Das Blutsiegel von Isfadah (Teil 2)

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Kamir

Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und sehnte sich nach einem heißen Bad in den Thermen. Es gab in den Kellern des Schlosses mehrere davon, insgesamt vier. Eine war der königlichen Familie vorbehalten, eine den Frauen des Hofstaates, eine den Männern und eine den Offizieren. Kamir hätte durchaus die Therme der königlichen Familie nutzen können, zog es aber vor, sich unter die Offiziere zu mischen. Das brachte ihn den Männern näher und stellte nicht in den Vordergrund, dass er Farids Bruder war. Er hatte sich, trotz seines jungen Alters von inzwischen zweiundzwanzig Jahren, hohes Ansehen bei seiner Truppe verschafft. Das war als Verwandter des Königs nicht wirklich leicht gewesen. Zuerst waren die Männer fest überzeugt davon, dass er diese Stellung nur aus diesem Grunde bekommen hatte. Doch er belehrte sie schnell eines Besseren. Als er hörte, was hinter seinem Rücken gesprochen wurde, befahl er, dass die Truppe einen aus ihren Reihen bestimmen sollte, der gegen ihn im Zweikampf antreten musste. „Wenn euer Mann mich besiegt, werde ich den König bitten, meine Position mit diesem zu besetzten. Wenn ich gewinne, fordere ich von euch Treue und Gehorsam und dass ihr umgehend damit aufhört, wie alte Waschweiber hinter meinem Rücken zu lästern. Derartiges Verhalten ist eines Mitglieds meiner Truppe unwürdig. Nur Feiglinge reden hinter dem Rücken eines anderen Mannes. Und Feiglinge dulde ich in diesem Regiment nicht!“ Einige der Angesprochenen blickten beschämt nach unten. Anderen war anzusehen, dass sie sich Hoffnung darauf machten, für den Zweikampf erwählt und nach einem Sieg, an Kamirs Stelle, im Sattel des Anführers zu sitzen. „In zwei Stunden komme ich wieder und dann erwarte ich euren Auserwählten.“

Als er zurückkehrte, standen die Männer in Zweierreihe um den Exerzierplatz herum. In deren Mitte erblickte er einen wahren Hünen von Mann. Er versuchte, seine Besorgnis beim Anblick dieses Muskelberges zu verbergen, und schritt mit erhobenem Kopf auf seinen Gegner zu. Der brachte sich wortlos in Kampfposition und das Kurzschwert vor sich in Bereitschaft. Kamir tat es ihm gleich. Er musterte sein Gegenüber. Er hatte langes dunkelblondes Haar und einen kurzgeschorenen Vollbart. Der Hüne war sicher ein paar Jahre älter als er selbst und einen halben Kopf größer. Und das, obwohl man auch Kamir nicht gerade als klein bezeichnen konnte. Er hatte aber gelernt, in jeder Situation seine Vorteile zu nutzen. Hier würden sie eindeutig in seiner Beweglichkeit und Geschwindigkeit liegen. Der Muskelberg würde ihn sicher an Kraft überbieten. Kamir zweifelte keinen Moment daran, dass er mit bloßer Faust einen Gaul ins Jenseits befördern konnte. Doch er selbst war viel wendiger und würde dem Gegner keine Chance lassen, ihn zu erwischen.

Kurz entschlossen hatte Kamir das Schwert erhoben und den Kampf eröffnet. Als er den ersten Hieb des Riesen abwehrte, meinte er, dass ihm die Knochen in den Armen brechen müssten. Eine Weile schlugen sie aufeinander ein. Kamir tänzelte dabei geschickt um den Hünen herum, weshalb der des Öfteren ins Leere schlug. Das kostete ihn Kraft und forderte seinen Tribut.

