Verdammte Erinnerung

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„Was ist das?“, war Lisa Strehmel als Erste zu hören.

Pytlik fasste sich. Der Gestank hatte nun um sich gegriffen und alle Minen hatten sich deutlich verdunkelt.

„Wenn ich es richtig sehe, ein menschlicher Körper! Ich vermute, dass es sich um einen Mann handelt und bin mir sicher, dass er keinen Kopf mehr hat.“

Während Pytlik die Abscheu vor dem Entdeckten bereits abzulegen schien, stieß seine Feststellung bei den Anderen noch mehr auf Entsetzen. Einzig Strehmel behielt die Beherrschung. Nachdem sie ihren luxuriös anmutenden Wintermantel demonstrativ enger geschnallt und den Kragen hochgeklappt hatte, ging sie zurück zu ihrem Auto.

„Gut, so groß ist dieser See ja nicht, dann warten wir halt auf den Kopf. Kann ja nicht so lange dauern, bis der auch noch auftaucht. Herr Pytlik, kommen Sie dann bitte noch zu mir!“

***

Pytlik und Hermann saßen zusammen mit Lisa Strehmel in einem Einsatzbus der Schutzpolizei. Die Coburger Kollegen der Spurensicherung waren gerade angekommen und hatten die wichtigsten Informationen abgeholt, bevor sie sich an die Arbeit machten. Pytlik hatte sie gleich vorgewarnt, dass er die Leiche sozusagen schon geöffnet hatte.

In Anwesenheit der Staatsanwältin mochten die „Weißkittel“, wie Pytlik sie nannte, nicht murren, was sie sonst in solchen Fällen aber gerne und ausgiebig taten. Für Pytlik jedes Mal aufs Neue ein leidiges Thema. Er telefonierte noch kurz mit dem Hotelmanager des Waldhotels „Goldenes Reh“, um ihm mitzuteilen, dass etwas dazwischengekommen war und er sich wieder bei ihm melden würde.

„... ja, Herr von Mainegg. Wir werden die Ermittlungen in Ihrem Hotel so bald wie möglich abschließen. Dennoch müssen einige Punkte noch einmal geklärt werden. Das verstehen Sie sicherlich. Ich werde mich am Montag bei Ihnen melden. Bitte halten Sie sich zur Verfügung! - Ja, selbstverständlich. Geht in Ordnung. Schönen Tag noch, Herr von Mainegg.“

„Arschloch!“ Pytlik zischte den Fluch kurz und bündig, nachdem er aufgelegt hatte.

„Macht er Probleme?“, wollte Lisa Strehmel wissen. Sie hatte bereits unmittelbar nach den ersten Spurensicherungen im Fall der ermordeten Russin zwei Tage zuvor mit Pytlik gesprochen. Dem Hotelchef, Armin von Mainegg, schien die Tatsache, dass in seinem weithin bekannten Fünf-Sterne-Haus eine Frau umgebracht worden war, weder sonderlich zu passen, noch hatte er Verständnis dafür, dass die Kripo ihren Job so gut wie möglich erledigen wollte.

„Keine Probleme“, brummte Pytlik, der Lydia parallel noch eine SMS schickte, um in Ruhe an die Arbeit gehen zu können.

&xnbsp;„Was denken Sie? Ich meine, für Sie ist das im Moment sicherlich eh noch ein bisschen unglaublich, auch wegen der Geschichte mit Ihrer...“

Strehmel setzte einen neugierigen Blick auf und fuhr fort. „... Lebensgefährtin?“

Pytlik musterte Strehmel mit einem durchdringenden Blick. Warum hatte sie das getan? Ohne Not! Warum wollte Strehmel ausgerechnet jetzt eine Art definitives Bekenntnis zu Lydia von ihm haben? Spielte sie mit ihm? Oder war es gar nicht böse gemeint und er redete sich einfach zu viel ein?

„Meiner Freundin geht es gut soweit. Ich wüsste nicht, was sie damit zu tun hat. Und ich bin fit. Punkt!“

Für einen Moment herrschte Schweigen.

Hermann machte eine Pseudo-Notiz, Strehmel fuhr fort.

