen, die sie beide in diesem Moment verband. Sie hatten einander in die Herzen gesehen. Ein Vorzeichen Eras? Ihre Gedanken kreisten in der Vergangenheit und Laniki stieß auf immer mehr merkwürdige Ereignisse, die sie erlebt, aber Dank ihrer kindlichen Naivität nie überdacht hatte. Sie bekam furchtbare Angst, als ihr die Größe und das Gewicht des ihr auferlegten Schicksals bewusst wurde. Doch dann legte sich die Angst wieder und eine angenehme Wärme in ihrem Inneren verschaffte ihr die Erkenntnis, dass sie nicht allein war. Sie hörte tief in sich hinein und nahm die Gegenwart von etwas wahr, das sie nicht beschreiben konnte.

„Era ist hier! Ich kann ihre Nähe spüren“, flüsterte sie ihrer Mutter zu. Sie gab sich noch eine Weile diesem seltsam angenehmen Gefühl hin und sammelte Kraft daraus.

Entschlossen stand das Mädchen auf. „Ich werde es versuchen, Mutter. Es hat keinen Zweck sich dagegen zu wehren, da es mir sowieso vorbestimmt ist.“ Sie hielt Uma die Hände entgegen und half ihr beim Aufstehen.

Langsam gingen sie zum Dorf zurück. Laniki musste an Luka denken. Er war auf sie geprägt und suchte noch immer ihre Nähe, wann immer es ging. Er war inzwischen zwölf und würde in nicht allzu langer Zeit seinen dreizehnten Geburtstag feiern. Laniki war nicht viel älter als er, aber er sah zu ihr auf. Sie hatte immer versucht, ihn von den Gesprächen der anderen Jungen fernzuhalten, die schon früh begannen, ihren Hass gegen Tosman zu entwickeln. Sie drangen früher oder später alle darauf, in Sauls Heer einzutreten und so viele Gegner zu töten, wie ihnen nur möglich war. Es fiel ihr immer schwerer Luka davon zu überzeugen, dass es sich bei den gegnerischen Kriegern auch nur um Menschen handelte, wie sie es selbst waren. Immer öfter kamen auch über seine Lippen die üblichen Hasstiraden gegen die Bewohner Tosmans. Er konnte ja nicht ahnen, dass er selbst einer von ihnen war. Sie hatten es auch ihm gegenüber bei der Geschichte mit Bahans toter Base belassen. Nun redete er ständig davon, es seinem gefallenen Vater gleichzutun und später ebenfalls ins königliche Heer einzutreten, um dessen Tod zu rächen.

Was würde nur aus ihm werden, wenn sie ihn alleinließ.

Besorgt schaute sie ihre Mutter an. „Luka! Er wird leiden, wenn ich gehe. Können wir es ihm erklären? Er braucht mich doch. Er wird denken, dass ich ihn im Stich lasse.“

„Wir können ihm nicht die Wahrheit sagen. Noch nicht. Aber er wird es überstehen, denn wir sind für ihn da.“

Laniki hatte ihre Zweifel, doch sie musste Vertrauen haben. Als sie die Hütte betraten, stand Bahan mit fragendem Gesicht an der Feuerstelle. Als Uma ihm zunickte, kam er ihnen entgegen und nahm seine Tochter wortlos in die Arme.

Tana

Die Wochen vergingen wie im Fluge und der Tag des Abschieds kam. Sie hatten Luka und allen anderen erzählt, dass sich Laniki, weit ab von zu Hause, um eine Stelle als Magd beworben habe, bei der sie sehr gut entlohnt würde. Schon einige junge Mädchen waren diesen Weg tatsächlich gegangen. Der Krieg machte die Menschen arm. Da es immer weniger heiratsfähige Burschen im Umkreis gab, die für die Zukunft der jungen Frauen gesorgt hätten, waren die Eltern gezwungen, ihren Töchtern Arbeit zu suchen. Dies nicht zuletzt in der Hoffnung, dass es in der Ferne noch potenzielle Ehegatten zu finden gab. In der Heimat blieb den Mädchen nur die Möglichkeit, die schwere Arbeit der fehlenden Männer zu übernehmen und wahrscheinlich irgendwann als alte Jungfer zu sterben.