Zufrieden stellte Kamir etwas später fest, dass sein Gegenüber immer schwächer wurde und langsam zu torkeln begann. Auch seine Kräfte ließen nach, doch er hatte noch ein paar Reserven. Als der Riese unvorsichtig wurde, stellte er ihm geschickt ein Bein und hielt dem am Boden liegenden Mann blitzschnell die Klinge an die Kehle. Dem blieb nichts anderes übrig, als sich zu ergeben.

Von da an respektierten ihn die Männer ohne Wenn und Aber. Das alles war nun schon wieder ein paar Jahre her ...

Kamir betrat gedankenverloren die Therme und stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass er allein war. Als er sich seiner Kleidung entledigt hatte, glitt er ins angenehme Nass und tauchte so lange unter, wie es ihm seine Lungen erlaubten. Dann durchbrach er mit einem hörbaren Aufatmen die Wasseroberfläche und warf das nasse Haar nach hinten. Als er aufsah, stand vor ihm eine nackte Schönheit, die er bisher im Schloss noch nie gesehen hatte.

Voller Entsetzen sah sie ihn an und warf sich sofort ein Tuch um den makellosen Leib. „Was tut Ihr da?“, rief sie entsetzt.

„Baden oder was meint Ihr?“, erwiderte er ungeniert und musterte sie eindringlich. Sie hatte langes glattes schwarzes Haar und beinahe ebenso schwarze mandelförmige Augen. Der kurze Moment, der ihm vergönnt gewesen war, um ihren Körper zu mustern, hatte gereicht, um ihm eine Erektion nie da gewesenen Ausmaßes zu verschaffen. Er bewegte sich zum Rand des Beckens, da er befürchtete, sie könne dies durch das klare Wasser hindurch bemerken.

„Aber das ist das Bad für die Edelfrauen!“, zischte sie schockiert.

„Ihr irrt Euch, meine Dame. Dieses befindet sich drei Türen weiter. Ich nehme an, Ihr seid neu bei Hofe?“ Herausfordernd blickte er zu ihr auf.

„Ich bin gestern hier eingetroffen. Mein Vater ist vom König zum neuen Baumeister berufen worden.“ Sie blickte sich unsicher um und griff eilig nach dem Rest ihrer Sachen. „Ich glaube, das hier ist nicht der richtige Ort für eine Unterhaltung!“ Damit war sie verschwunden, noch ehe Kamir sie nach ihrem Namen fragen konnte. Doch die Informationen, die er hatte, reichten durchaus, um sie zu finden. Und er war sich sicher, dass er diese Augen überall wiedererkennen würde.

Und er sollte recht behalten. Schon wenig später, beim Abendessen im großen Saal des Schlosses, sah er sie wieder. Der Tisch des Königs, der quer zu den drei langen Tischreihen auf einer Erhöhung an der Stirnseite stand, blieb heute leer. Er und Ismee behielten sich vor, je nach Belieben in ihren Gemächern oder gemeinsam mit dem Hofstaat zu speisen. Oft nutzte Farid jedoch die Gelegenheit, um ein paar Gespräche zu führen oder um Zerstreuung beim Hofklatsch zu finden. Dann ließ er im Laufe des Tages den Begünstigten eine Einladung an seinen Tisch zukommen. Die auf diese Weise geehrten Höflinge wandelten dann erhobenen Hauptes, unter den neidischen Blicken der anderen, an ihren Platz. Doch heute war diese Ehre keinem vergönnt.

Kamir setzte sich zu seinem ersten Offizier. Dabei handelte es sich um denselben Hünen, der ihm in jenem legendären Zweikampf unterlegen gewesen war. Mittlerweile waren sie gute Freunde geworden.

Lester, so war sein Name, bemerkte Kamirs umherschweifenden Blick. „Falls du mich suchst: Ich bin hier, vor dir!“, sagte er und winkte vor den Augen seines vorgesetzten Freundes herum.