„Gut, dann noch mal: Kann das Zufall sein? Also, ich meine nicht unbedingt, dass ausgerechnet heute, als Sie hier joggen und in einem anderen Mordfall ermitteln, eine neue Leiche genau vor Ihrer Nase auftaucht. Ich meine vielmehr, ob die beiden Leichen generell etwas miteinander zu tun haben könnten. Was glauben Sie?“

„Hm!“ Pytlik massierte mit Daumen und Zeigefinger sein Kinn und schaute nachdenklich auf den Boden. Dann hob er den Blick.

&xnbsp;„Das ist kein Zufall! Nicht heute und nicht generell. Ich weiß noch nicht wie, aber ich glaube, die beiden Leichen haben tatsächlich etwas miteinander zu tun.“

„Was macht Sie so sicher?“ Lisa Strehmel nutzte die Gelegenheit. Sie wusste, wenn Pytliks Gedanken erst einmal losgelassen waren, konnte er wichtige Anhaltspunkte oder auch nur vage, subjektive Vermutungen gut miteinander verknüpfen.

„Mein Gefühl macht mich so sicher. Cajo, haben wir im Moment Vermisstenmeldungen? Kann auch schon ein paar Monate zurückliegen, so wie die Leiche aussah.“

Hermann tat etwas überrascht. „Äh, nicht, dass ich jetzt wüsste. Aber das prüfen wir.“

„Gut“, erhob sich Pytlik duckend von seinem Sitz. „Ich habe für heute genug vom Ölschnitzsee. Frau Strehmel, ich würde die Presse gerne erst am Montagvormittag informieren.“

„Kann ich verstehen! Ich werde mich darum kümmern. Und dass Sie bis Montag einen Bericht von der Rechtsmedizin bekommen.“

„Danke Ihnen. Ach, Sie bleiben noch oder...“

„Nein, ich wollte jetzt eigentlich auch los.“

„Könnten Sie mich vielleicht bis zum Schützenhaus in Steinbach mitnehmen? Das wäre nett.“

„Gerne.“

***

Kurz vor achtzehn Uhr klingelte es an Pytliks Haustür zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten. Pierre Lehner, ein Kommissar aus Coburg, stand mit den Händen in der Jackentasche und von einem auf den anderen Fuß wippend, auf der Treppe.

In Fällen wie diesem bekamen die Kronacher meist Unterstützung von der benachbarten Kripo aus der Vestestadt. Pytlik hätte ihn weniger gut gelaunt erwartet. Schließlich war es trotz der Dringlichkeit der aktuellen Ereignisse immerhin Samstagabend. Dennoch wollte der Hauptkommissar so gut wie möglich vorbereitet in die neue Woche gehen. Jeder sollte am Montag wissen, was in der Doppelermittlung zu den beiden Leichen zu tun wäre.

„Hallo Pierre! Tja, blöd gelaufen, aber...“

„Schon gut, Herr Pytlik. Hatte eh nichts vor. Meine Freundin hat heut’ Mädelsabend.“

„Kommen Sie rein!“

Nach einem kurzen Handschlag legte Lehner seine Jacke ab und ging direkt ins Wohnzimmer, wo Hermann und Büttner bereits in ein intensives Gespräch verwickelt waren.

Diesmal, anders als meistens, schien es allerdings sehr konstruktiv zu verlaufen. Akten und Fotos lagen auf dem Wohnzimmertisch verteilt. Frisch eingeschenktes Bier vermittelte den Eindruck dessen, was hier stattfand. Pytlik hatte darum gebeten, die Sitzung bei ihm zuhause durchzuführen.

Die Vereinbarkeit mit Bier und Brotzeit wäre somit kein Problem und außerdem hätte die Wochenendarbeit im mit Folien verhängten und Gerüsten zugebauten „Präsidium“ nicht wirklich motiviert.

Nachdem sich Lehner, Hermann und Büttner kurz begrüßt hatten und Pytlik noch ein paar belegte Semmeln auf den Tisch gestellt hatte, eröffnete er die Runde.

„Gut, es ist nun mal, wie es ist. Wir haben zwei Leichen und so wie es aussieht, auch zwei Morde. Wir müssen jetzt versuchen, alles, was wir bisher wissen, so aufzubereiten, dass wir am Montag mit Hochdruck an die Arbeit gehen können. Fangen wir mit der Russin an. Cajo?“

Hermann räumte ein paar Fotos vom Tatort im Waldhotel ‚Goldenes Reh’ zur Seite, um freien Blick auf einen DIN A4 Block zu haben, auf dem er sich die wichtigsten bisherigen Ermittlungserkenntnisse notiert hatte.