Luka hatte heftig protestiert. Auch jetzt, als Laniki mit ihrem Bündel bereitstand, um von ihm Abschied zu nehmen, hing er an ihrem Arm. Er bat, sie möge ihn doch mitnehmen oder dableiben. Er hatte große Mühe seine Tränen zurückzuhalten, war aber auch zu stolz dazu, ihnen einfach freien Lauf zu lassen.

Liebevoll erwiderte sie seine Umarmung. „Vater und Mutter brauchen dich hier! Du wirst doch ein guter Sohn sein und sie in allem unterstützen?“

Er versicherte es ihr mit einem heftigen Kopfnicken.

„Ich verspreche dir, wenn ich zurückkomme, werden wir uns nie wieder trennen müssen.“

Im Gegensatz zu Luka hielt Laniki ihre Tränen nicht zurück. Bald brannten ihre Augen ebenso schmerzhaft wie ihr Herz. „Ich muss jetzt gehen“, sagte sie leise und schob ihn sanft, aber bestimmt von sich. Dann nahm sie ihr Bündel auf, verabschiedete sich vom Vater und folgte ihrer Mutter zur Tür hinaus.

Es war ungewöhnlich still, als sie durch den nächtlichen Wald liefen. Nur das gelegentliche Knacken eines zertretenen Zweiges und das Geräusch ihres eigenen Atems durchbrach die gespenstische Ruhe.

Als sie an Eras Altar ankamen, wurden sie sich einer Gestalt in ihrer Nähe bewusst.

„Ihr seid pünktlich. Das ist gut“, sagte eine Frauenstimme.

Uma durchfuhr die Erkenntnis wie ein Blitz. Sie kannte diese Frau. Es war die Heilerin, die ihr bei Lanikis Geburt zur Seite gestanden hatte. Als sie ihr Gesicht sah, stellte sie fest, dass sich die Frau in den vergangenen fünfzehn Jahren nicht im Geringsten verändert zu haben schien. Sie sah eher um etliche Jahre jünger aus.

„Du?“, entfuhr es Uma.

„Ja ich! Mein Name ist Tana. Ich diene Era schon seit einer Ewigkeit und das meine ich wörtlich. Glaubst du, die Göttin hätte die Geburt der Auserwählten dem Zufall überlassen?“

Mit einem freundlichen Lächeln wandte sie sich jetzt Laniki zu. „Du hast dich prächtig entwickelt, mein Kind! Hab keine Angst, ich werde dir eine gute Lehrerin sein!“

Aber Laniki hatte keine Angst. Ein Gefühl der tiefen Vertrautheit verband sie sofort mit Tana. Entschlossen, den Abschied so kurz wie möglich zu machen, drehte sie sich zu ihrer Mutter herum und gab ihr einen Kuss auf jede Wange.

„Achtet auf Luka!“, bat sie noch einmal. Dann ging sie zu Tana hinüber. Diese nahm ihre Hand, nickte Uma zuversichtlich zu und zog das Mädchen sanft mit sich fort.

Mit dem Gefühl, ihr Herz würde brechen, schaute die Mutter ihnen nach und begab sich bekümmert auf den Rückweg.

Laniki konnte weder sagen, wie lange sie unterwegs gewesen waren, noch hätte sie je allein den Weg zurückgefunden. Sie gelangten schließlich an eine kleine Hütte, am Fuße eines Berghanges. Drinnen brannte ein Feuer. Es schien fast so, als wären sie erwartet worden. Doch außer ihnen war niemand da. Die Sonne ging bereits wieder unter. Tana wies auf ein einfaches Lager in einer Ecke des einzigen Raumes der Behausung.