„Ich weiß!“, entgegnete Kamir, ohne seinen suchenden Blick zu unterbrechen. „Wer sollte dich Halbriesen auch übersehen. Ich glaube, das wäre nicht einmal möglich, wenn du dich hier vorsätzlich verstecken wolltest.“

Lester verzog das Gesicht zu einem Grinsen und schüttelte nachsichtig den Kopf. „Wie heißt sie denn? - Es ist doch eine Frau, nach der du suchst, oder? Den Blick kenne ich mittlerweile. Du jagst wieder.“

Kamir sah ihn vorwurfsvoll an. „Du tust ja so, als wäre kein Rock vor mir sicher!“

„Zumindest keiner, dessen Inhalt dich interessiert!“ Lester wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Essen zu. Er hatte immer einen großen Appetit, was bei einem Mann von seiner Statur kein Wunder war. Dementsprechend gut gefüllt war auch sein Teller. Gerade, als er Kamir darauf hinweisen wollte, dass der endlich etwas essen solle, bemerkte er, dass sich der Gesichtsausdruck seines Freundes änderte. Die braunen Augen begannen zu leuchten und ein verführerisches Lächeln umspielte die makellosen Züge. Interessiert folgte Lester dessen Blick und fand den Grund für Kamirs Ausnahmezustand. Jaaa, das erklärte alles! Die Schönheit der jungen Dame, die sich gerade in Begleitung ihrer Eltern einen Platz suchte, wurde nur von einer Frau bei Hofe übertroffen – Ismee. Für Lester gab es nichts Vollkommeneres auf der Welt als seine Königin. Doch diese Tatsache hielt er geheim. Nicht einmal Kamir wusste davon. Umso mehr genoss er es, wenn ihm sein Freund die ein oder andere Geschichte von Ismee und ihrer Tochter erzählte. Die wenigen Augenblicke, die ihm vergönnt waren, wenn er in dessen Begleitung ganz nah an die Königin herankam, waren die schönsten seines Lebens. Doch davon durfte nie jemand etwas erfahren. Der König hätte sicher kein Verständnis für derartige Gefühlsregungen.

„Wer ist sie denn und woher kennst du sie?“, fragte er jetzt.

Kamir erzählte ihm von seiner Begegnung in der Therme. „Du hättest sie sehen sollen! Den Anblick vergisst ein Mann nicht!“, schwärmte er.

In diesem Moment hatte auch die schwarzhaarige Schönheit ihre Badebekanntschaft entdeckt und senkte beschämt den Blick. Doch als sie wieder kurz zu Kamir aufsah, meinte er, den Anflug eines Lächelns um ihre Mundwinkel zu erkennen.

„Hör auf, sie so unverblümt anzustarren!“, ermahnte ihn Lester. „Ihr Vater ist schon aufmerksam geworden und sieht nicht gerade begeistert aus.“

Nun bemerkte auch Kamir den angespannten Ausdruck auf dem Gesicht des Baumeisters. Er beschloss, ausnahmsweise einmal aus seiner Position einen Vorteil zu ziehen, und erhob sich von seinem Platz. „Er wird sicher gleich zufriedener aussehen“, murmelte er noch, bevor er den Tisch verließ und unter den ungläubigen Augen Lesters zu der unbekannten Schönen hinüberschritt.

Dort angekommen, machte Kamir eine höfliche Verbeugung. „Darf ich Euch und die bezaubernden Frauen Eurer Familie am Hofe meines Bruders begrüßen? Ich nehme an, Ihr hattet noch nicht die Gelegenheit zu einer Audienz beim König, da er im Moment sehr beschäftigt ist.“

Dem Vater seiner Angebeteten war anzumerken, dass der junge Mann ihm plötzlich deutlich sympathischer geworden war. Seiner Gemahlin sah man ebenfalls an, wie sich vor ihrem inneren Auge eine Chance auftat. Schnell schob sie ihre Tochter nach vorn, während ihr Mann Kamir seine Familie vorstellte: „Mein Name ist Alesto Zorban, der neue Baumeister des Königs. Dies ist meine Gemahlin Amanda und das ist meine Tochter Sarah.“