„Na gut, die Russin also. Maria Antonowa, alias Maria Brolin, geboren 1961 in Moskau, zuletzt wohnhaft in Dresden. Wenn man davon ausgehen kann, dass sie so, wie sie gefunden wurde - nämlich blond - ihrer eigentlichen Identität entspricht, war sie laut Personalausweis die Antonowa. Und so war sie im Hotel auch eingecheckt. Wir haben allerdings noch einen anderen Ausweis gefunden, der sie mit brünetten Haaren zeigt. Maria Brolin heißt sie da, gleiches Baujahr, geboren in Dresden. Die Perücke wurde übrigens auch im Zimmer gefunden.“

„Scheiße, dess hodd unners grohd nuch gfehld!“

Justus Büttner wurde von Pytlik bei Ermittlungen in Kapitalverbrechen immer von Anfang an mit einbezogen.

Er war der Meinung, dass der Leiter der Schutzpolizei über den Ermittlungsstand genauso informiert sein sollte, wie die Kripobeamten. Seine oftmals ungefilterten Kommentare sorgten in der Regel für Schmunzeln.

„Weiter!“ Pytlik war hoch konzentriert.

„Die Hotelangestellten sagen aus, dass die Antonowa seit dem 23. Februar Gast im ‚Goldenen Reh’ war. Außerdem konnten einige Angestellte bestätigen, dass eine Maria Brolin seit dem Jahr 2001 insgesamt sechs Mal jeweils mehrere Wochen in dem Hotel verbrachte. Ich hab’ mal im Internet recherchiert und siehe da: Maria Brolin ist - oder besser: war - alleinige Geschäftsführerin der ‚BroCon’, was soviel heißt wie Brolin Consultancy.“

„Und woss is dess?“, wollte Büttner wissen, aber auch Pytlik schien froh darüber zu sein, dass Lehner wie aus der Pistole geschossen antwortete.

„Unternehmensberatung. Also, das ist jemand, der...“

„Ja, ja, scho gloa, blöd bin ich ja nedd.“

„Gut“, setzte Hermann wieder an, „die Antonowa tritt also über zwei Jahre hinweg in regelmäßigen Abständen im Landkreis Kronach auf. Unter falscher Identität - Maria Brolin nämlich - scheint sie hier wichtige Dinge vorzuhaben. Zumindest so wichtig, dass diese Geschäfte ein Motiv für den Mord sein könnten, weil wir zwar ihre Laptoptasche im Zimmer gefunden haben, das gute Teil selbst aber verschwunden ist.“

„Es kann aber natürlich auch sein, dass ihre wahre Identität als Maria Antonowa das Motiv für den Mord war.“

Typisch Lehner, dachte sich Hermann, ohne den berechtigten Einwurf seines Kollegen zu kommentieren. Nach einigen weiteren Ausführungen seines Assistenten, ging Pytlik zunächst in die Küche, um noch Bier zu holen. Als er am Kühlschrank stand, musste er an Lydia denken. In einer Mischung aus physischem Schmerz durch den Sturz und Wut über den Ablauf des Tages, sowie der Gewissheit, dass das Leben eines Hauptkommissars selbst in Kronach oft fremdbestimmt war, hatte sie ohne große Diskussion die Heimreise angetreten.

 

Pytlik war traurig darüber, andererseits hatte er jetzt den Kopf für die Ermittlungen frei und er war sicher, das mit Lydia nach ein oder zwei Tagen wieder regeln zu können. Im Moment ging die Arbeit vor - wieder einmal.

„Pierre, was können Sie uns von der Spurensicherung sagen?“

Als Lehner ansetzen wollte, professorenhaft aufzustehen und bei seinem Bericht in Pytliks Wohnzimmer auf und ab zu gehen, stoppte der Hausherr dies abrupt.

„Bleiben Sie ruhig sitzen“, ermahnte er ihn höflich, aber bestimmt. Hermann musste schmunzeln.