„Das ist für dich. Ruhe dich eine Weile aus. Es war ein anstrengender Weg bis hierher.“

Laniki blickte sich um. Es gab neben der Feuerstelle noch einen Tisch mit zwei Stühlen und ein wackliges Regal mit etwas Kochgeschirr, das an der Wand stand. Doch nirgends konnte sie eine zweite Schlafstelle ausfindig machen.

„Und du?“, fragte sie schüchtern.

Tana lächelte sie gutmütig an. „Ich schlafe nie“, sagte sie knapp.

Erstaunt musterte das Mädchen die Frau. Sie sah aus wie Ende fünfzig. Doch etwas stimmte nicht an ihrer Erscheinung. Sie hatte dunkles, mit grauen Strähnen durchwirktes Haar, das sie zu einem Knoten aufgesteckt trug. Das ovale Gesicht kündete von einstiger Schönheit. Sie war mittelgroß und recht zierlich, doch sie strotzte nur so vor Energie und ihre Augen wirkten wie die einer viel jüngeren Frau.

 

„Wer bist du wirklich?“, fragte Laniki mit prüfendem Blick.

Tana lächelte wieder. „Nun, das wirst du früh genug und völlig allein herausfinden“, gab sie zur Antwort. Wohl oder übel musste Laniki sich damit abfinden. Nachdem sie etwas gegessen hatte, kam sie Tanas Aufforderung nach und legte sich nieder. Schnell fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Im Traum sah sie zwei Männer vor sich. Sie konnte sie nicht erkennen, denn ihre Umrisse erschienen nur schemenhaft. Sie kämpften miteinander. Dann hörte Laniki das Geräusch von brechendem Glas und wachte schweißgebadet auf.

Neben ihr stand Tana und schaute ihr fragend ins Gesicht. „Hast du gut geschlafen?“

Laniki setzte sich auf und strich sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. „Ich glaube nicht ... Ich weiß nicht ... Ich hatte einen Traum. Es waren zwei Männer im Kampf miteinander. Ich hatte wahnsinnige Angst. Aber ich weiß nicht warum.“

Tana sah sie aufmerksam an. „Nun, Träume können vieles sein. Aufarbeitung von bereits Erlebtem, Vorboten auf das, was noch kommt oder Warnungen aus unserem Inneren. Was glaubst du, war dein Traum?“

Laniki schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich weiß es nicht.“

Tana lächelte wieder. „Siehst du, das wird ein Teil von dem sein, was ich dir beibringen werde. Erkenne die Zeichen, die dir gegeben werden!“

Das Mädchen erhob sich und machte sich etwas frisch. Dann nahm sie ein einfaches Frühstück zu sich und erwartete gespannt, was der Tag für sie bringen mochte.

Tanas erste Lektionen begannen draußen in der Natur.

„Um die Welt besser zu verstehen, musst du lernen, ihre Zusammenhänge zu erfassen und zu begreifen. Du musst die Zeichen der Natur zu deuten wissen und ihre Schätze ehren. Wenn du alles Leben um dich herum respektierst und achtest, selbst das kleinste, unscheinbare, wirst du daraus Kraft erhalten.“

Sie gingen hinaus. Tana führte sie tief in den Wald hinein und blieb an einem kleinen Bachlauf stehen. Sie beugte sich nieder und ließ das Wasser durch ihre Finger sprudeln.

„Sieh dir das Wasser an. Es entspringt aus einer kleinen Quelle und wird irgendwann zu einem großen Strom. Alles, was du tust und erlebst, kann als kleine Sache beginnen, die irgendwann zu einem gewaltigen Fluss wird, der allen Leben spendet - oder auch vernichtend sein kann. Unterschätze nie die kleinen Dinge, die du tust oder unterlässt. Sie könnten der Anstoß zu etwas sehr Großem und Wichtigem werden und das Leben von vielen Menschen beeinflussen. Ein unbedachtes Wort zum Beispiel oder eine scheinbar kleine, aber folgenreiche Verfehlung.“

Sie gingen weiter und folgten dem Lauf des Wassers. Dabei sammelten sie noch einige Heilkräuter, deren Bedeutung und Wirkungsweise Tana ausführlich erklärte.