 

Und schon hatte Kamir seine Informationen. Er gab beiden Damen einen formvollendeten Handkuss und sah Sarah lange genug in die Augen, um der Mutter ein zufriedenes Lächeln zu entlocken, bevor er sagte: „Solltet Ihr irgendwelche Hilfe benötigen oder jemanden, der Euch herumführt, dann wendet Euch vertrauensvoll an mich!“

Der Baumeister dankte ihm höflich und seine Frau beteuerte, dass sie ganz sicher von seinem Angebot Gebrauch machen würden. Damit entfernte er sich wieder und kehrte zu seinem Platz zurück. Das Ganze war natürlich nicht unbeobachtet geblieben und an den meisten Tischen wurde schon heftig getuschelt.

„Du hast gerade etwa zwanzig Herzen gebrochen und deiner Angebeteten ebenso viele Todeswünsche verschafft“, eröffnete ihm Lester grinsend, als er sich setzte.

„Wir müssen alle mit den grausamen Enttäuschungen und Risiken des Lebens umgehen lernen“, stellte Kamir nur sachlich fest und begann endlich mit seiner Mahlzeit.

Farid

Der König von Isfadah vertrieb sich keineswegs die Zeit bei der Jagd, womit er seine Abwesenheit offiziell begründete. Wie immer in den letzten Jahren benutzte er diese Ausrede auch jetzt, als er sich auf den Weg zum geheimen Draconenlager machte. Endlich konnte er selbst Zeuge jenes Rituals werden, währenddessen neue 'Rekruten' erschaffen wurden. Schon lange hegte er den Wunsch, einmal anwesend zu sein, wenn die Knaben ihren ersten Vergessenstrank bekamen - und 'wiedergeboren' wurden. Er wollte miterleben, was in jenem Moment geschah, in dem sie ihr bisheriges Leben und damit auch ihre Ängste und Sehnsüchte vergaßen. Er wollte mit eigenen Augen sehen, wie sie zu leeren Hüllen wurden, die sich, mit seinen Ideologien gefüllt, bedingungslos der harten und zuweilen grausamen Ausbildung stellten. Da Farid nicht so viel 'Material' zur Verfügung stand wie einst seinen Vorgängern, hatte man die gefährlichsten Teile des Trainings gestrichen. Zu hoch waren früher die Verluste gewesen. Diese Knaben wurden auch so um ein Vielfaches besser, als es normale Soldaten waren.

Zunächst führte man den König durch die Trainingsbereiche der älteren Draconen.

Da es in deren Köpfen kein Leben vor der Zeit im Lager gab, ordneten sie ihr Lebensalter den Jahren ihrer Ausbildung zu. Wenn Farid also einen der ältesten Knaben fragte, wie alt er sei, dann antwortete dieser ohne Umschweife: „Sechs Jahre, mein König und Vater.“ In Wirklichkeit war der Junge jedoch zwölf oder dreizehn. Die Körper der künftigen Krieger sahen deutlich männlicher aus als die ihrer Altersgenossen in Freiheit. Sie waren schon jetzt mit Muskeln bepackt, von denen manch erwachsener Mann nur träumen konnte. Sie beteten Farid regelrecht an. Für sie war er eine Art Gott und Vater in einem. Das Wenige an guten Eindrücken und Gaben, die die Kinder hier erhielten, wurde von den Ausbildern immer mit Farid in Verbindung gebracht. So stand er von Beginn an als die Personifizierung des Guten in der Welt da, das man behüten musste und wofür es sich zu sterben lohnte. „Euer Essen schenkt euch der König. Eure Kleidung, dieses Zuhause!“, erinnerte sie ständig jemand. Und immer wenn einer der Knaben gelobt wurde, was selten genug vorkam und bedeutsamer Leistungen bedurfte, wurde Farid erwähnt. Am Ende eines jeden Ausbildungsjahres wurden die zwei Besten des Jahrgangs mit einer kunstvoll geschmiedeten Waffe belohnt. Diese trugen sie mit geschwollener Brust, unter den anerkennenden und auch neidvollen Blicken ihrer Mitstreiter.