„Gut, was wissen wir vom Tatort? Ein Zimmermädchen hat die Frau gefunden. Laut Bericht von Doktor Weidner, ist der Genickschuss die tödliche Verletzung. Ein Hämatom an der Stirn ist Folge des Sturzes vom Stuhl. Das Opfer wurde vorher mit Chloroform betäubt, mit den Händen auf dem Rücken gefesselt und sitzend hingerichtet. Sie trug einen Bademantel. Todeszeitpunkt ist ungefähr halb zehn abends am Mittwoch. Die Waffe: Eine neun Millimeter Makarow, wahrscheinlich mit einem eingebauten Schalldämpfer. Niemand hat einen Schuss gehört. Es gibt verschiedene Fingerabdrücke im Zimmer. Die werden gerade mit denen der Angestellten abgeglichen. Was übrig bleibt, könnte eine ernste Spur sein.“

Pytlik hatte die wesentlichen Infos bereits aus dem Gespräch mit Doktor Weidner bekommen.

„Es gibt da noch etwas“, komplettierte er Lehners Ausführungen. „Doktor Weidner rief mich heute Mittag an. Sperma! Die Leiche hatte Spermaspuren im Mund.“

„No sauber“, ereiferte sich Büttner, dem seine konservativ-katholische Erziehung heilig war. Hermann erkannte die Chance und legte den Finger in die Wunde des Polizeihauptmeisters. Diese Gelegenheit wollte er trotz des Ernstes der Situation nicht ungenutzt verstreichen lassen.

„Aha, sie hat vor ihrem Ableben also noch mal kräftig die Schalmei gespielt. Und Tod durch Ersticken hat der Weidner ausgeschlossen, Franz?“

Büttners Reaktion folgte prompt und ungefiltert: „Also, jetzt langds obber. Wu semmer denn? Bollagg, freggder!“

„Schluss jetzt!“

Pytlik unterband den aufkeimenden Disput zwischen Büttner und Hermann, der hinter vorgehaltener Hand sein Lachen unterdrücken musste.

„Wir können wohl davon ausgehen, dass die Antonowa ihren Mörder kannte. Rein theoretisch könnte es sich so zugetragen haben, dass die Beiden Sex miteinander hatten, der Mörder zu diesem Zeitpunkt seinen Entschluss aber schon gefasst hatte. Die Antonowa duscht dann, und als sie ins Schlafzimmer zurückkommt, passiert es. Fehlen uns nur noch das Motiv und der Mörder und dann können wir uns auch schon der kopflosen Wasserleiche aus dem Ölschnitzsee widmen. Spitze! Ich bin richtig begeistert!“

&xnbsp;Pytlik knallte die flache Hand auf die Glasplatte des Wohnzimmertisches und stand dann ruckartig auf. Die Anderen zuckten zusammen. Wahrscheinlich hatte er doch gerade mehr an Lydia gedacht, als an die beiden Leichen.

„Hat jemand eine Kippe?“ Die Frage war genau so hilflos wie überflüssig. Es war wieder einmal soweit. Immer, wenn es in einem Fall mit den Ermittlungen losging und die momentane Lage nicht viel Anlass zur Zuversicht gab, half bei Pytlik Nikotin. Eine Scheißangewohnheit, dachte er immer wieder. Zu dumm, dass er auf dem Trockenen saß. Üblicherweise hatte er nämlich keine Kippen zuhause und nun extra loszumarschieren, war ihm auchzu blöd.

„Justus ist der Überzeugung, die beiden Leichen haben etwas miteinander zu tun. Was meint ihr?“

Lehner preschte vor und gab zu bedenken, dass ohne fehlende Anhaltspunkte vor allem im Fall der Wasserleiche jegliche Vermutung über Zusammenhänge reine Spekulation sei.

„Andererseits - klar, wenn auf so einem unbescholtenen Fleckchen Erde gleich zwei Morde passieren, wäre das schon ein seltsamer Zufall.“

„Wer sagt denn“, spekulierte Hermann, „dass beide Morde, also vor allem der an dem unbekannten Mann, hier geschehen sind? Könnte ja auch sein, dass der Täter den Mord anderswo ausgeübt und die Leiche dann im Ölschnitzsee versenkt hat.“

Büttner verließ sich auf sein Gefühl und machte mit Überzeugung seinen Standpunkt deutlich, dass beide Morde miteinander zu tun hatten.

„Is a Bauchgefühl. Bassda!“

Die Diskussion schweifte dann irgendwann ab und als Hermann gerade den Fernseher anmachen wollte, um die letzten Bundesligatore in der Sportschau zu sehen, nahm Pytlik das Heft noch einmal in die Hand.