In den folgenden Monaten erfuhr Laniki alles, was man über die Pflanzen- und Tierwelt wissen musste, um eben diese Achtung zu erlangen, von der Tana gesprochen hatte.

Eines Tages forderte die Lehrerin mit gewichtiger Miene, Laniki möge ihr folgen. Sie blieb vor dem Regal an der Wand stehen und sagte: „Jetzt werde ich dir eines der großen Geheimnisse zeigen, die ich behüte.“

Zu Lanikis Überraschung offenbarte sich hinter dem wackligen Regal eine geheime Tür. Durch diese betraten sie eine Art Höhle, in der sich eine Kräuterküche sowie einige Truhen befanden. Tana ging zu einer davon, die mit fremdartigen Inschriften und goldenen Beschlägen versehen war. Andächtig strich sie über deren Oberfläche.

„Diese Truhe enthält Schriften von großer Wichtigkeit! Vieles, was darin geschrieben steht, ist der Menschheit verloren gegangen oder sie wollten es einfach vergessen. Ich werde dir ihre Inhalte offenbaren und sie verstehen lehren.“

Rolle für Rolle nahmen sie sich vor. Laniki lernte viel über die Geschichte der Götter und der Menschen. Sie versuchte, sich alles zu merken und war eine aufmerksame Schülerin.

Die Legende von Assan

Etwa ein Jahr nach ihrer Ankunft fragte sich Laniki immer wieder, wie ihr das bisher Gelernte bei ihrer Aufgabe helfen sollte und worin diese überhaupt bestand. Sie beschloss, Tana danach zu fragen.

„Ich habe erwartet, dass du mich bald darauf ansprechen würdest. Du selbst bestimmst das Tempo deiner Ausbildung. Nun gut. Beschäftigen wir uns mit der Legende von Assan!“

Sie kramte eine Weile in den alten Schriften herum und kam bald mit der gesuchten Rolle zurück.

„Was weißt du darüber?“, fragte Tana, während sie sie öffnete.

Laniki dachte nach und erinnerte sich an die Geschichte, die ihre Mutter ihr einst unter der Auflage erzählt hatte, kein Wort darüber mit Fremden zu wechseln, da das Wissen darum nicht erwünscht war.

„Ich weiß, dass die Menschen von Assan einst glücklich und in Frieden miteinander lebten. Doch eines Tages zogen sie den Zorn der Friedensgöttin Era auf sich und sie wandte sich von ihnen ab. Laut einer Prophezeiung soll ein Kind geboren werden, das die Menschen zu ihr zurückführen soll und ihnen so den Frieden schenkt.“ Fast schüchtern setzte sie hinzu: „Ich!“

Tana lächelte sie zufrieden an. „So weit so gut! Doch du sollst die gesamte Geschichte erfahren. Die Legende besagt, dass Assan ein Ort des Glückes und der Freude war. Die Menschen lebten in Frieden und Eintracht miteinander. Sie huldigten verschiedenen Gottheiten. Eine von ihnen war Era, die Göttin des Friedens. Die Gottheiten fanden Gefallen an Assan und seinen klugen, friedlichen Bewohnern und machten ihnen ein Geschenk. In jedem der Tempel hinterlegten sie, zum Zeichen ihrer Verbundenheit, eine kristallene Amphore mit dem Elixier ihrer Gaben. Eras Gabe zum Beispiel bestand darin, die Gefühle der anderen bewusst wahrnehmen zu können und so sein Gegenüber besser zu verstehen. Menschen mit dieser Gabe waren unter anderem in der Lage Streit zu schlichten und so dem Wohle aller zu dienen. Jedes erstgeborene Kind wurde mit einem dieser Elixiere benetzt und so mit einer besonderen Gabe ausgestattet. Die Entscheidung, welche Gottheit das Neugeborene beschenkte, oblag den Eltern. Solange alles im Einklang stand, fehlte es ihnen an nichts. Doch bald verschob sich das Gleichgewicht. Eras Elixier wurde immer seltener gewählt. Andere Tugenden, wie Kampfesmut und Stärke, schienen den Menschen von größerem Nutzen zu sein.