Doch der überwiegende Teil des Draconenlebens bestand aus Entbehrung, Schmerz, Aufopferung und Kälte.

Farid sah sich zufrieden um, während ihm die Ältesten ihr Können präsentierten. Als er einen etwa zwölfjährigen Jungen zum Zweikampf forderte, war ihm schnell klar, dass er diesem Kind gnadenlos unterlegen wäre, sobald es sein ganzes Können zum Einsatz brächte. Was würde das für eine Armee werden! In vier bis fünf Jahren wären die ersten Regimenter einsatzbereit. Hunderte junge kräftige Männer, die für einen Durchschnittskrieger nahezu unbesiegbar waren!

Im Geiste sah er sich schon zum Herrscher über die gesamten Königreiche des Südens werden.

„Hoheit, die Zeit des ersten Trankes ist gekommen!“, kündigte einer der Ausbilder nun an.

Farid und seine Begleiter folgten dem Mann an den Rand des Lagers. Die unfreiwilligen Anwärter wurden jenseits der hohen Umzäunung festgehalten, die das Draconenlager vor neugierigen Blicken schützten sollte. Es war inmitten eines Waldes errichtet worden. Die Stämme der extra dafür gerodeten Bäume hatte man dicht an dicht vertikal in den Boden gerammt. Um Schaulustige fernzuhalten, wurde das Gerücht von reißenden Tieren und verwunschenen Ungeheuern unter die Leute gebracht. Die Wenigen, die sich dennoch in das Dickicht hineintrauten, wurden von Wachen vertrieben, die angeblich gerade eines jener Untiere jagten … oder man brachte die Ahnungslosen einfach um. Der Plan schien aufzugehen, denn bisher hatte noch niemand das Lager entdeckt.

Dennoch kursierten in den Schankstuben schon die ein oder anderen vagen Vermutungen. Natürlich war das Verschwinden der Knaben nicht ganz unbemerkt geblieben. Als Farid von den Gerüchten hörte, hatte er sofort Spitzel ausgesandt, die sich unter das Volk mischten. Sie bedrohten jene, die die Wahrheit aussprachen derartig eindrucksvoll, dass die Unglücklichen künftig nie wieder ein Wort darüber verloren.

Farid nahm es jedoch gelassen. Er war sich sicher, dass all die dummen Schwätzer seinen siegreichen Kriegern voller Stolz zujubeln würden, sobald diese die ersten Siege für Isfadah errungen hätten.

Durch ein Tor im Zaun gelangten sie nach draußen. Dort stand eine größere Hütte auf einer Lichtung. Sie traten ein. In ihrem Inneren war es stickig und düster. Dutzende Knaben saßen verängstigt und dicht an dicht auf dem Boden. Farid meinte, den Geruch von Urin zu vernehmen. Als sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, bemerkte er, dass die Kinder aneinandergekettet waren. Einige weinten leise, andere versuchten tapfer zu sein. Wenn sie erst den Trank des Vergessens eingenommen hätten, würden derartige Vorkehrungen nicht mehr von Nöten sein. Abgesehen davon, dass man nur schwer aus dem Lager ausbrechen konnte, würden sie es nicht einmal versuchen. Für diese Kinder gab es dann kein 'draußen' mehr. Nichts wonach sie sich sehnten, nichts was sie vermissen würden. Es gab nur noch das Leben danach. Und ihr höchstes Ziel würde sein, ihrem König und Vater Ehre zu machen.