Er stand an der Tür zu seiner Terrasse. Im Glas konnte man sehen, wie er, den einen Ellenbogen auf die Handfläche des anderen Armes gestützt, in die Dunkelheit starrte. Dann drehte er sich ruhig um.

„Bei der Leiche aus dem See müssen wir auf Doktor Weidners Bericht am Montag warten. Ob die Spurensicherung da noch was finden konnte, wage ich zu bezweifeln. Bei dieser Russin sieht die Sache anders aus. Wenn die unter ihrem Alias wochenlang im Hotel war, muss es einfach Hinweise geben. Warum war sie hier? Mit wem hatte sie Kontakt? Was hat sie jeden Tag gemacht? War sie überhaupt jeden Tag weg oder oft im Hotel? Hatte sie Besuch im Hotel? Das sind die Fragen, die wir beantworten müssen. Gibt es vielleicht Personal, das jetzt schon nicht mehr im Waldhotel arbeitet, aber Beobachtungen gemacht hat, als Antonowa alias Maria Brolin die ersten Male dort war? Und vor allen Dingen müssen wir wissen, warum sie ein Doppelleben führte. Die Antworten finden wir vielleicht im Hotel. Ist mir egal, was dieser von Mainegg dazu sagt. Mit dem muss ich sowieso noch persönlich reden.“

Pytlik hatte den letzten Satz noch nicht ganz fertig gesprochen, als sein Handy klingelte. Lydia, hoffte er. Pytlik war froh, dass sie sich bei ihm meldete. Als er sein Telefon von der Ablage des Kamins genommen hatte und auf das Display schaute, war er allerdings enttäuscht. Er drückte auf den grünen Hörer.

„Pytlik! - Ah, hallo. - Sie haben was? Nichts anrühren! Verstanden? Lassen Sie alles so, wie es ist. Wir sind in einer halben Stunde da.“

Die Gesichter Hermanns, Lehners und Büttners schwankten zwischen Neugierde und Unbehagen. Noch ein Mord? Das durfte einfach nicht sein!

Montag, 24. März 2003

Pytlik verließ an diesem Morgen um sieben Uhr seine Doppelhaushälfte in der Rhodter Straße. Diesmal wollte er nicht nur pünktlich im Büro sein, er musste es. Hermann würde gleich die Presse benachrichtigen, der Bericht der Rechtsmedizin zur Wasserleiche würde bald kommen und natürlich wollte der alte Geuther - so nannte Pytlik Alfons Geuther, den Leiter der Kronacher Polizeiinspektion - im Detail informiert werden. Die Kälte des Wochenendes hatte sich ein bisschen verzogen. Pytlik holte sein Fahrrad aus dem Abstellraum hinter dem Carport und machte sich auf den Weg. Normalerweise und wenn er mit dem Drahtesel ins Büro fuhr, nutzte er die Strecke durch das Gelände der Landesgartenschau, um Geist und Körper noch einmal aufzutanken und mit voller Energie an die Arbeit zu gehen. Das lange Wochenende mit dem Fund der Wasserleiche und der misslichen Situation mit Lydia hatte seine Akkus arg beschädigt. Den Sonntag hatte er - ganz untypisch - größtenteils auf seiner Couch vor dem Fernseher verbracht. Nur ab und zu schweiften seine Gedanken um die Frage, was wohl die Untersuchung des Laptops ergeben würde. Armin von Mainegg, der Inhaber des Waldhotels „Goldenes Reh“, hatte Pytlik am Samstagabend telefonisch darüber informiert, dass er wenige Minuten vor dem Anruf beim Entsorgen eines Müllsackes einen Laptop im Container gefunden hatte. Da er sich gedacht hatte, es könnte etwas mit dem Mord an Maria Antonowa zu tun haben, hatte er sich in heller Aufregung an Pytlik gewandt, der zusammen mit Hermann sofort nach Steinbach gefahren war, um den Computer zu sichern. Der Hauptkommissar hoffte, dass der Kollege von der Technik so schnell wie möglich etwas Brauchbares würde liefern können. Bernhard Angerer war ein Fachmann. Pytlik hätte in solchen Angelegenheiten manchmal gerne etwas von seinem Talent gehabt.