Der Großteil von ihnen vergaß völlig, was das Wertvollste war, das sie besaßen, nämlich die Liebe und die Verbundenheit zu ihren Mitmenschen. Eines Tages wurde Eras Amphore von einer bösen Macht entwendet und an einen unbekannten Ort gebracht. Doch keiner der Einwohner Assans scherte sich darum. Era war erzürnt. Sie verwüstete den Tempel, der einst zu ihren Ehren errichtet worden war, und sprach einen Fluch über das Land aus. Sie raubte den Bewohnern die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden. Zurück blieb nur die Prophezeiung ihrer Hohepriesterin. Sie erschien am Fuße des zerstörten Tempels und sprach ein letztes Mal zu den Menschen: „Ich sage Euch im Namen meiner Herrin Era Folgendes: Ihr werdet großes Leid erfahren! Ohne Mitgefühl und Nächstenliebe wird kein Leben, so wie ihr es kennt, mehr möglich sein. Der Hass wird euch befallen und entzweien. Erst wenn die Zeit reif ist, wird ein Kind geboren werden, welches unter Eras Schutz steht. Dieses Kind wird die Macht haben, eure Herzen zu heilen und euch zu vereinen. Hass und Liebe, fleischgeworden, werden sich in die Augen sehen und einander erkennen, wie zwei Teile einer Seele. Dies wird euch euren Irrweg vor Augen führen. Und nur wenn ihr euren Frevel erkennt, werdet ihr gerettet werden.“ Dann war sie für alle Zeit verschwunden.

Die eitlen Menschen sahen darin zunächst kein Problem. Sie bemerkten den Verlust kaum. Doch ihre Herzen begannen zu frieren. Freundschaften verkamen zu gefühlsarmen Verbindungen, die ihren Nutzen abzuwägen begannen. Das Böse gewann immer mehr die Oberhand. Viele der einst so edlen und furchtlosen Kämpfer Assans gierten nach Macht. Heiler setzten ihr Wissen zur Umkehr ein und brachten Krankheit über ihre vermeintlichen Gegner. Die Menschen kürten die beiden machtgierigsten Männer unter ihnen zu ihren Anführern - Tosman und Meditee, deren Nachfahren noch heute über das geteilte Land regieren. Bald kam es zu blutigen Fehden unter beiden und damit zum Bruch zwischen dem einst so einigen Volk. Es entstanden getrennte Reiche. Tosman und Mediterra.

Als die Götter sahen, wie unwürdig mit ihren Gaben umgegangen worden war, folgten einige von ihnen Eras Beispiel und wandten sich ab. Sie nahmen ihre Gaben zurück und überließen die Unwürdigen ihrem Schicksal. Die Elixiere verschwanden aus den Tempeln und damit auch die besonderen Fähigkeiten. Nur in wenigen Auserwählten bestanden sie unerkannt fort. In jenen, die den Samen des Guten und der Hoffnung noch in sich trugen. Viele von ihnen, ohne zu ahnen, dass sie auserwählt waren, die Gaben der Götter zu vererben. Verängstigt baten sie Era immer wieder um Beistand und wurden auf eine lange Probe gestellt. Bis zum heutigen Tag warten sie sehnlichst auf das verheißene Kind.“

Tana machte eine Pause und sah Laniki an. „Hast du irgendwelche Fragen?“

„Ja! Welche Götter schlossen sich Era an? Welche Gaben wurden den Menschen entzogen?“

„Nun, da war zum Beispiel Sita, die Göttin der Heilung. Sie nahm ihnen die Fähigkeit, mit ihren bloßen Händen zu heilen. Dann noch Telos, Gott der Seher. Er nahm ihnen die Gabe, Visionen zu empfangen und zu deuten.“ Wieder unterbrach sie ihre Rede und schaute erwartungsvoll auf Laniki. Deren Gedanken begannen zu kreisen.