Plötzlich waren vor der Tür Geräusche zu hören. Als sie sich öffnete, trat ein Ausbilder mit einem weiteren kleinen Jungen ein. Er wand sich unter dem Griff des Mannes und schrie ununterbrochen dieselben Worte: „Ich muss zu meiner Schwester! Sie wartet auf mich. Ihr habt es versprochen!“

Farids Augen wurden für einen Moment schmal, als er den Jungen musterte. Doch dann entspannten sich seine Züge sofort wieder. Niemand hatte davon Notiz genommen und auch Farid selbst war seine Reaktion nicht wirklich bewusst gewesen.

„Gib Ruhe, Bursche!“, forderte der genervte Ausbilder energisch. Dann wandte er sich ehrfurchtsvoll an seinen König: „Es tut mir leid, Hoheit, aber er wurde gerade erst abgeliefert. Wir hatten noch keine Gelegenheit dazu, ihn ruhig zu stellen.“

Farid hob beschwichtigend die Hände. „Nur keine Aufregung meinetwegen. Verfahrt einfach so, als wäre ich nicht anwesend!“

Der Knabe wurde ebenfalls angekettet und unter Androhung von Gewalt schwieg er schließlich. Wenig später begab sich die schier endlose Kette von unfreiwilligen Anwärtern auf den Weg ins Lager. Dazu benutzten sie dasselbe Tor, durch welches Farid und seine Begleiter es zuvor verlassen hatten. Drinnen stand ein Spalier von älteren Knaben. Unter ihnen war auch Farids Duellgegner. Sie blickten starr geradeaus und es herrschte Totenstille.

Die Neuankömmlinge waren sichtlich beeindruckt und sahen sich ängstlich um. Dann mussten sie sich in einer langen Reihe aufstellen. An beide Enden traten jetzt ältere Rekruten heran und reichten den Knaben prachtvolle Kelche mit einer dampfenden Flüssigkeit. Sie achteten akribisch darauf, dass jeder Junge mindestens drei große Schlucke des Trankes zu sich nahm. Farid war gespannt darauf zu verfolgen, was weiter geschah. Als die Letzten ihre Dosis 'Vergessen' hinunterschluckten, begannen die Ersten sichtlich zu schwanken. Nacheinander sackten sie zusammen und fielen in einen kurzen und sehr tiefen Schlaf. Sie spürten nichts davon, dass man ihnen die Ketten entfernte, sie vollkommen entkleidete und ihnen alles Persönliche abnahm.

Nach einer knappen halben Stunde kamen die Ersten wieder zu sich. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Farid hätte erwartet, dass sie sich verunsichert umsehen oder wenigstens Erstaunen darüber äußern würden, dass sie nackt waren. Doch sie schienen alles als gegeben hinzunehmen, was man ihnen sagte.

„Ihr seid nichts!“, begann der oberste Ausbilder seine 'herzerwärmende' Rede. „Ihr habt nicht einmal einen Namen. Euer König und Vater gibt euch Kleidung und Nahrung. Einen Namen und Ehre müsst ihr euch selbst verdienen.“ Er gab ein Zeichen und es wurden knielange Hemden aus grauem Stoff verteilt, die sich die Knaben nun überwarfen. „Ihr werdet jetzt zu eurer Unterkunft gebracht, die ihr peinlich sauber halten solltet. Dort wartet eine Abendmahlzeit auf euch und ihr werdet einen Platz für die Nacht finden. Schlaft euch aus, denn schon morgen früh, bei Sonnenaufgang, wird alles von euch abverlangt werden. Bestimmt an jedem Abend einen von euch, der den täglichen Dank für euren König und Vater spricht. Ohne ihn wäret ihr einsam und schutzlos. Also dankt ihm für die Fürsorge, die er euch Unwürdigen entgegenbringt!“

Farid ließ seinen Blick schweifen. Die Knaben hingen förmlich an den Lippen des Redners. Sie schienen nicht im Geringsten mit ihrem Schicksal zu hadern. Gehorsam folgten sie ihren künftigen Ausbildern zu den Quartieren.