Trotz allen Ärgers und der Anspannung wegen der Ermittlungen, ließ es sich Pytlik nicht nehmen, in Müller’s Backhaus sein obligatorisches Frühstück zu besorgen. Allerdings würde er heute wenig Zeit für ein Pläuschchen mit Maria Beierkuhnlein haben, dachte er beim Betreten des kleinen Verkaufsraums an der Spitalbrücke. Er sollte sich irren.

„Morgen!“

„Der Herr Kommissar!“

Die, wie gewohnt, sonnige Miene der alten Dame war nur zur Begrüßung Pytliks aufgesetzt, vermutete dieser spontan. Schon im nächsten Satz - Maria Beierkuhnlein hatte den Ermittler mit einem schnellen Winken und flinken Schritten hinter die Verkaufstheke gebeten - verdüsterte sich das zierlich-faltige Gesicht der kleinen Person.

„Ach Gott, is dess schlimm! Guten Morgen erst mal.“ Maria Beierkuhnlein wirkte in diesem Moment ein bisschen wie die Grösa Maja aus den Filmen mit dem Michel aus Lönneberga.

„Was denn?“, tat Pytlik unwissend. Von dem Mord im „Goldenen Reh“ hatte die Presse doch schon berichtet und von der Wasserleiche konnte ja eigentlich noch niemand in der Öffentlichkeit etwas wissen.

„Ich weiß es fei! Is dess nedd schlimm?“

Das Backhaus war um diese Zeit immer gut besucht. Dass Maria Beierkuhnlein ihre Kolleginnen hinter der Theke einfach so stehen ließ, war nicht normal und somit lenkte sie bei ihrer fast schon konspirativ anmutenden Unterhaltung mit Pytlik einige neugierige Blicke auf sich, die Pytlik mit einem leichten Unwohlsein weglächelte. „Hallo, Frau Doktor...“

„Jetzt hörns mir hald zu. Der Dieder, mei Enggerla, is doch a Kummbl von dem Sauerbrei aus Stawiesn. Und dem sei Kusseng is doch bei euch - irgendwie. Der hodd ihm auf jeden Fall erzählt, wie dess am Samsdach war, da am Ölschnitzsee. Abber heud in der Zeidung hab’ ich noch gar nix gelesen.“

Pytlik stutzte. Die Augenpaare, die von rechts zu ihm und der Chef-Verkäuferin herüberschielten, mehrten sich. Die Geheimhaltung schien somit ja gut funktioniert zu haben, dachte er. Stellte sich nur noch die Frage, wie dieser „Kusseng“ hieß, damit er ihm höchstpersönlich die Hammelbeine langziehen konnte. Er versuchte, die Aufregung der Maria Beierkuhnlein zu drosseln.

„Hören Sie, Frau Beierkuhnlein, wir haben mit der Presse vereinbart, dass wir das heute noch nicht bringen. Das hat“ - Pytlik tat wichtig und beugte sich an ihr Ohr hinab - „ermittlungstechnische Gründe. Verstehen Sie?“

Maria Beierkuhnlein schob ihr Kinn nach vorne, schürzte die Lippen und schaute vorsichtig nach links und rechts, als wollte sie sich vergewissern, dass die Luft rein sei.

„Aaah, versteh’! Und jetzt?“

„Und jetzt?“

Pytlik hob seine Stimme und erklärte das Gespräch auf freundliche Art und Weise für beendet.

„Jetzt hätte ich gerne zwei Puddingbrezeln zum Mitnehmen, wenn es recht ist. Frau Beierkuhnlein?“

Die alte Dame war noch in Gedanken versunken und schien sich nun in Miss Marple zu verwandeln.

„Ja, ja, ja, endschuldigns“, winkte sie verlegen ab und huschte wieder an ihren Platz. „So, zwei Buddingbrezeln für den Herrn Kommissar. Wie immer.“

Sie reichte Pytlik die Papiertüte über die Theke, zwinkerte ihm zu und flüsterte: „Aber halldns mich fei auf dem Laufenden, gell!“

***

Pytlik war durch die Johann-Knoch-Gasse geradelt und nach wenigen Minuten am Kaulanger angekommen. Er musste immer noch lächeln, wenn er die Baugerüste um das altehrwürdige Gebäude sah. Eigentlich hatte er vor einigen Monaten nur einmal anstoßen wollen, dass innen einiges getan werden müsste. Anscheinend war der Polizeipräsident von der Aufklärung des Mordes an einer Friseuse vor einem halben Jahr aber so begeistert, dass er eine Rundumsanierung durchboxte.