„Was fällt dir dabei auf?“, fragte Tana schließlich.

„Ich habe zwei dieser Fähigkeiten - glaube ich. Manchmal sind Schmerzen unter meinen Händen verschwunden und ich wusste nicht warum. Und damals, als ich Lukas Mutter in die Augen geschaut habe, überkam mich ihr ganzes Leid! Aber es passierte einfach so. Wenn es eine Gabe wäre, dann könnte ich es doch sicher herbeiführen, wann immer ich will, oder?“

„Richtig! Du hast diese Gaben wirklich und auch noch weitere. Du bist obendrein in der Lage zu Sehen, Visionen zu empfangen und die Gefühle deiner Mitmenschen zu empfinden und zu beeinflussen. Ich werde dir beibringen, damit sicher und rücksichtsvoll umzugehen, denn das solltest du. Wenn du deine Gaben zum eigenen, rein egoistischem Vorteil missbrauchst, ist alles verloren.“

Mit diesen Worten hielt sie inne und blickte Laniki eindringlich an.

„Ich werde es lernen!“, sagte das Mädchen mit fester Stimme.

„Also gut. Wenn die Zeit kommt und du bereit bist, wird dich der Ruf ereilen. Du wirst dich auf den Weg machen müssen, um die verschwundene Amphore mit Eras Tugenden zu suchen.“

„Aber wie soll ich denn ...“

Doch Tana brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Eins nach dem anderen! Jetzt wirst du dich erst einmal auf deine Ausbildung konzentrieren müssen!“

Und das tat Laniki dann auch. In den folgenden Jahren lehrte Tana sie das Meditieren, um ihre eigenen Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Heilkraft erprobte sie an kranken Tieren, die sie auf ihren Streifzügen durch den Wald fanden. Dabei machte sie gute Fortschritte. Immer wieder musste sie versuchen, in Tanas Gedanken und Gefühle einzutauchen und diese zu beeinflussen. Anfangs setzten sie sich Rücken an Rücken auf den Boden und Tana konzentrierte sich auf ein bestimmtes Objekt. Laniki musste dann versuchen, das Bild aus dem Kopf ihrer Lehrerin vor ihrem eigenen inneren Auge zu sehen. Nur sehr langsam erlangte sie Kontrolle über diese Gabe und bekam bald Zweifel, es überhaupt irgendwann richtig zu erlernen. Tana erklärte ihr, wie wichtig es war, dass sie miteinander ohne Worte kommunizieren konnten, da dies später der einzige Weg sein würde, über den sie Kontakt halten könnten. Weil Laniki bei ihrer Aufgabe nicht auf Tanas Rat verzichten wollte, strengte sie sich um so mehr an.

Visionen hatte sie keine, außer diesem immer wiederkehrenden Traum von den beiden kämpfenden Männern und dem zerbrechenden Glas. Auch Tana konnte ihr dazu nichts hilfreiches sagen. „Wenn du es erkennen sollst, wird es dir schon offenbart werden.“

Die Zeit verging und Tana wurde so etwas, wie eine zweite Mutter für das Mädchen. Sie verstanden sich prächtig und immer öfter auch ohne Worte. Im wahrsten Sinne. Irgendwann schafften sie es wirklich, sich mit purer Gedankenkraft zu verständigen. Sie führten ganze Gespräche auf diese Weise. Es war am Anfang sehr anstrengend und erforderte die volle Energie und Konzentration Lanikis, doch es war auch eine gute Übung, um die Sinne des Mädchens zu schärfen. Bald jedoch hatten sie beide viel Spaß an dieser Form des Lernens.