Farid hob bei deren Anblick ungläubig die Brauen. Es handelte sich dabei lediglich um Dächer auf Stelzen. Der Boden bestand aus Brettern, die eine halbwegs gerade Fläche bildeten. Es gab mehrere derartige Unterkünfte für jeweils etwa dreißig Knaben. In einem gewaltigen Topf, der zwischen den Behausungen über offenem Feuer hing, blubberte eine undefinierbare braune Masse vor sich hin.

Farid sah sich das Ganze aus der Nähe an. „Was um Himmels willen bekommen sie zu essen?“, fragte er den obersten Ausbilder angewidert.

„Dies ist ein nahrhafter Brei aus Kumabohnen und Milchlake. Er enthält alles Notwendige, um satt zu machen, das Muskelwachstum zu steigern und Kraft zu geben. Sicher, er sieht scheußlich aus und schmeckt auch nicht wesentlich besser, doch sie essen ihn alle. Und er ist sehr billig herzustellen.“

Auf dem Boden der Quartiere lagen einfache Schilfmatten und darauf standen Schüsseln aus Holz, mit ebenfalls hölzernen Löffeln.

Die Kinder verhielten sich für ihr Alters eher ungewöhnlich. Sie begaben sich geordnet, einer nach dem anderen, zu je einem der Schlafplätze und griffen nach den Schüsseln. Dann holten sie sich ihre Essensrationen ab und hockten sich anschließend schweigend an ihren Platz. Dort löffelten sie, ohne zu murren, die stinkende Pampe aus.

Farid drehte sich der Magen um, bei dem Gedanken ebenfalls davon essen zu müssen ...

Doch diese Gefahr bestand nicht. Er wurde in ein prachtvolles Zelt geführt, wo ein fürstlich gedeckter Tisch auf ihn wartete. Voller Appetit labte er sich an süßen Früchten, knusprigem Braten und frischem warmen Brot. Danach ließ er sich noch Kuchen und dicke Sahne schmecken. Bei einem guten Tropfen Wein im Anschluss, erhielt er von den Ausbildern bereitwillig Antworten auf all seine Fragen.

Bevor er sich zur Ruhe begab, ließ er sich noch einmal zu den Quartieren der Knaben führen. Ihm fröstelte, sobald er das wärmende Zelt verließ. Im Gegensatz zu ihm würden diese Jungen die Nacht im Freien zubringen. In Isfadah war es tagsüber meist sehr heiß und nachts dagegen oft extrem kalt. Die jungen Draconen sollten vom ersten Tage an gegen Hitze und Kälte gleichermaßen abgehärtet werden. Später auch gegen Hunger und Durst. Doch das hatte noch ein wenig Zeit.

Farid suchte mit den Augen nach jenem Knaben, der als Letzter zugeführt worden war. Er fand ihn im Halbdunkel des Mondlichtes, in einer Ecke. Während viele der anderen sichtbar vor Kälte zitterten, biss sich dieser so hart auf die Unterlippe, dass etwas Blut hervortrat. Doch er war nicht der Einzige, dessen angeborener Stolz durch den Trank nicht beeinträchtigt war. Es gab noch eine Handvoll anderer Jungs, die sich nicht anmerken lassen wollten, dass ihnen die Kälte zu schaffen machte. Das waren ausgezeichnete Grundlagen, für eine vielversprechende Karriere, inmitten der Draconen. Farid wollte sich diese Gesichter merken und sich künftig, bei seinen jährlichen Besuchen, nach deren Werdegang erkundigen. Er war davon überzeugt, dass er sie eines Tages hoch zu Ross, in den Farben der Anführer geschminkt, wiedersehen würde. Dann endlich sollten sie für ihn, ihren König und Vater, ausziehen und seine Kriege gewinnen.