Der Hauptkommissar stellte sein Fahrrad im Hinterhof auf dem Parkplatz ab und betrat gegen kurz vor halb acht das Gebäude. Ihm war mulmig zumute. Was würde der Tag bringen? Der Wachhabende grüßte anständig hinter der Glasscheibe und hob kurz die Hand. Der Geruch der neu aufgetragenen Farbe sowie das moderne Ambiente durch die asymmetrisch gestrichenen Wände hatten etwas von einer Aufbruchstimmung. Pytlik wollte sich anstecken lassen. Mit sportlichem Tritt ging er die Treppe hoch in den ersten Stock. Als er rechts schwenkte, um in sein Büro am Ende des Flures zu gelangen, sah er bereits, dass seine Sekretärin anscheinend wieder einmal vor ihm da war.

„Guten Morgen, Gundi!“

 

Pytlik klopfte mit dem angewinkelten Zeigefinger zweimal gegen den Türrahmen, blieb aber mit dem rechten Fuß auf der Schwelle stehen. Er wusste, dass Adelgunde Reif vorab alles Wichtige wissen wollte, falls auch sie schon aus irgendwelchen Quellen von der Wasserleiche erfahren hatte. Er wollte aber eigentlich gleich in sein Büro und an die Arbeit gehen.

„Morgen, Franz! Und? Wie geht’s? Jetzt haben wir plötzlich zwei Morde oder wie? Was ist denn da los?“

Gundis Gesichtsausdruck wirkte ängstlich, ihre Stimme scheu. Ihre sonst so pfundige Art versteckte sie gerade hinter den Gedanken an die Ereignisse.

„Frag mich was Leichteres! Auf jeden Fall könnte es heute ein bisschen hektisch werden. Ich hoffe, wir wissen bald mehr. Hast du schon einen Kaffee gekocht?“

Er roch den frischen Duft von Kaffee, seine Frage war deshalb rhetorisch. Als er sich gerade umdrehen wollte, um in sein Büro gegenüber zu gehen, nahm er zunächst unterbewusst, dann klar und deutlich die schwerfälligen Schritte wahr, die nur zu einer Person gehören konnten. Alfons Geuther, Pytliks Chef, kam so hastig, wie es für ihn eben ging, auf den Hauptkommissar zu, der sein Gespräch mit Gundi beendete.

„Guten Morgen!“

Geuther erwiderte Pytliks Gruß nicht. Vielmehr winkte er ihn in dessen Büro und bat ihn wortlos, ihm zu folgen. Geuthers abweisende Haltung hatte ihren Grund in einer verbalen Auseinandersetzung beim letzten Fall, während der Pytlik den Leiter der Polizeiinspektion Kronach in höchstem Maße vor versammelter Mannschaft brüskiert hatte.

Nachdem Pytlik die Tür hinter sich geschlossen und Geuther auf seinem Stuhl Platz genommen hatte, hängte Pytlik seine Jacke an die Garderobe und setzte sich gegenüber auf Hermanns Platz. Er sah es als sinnlos an, mit Geuther über Belanglosigkeiten zu streiten, also ließ er ihn gewähren.

„Pytlik! Wissen Sie, was ich schon seit einer Stunde mache?“

„Nein!“

Pytlik tat so, als wäre alles in Ordnung. Geuther schnaubte und atmete schwer.

„Die Presse! Hatten wir nicht ausdrücklich gesagt, keine Infos vorab an die Presse. Sie waren es doch, der in Ruhe arbeiten wollte. Können Sie sich vorstellen, was die mir an den Kopf geworfen haben? Warum wissen die schon alles?“

Die Tür ging auf und Hermann kam herein.

„Oh, guten Morgen!“

Er war sichtlich überrascht, Geuther auf Pytliks und diesen auf seinem Platz zu sehen. Er erkannte die Situation blitzschnell, legte seinen Schal und die Jacke ab und stellte seine Aktentasche neben seinen Schreibtisch.

„Ich schau dann wohl mal, ob die Gundi ein Tässchen Kaffee für mich hat.“

Pytlik wartete, bis Hermann die Tür geschlossen hatte und konzentrierte sich dann, um Maria Beierkuhnlein einigermaßen richtig zu zitieren.