 

Eines Tages kam Tana mit einem überraschenden Vorschlag. „Wir werden heute zu einer Wanderung aufbrechen und unter Menschen gehen. Nur so können wir prüfen, wie weit du inzwischen gekommen bist.“

Völlig überrascht und sogleich erfreut ob dieser Aussicht, fiel ihr das Mädchen um den Hals. Es war nun schon mehr als fünf Jahre her, dass sie ihre Familie verlassen musste. Seit jenem Tag hatte sie zu niemandem außer Tana Kontakt gehabt. Geduldig ergab sich Laniki in ihr Schicksal und versuchte das Heimweh und die Sehnsucht nach den geliebten Menschen mit sich allein auszumachen. Tana war das natürlich nicht verborgen geblieben, doch sie hatte mit Wohlgefallen beobachtet, wie das Mädchen ihre eigenen Sehnsüchte und Interessen hinter das Wohl aller anderen stellte. Ein Wesenszug, der unabdingbar war für das, was Laniki noch vor sich hatte.

Nach einem etwa zweistündigen Fußmarsch quer durch den Wald, kamen sie auf eine Weide. Unten im Tal lag eine größere Ortschaft. Zielstrebig gingen sie darauf zu und stellten erfreut fest, dass gerade Markttag war. Sie nutzten die Gelegenheit zu ein paar notwendigen Einkäufen und ließen sich mit der Menge treiben. Es gab alles, was das Herz begehrte. Stände mit gebrannten Mandeln, die verführerisch dufteten, bunte Stoffe und Tücher, Schmuck, ein breites Sortiment an verschiedenem Geschirr, Fleisch, Obst, Gemüse. Laniki konnte sich nicht sattsehen. Doch gleichzeitig zogen die Menschen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Laniki konnte all die fremden Gefühle spüren. Es war alles nur undeutlich, brachte sie aber dennoch völlig durcheinander. Bisher war sie immer mit Tana allein gewesen und ständig bemüht, ihre Fähigkeiten diesbezüglich auszubauen. Doch mit dem, was hier auf sie einströmte, war sie vollkommen überfordert. Sie wurde nervös.

Tana, die damit wohl gerechnet hatte, zog Laniki zur Seite.

„Jetzt kommt der andere Teil der Lektion. Du musst lernen dich zu verschließen und deine Gabe nur dann einzusetzen, wenn du es für nötig hältst.“

„Ja, aber wie?“, fragte das Mädchen ratlos.

„Versuch es einfach! Nutze, was du beim Meditieren gelernt hast. Ruhe in dir. Am Anfang wird es dir noch schwerfallen, aber irgendwann übernimmt dein Unterbewusstsein automatisch die Kontrolle und du kannst es leicht steuern.“

Laniki kamen Tanas Worte vor wie blanker Hohn. Doch sie wollte es wenigstens versuchen. Und nach ein paar Stunden hatte sie mäßigen Erfolg. Mit viel Willensstärke schaffte sie es, sich gegen die äußeren Einflüsse abzuschirmen und nur noch ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen.

„Ich glaube, du hast es begriffen“, sagte Tana nur knapp. „Dann würde ich vorschlagen, dass wir uns langsam wieder auf den Rückweg machen.“

Als sie die Ortschaft schon fast verlassen hatten, kamen sie an einer Menschenansammlung vorbei und wurden Zeuge eines üblen Vorfalls. Ein Mann war gerade damit beschäftigt, auf einen kleinen Jungen einzuschlagen, der ihm angeblich etwas gestohlen hatte. Sofort musste Laniki an Luka denken und vergaß ihren Schutz. Deutlich spürte sie die Angst des Kleinen und auch die Wut des Mannes. Ohne darüber nachzudenken, ging sie dazwischen.

„Laniki!“, hörte sie Tana noch ermahnend rufen, doch es war schon zu spät.

„Warum vergreifst du dich an dem Jungen, du Wüstling!“, schrie sie den Mann an.

„Der kleine Mistkerl hat mich bestohlen!“

Die Umstehenden, die diese grobe Bestrafung offensichtlich für angemessen hielten, pflichteten ihm verständnisvoll bei. „Er hat ihm einen seiner Äpfel entwendet! Wo kommen wir da hin, wenn man das einfach so duldet?“, polterte eine pausbäckige Frau.

Laniki blickte auf den Jungen herab. Er sah sie aus ängstlich geweiteten Augen an und versuchte erfolglos, sich aus dem Griff des Mannes zu befreien.

„Ich hatte solchen Hunger! Meine Eltern sind tot und ich habe schon seit zwei Tagen nichts mehr gegessen“, winselte er zaghaft.

„Der lügt doch!“, kam es aus mehreren Mündern gleichzeitig.

Laniki nahm den Jungen am Arm und konnte durch diese Berührung sein Wesen erkennen. Er sprach die Wahrheit.

Wütend sah sie nun in die Menge. „Nein, das glaube ich nicht!“, sagte sie.

„Mir doch egal, was ein dahergelaufenes Frauenzimmer denkt!“, schrie der Bestohlene. „Der Kerl kassiert jetzt eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hat.“

Unter den zustimmenden Ausrufen der Menge zerrte er den Jungen wieder zu sich und holte zum Schlag aus.

Laniki sprang auf ihn zu und hielt seine Hand fest. „Hast du denn gar kein Mitgefühl?“, fragte sie ihn und blickte in seine Seele.

Nein! Das hatte er eindeutig nicht. Keiner von all denen ringsum.

Doch dann geschah es. Unter ihrem Blick entspannte sich das vor Wut verzerrte Gesicht des Mannes und er ließ langsam seine Hand sinken. „Hier, nimm den Apfel und verschwinde!“, zischte er dem Jungen zu und ließ ihn los.

Der rappelte sich auf und rannte davon.

„Komm jetzt!“, mahnte Tana erzürnt und zog Laniki eilig mit sich fort, bevor sich die überraschte Menge von ihrem Schreck erholte.

Als sie weit genug entfernt waren, polterte die sonst so ausgeglichene Lehrmeisterin los. „Du musst vorsichtiger sein! Wenn du die Aufmerksamkeit der Leute auf dich ziehst, werden bald die Falschen davon erfahren und du machst alles zunichte!“

Laniki fühlte sich zu unrecht angegriffen. „Soll ich etwa dabei zusehen, wenn schwache Kinder misshandelt werden? Wozu soll diese Gabe dann gut sein?“

Tana holte tief Luft. Sie konnte verstehen, was in dem Mädchen vor sich ging, doch hier ging es um mehr. Sie versuchte sich wieder zu beruhigen und sprach nun ohne Zorn in ihrer Stimme weiter. „Hör mir zu! Du hast im Grunde das Richtige getan, doch sie werden gespürt haben, dass hier geheime Kräfte am Werk waren. Was, wenn dich jemand beobachtet und dich verfolgt, um deine Gaben für sich zu missbrauchen. Ich werde nicht immer bei dir sein, um dich zu schützen. Hab Geduld! Die Zeit wird kommen, in der die Menschen wieder Mitgefühl ihren Nächsten gegenüber entwickeln. Doch dazu brauchen sie dich!“

Laniki begann zu begreifen was Tana ihr sagen wollte. Kleinlaut gab sie ihr recht.

„Du musst einschätzen lernen, wann und in welcher Form du dich für andere einsetzen darfst“, fügte Tana verständnisvoll hinzu und strich ihr sanft übers Haar.

Eine Weile schwiegen sie.

„Ich glaube, ich muss noch einiges lernen, nicht wahr?“, fragte das Mädchen einlenkend.

„Dazu bin ich ja da, Kindchen.“ Tana zwinkerte ihr aufmunternd zu und dann machten sie sich, Arm in Arm, auf den Rückweg.

Auch in dieser Nacht wurde Laniki von ihrem Albtraum geplagt. Jedoch immer, wenn sie meinte etwas Genaueres erkennen zu können, waren die Bilder wieder verschwunden.