„Warum die alles schon wissen? Möglicherweise kann uns das der Cousin von dem Sauerbrei aus Steinwiesen sagen. Der Sauerbrei ist nämlich ein Kumpel von Dieter. Und Dieter ist der Enkel von Frau Beierkuhnlein aus Müller’s Backhaus. Verstehen Sie?“

„Nein! Äh, was erzählen Sie da?“

Geuther war sichtlich irritiert.

„Was ist blind und macht Häufchen in den Garten?“

„Hm! Ein Maulwurf?“

„Sehen Sie!“

„Ist mir egal“, polterte Geuther, der die Schuld einfach nur bei Pytlik wissen wollte. „Um zehn ist Pressekonferenz. Ich hoffe, Sie haben genügend Futter und eine gute Erklärung.“

Geuther erhob sich schwerfällig vom Stuhl und verließ das Büro wortlos. Einige Sekunden später kam Hermann zurück, zwei Tassen Kaffee inklusive.

„Was war das denn?“

Pytlik winkte nur ab.

„Morgen, Cajo! Vergiss es einfach!“

Parallel fuhren beide ihre PCs hoch. Pytlik hatte keine Hoffnung, dass er bis zur Pressekonferenz einen Befund aus Coburg zur Wasserleiche bekommen würde. Somit galt die volle Konzentration zunächst Maria Antonowa. Was würde Angerer auf dem Laptop gefunden haben?

***

Punkt acht schloss Justus Büttner die Tür hinter sich, nachdem er Pytliks und Hermanns Büro betreten hatte. Auch Lehner war bereits anwesend. Pytlik wollte zunächst die Aufgaben für den Tag verteilen. Mit Hermann und Lehner verabredete er, dass er - also Pytlik - nach der Pressekonferenz zunächst zu Armin von Mainegg nach Steinbach fahren würde, um mit ihm noch einmal zu sprechen und das weitere Vorgehen zu erläutern. Falls die Auswertung des Laptops Hinweise ergeben hätte, sollten Hermann und Lehner diesen nachgehen.

„Wo ist eigentlich der Angerer? Müsste doch schon längst hier sein.“

Pytlik wählte Gundi gegenüber an und erkundigte sich nach dem IT-Spezialisten.

„... - Gut, wenn er da ist, sag’ Bescheid!“

Als er aufgelegt hatte, fuhr er fort.

„Justus, irgendein Sauerbrei aus Steinwiesen hat anscheinend einen Cousin, der bei uns arbeitet. Finde heraus, wer das ist!“

„Warum? Äh, ich mahn, gloa, obber...“

Büttner wusste, dass einer seiner Männer anscheinend etwas verbockt hatte. Automatisch fühlte er sich involviert.

„Die Beierkuhnlein vom Backhaus hat mich gefragt, was mit der Wasserleiche ist...“

„No glasse! Wadd, wenn ich den erwisch!“

Pytliks Telefon klingelte. Im Display las er Gundis Namen.

„Ist er da?“ Pytlik rutschte im Stuhl ein bisschen nach oben und machte den Eindruck, plötzlich angespannt zu sein. Seine Mimik wurde skeptisch.

„Der Schneider? Was will der denn? - Na gut, wenn es dringend ist, stell’ ihn durch. Danke!“

Pytlik schaute mit fragendem Blick und leichtem Achselzucken zu Büttner, der hellhörig wurde, als der Name Schneider gefallen war und daraus schloss, es würde sich um Egon Schneider, den Schutzpolizisten aus seiner Mannschaft handeln.

„Pytlik! - Ja, Schneider, guten Morgen! Was gibt’s? - Unfall? Bei Wilhelmsthal? Und? - Wer? - Scheiße!“

Die anderen Anwesenden im Büro spitzten sofort die Ohren und begannen spekulativ zu flüstern und fragend die Augen zu verdrehen. Pytlik hatte sich erhoben und hörte weiter gespannt Schneiders Bericht zu. Stakkato ähnliches „Hm“ und „Ja“ war alles, was dem Hauptkommissar in der nächsten Minute entfuhr. Als er kurz vor dem Bürofenster in den erwachenden Tag hinausschaute, war die Telefonschnur fast bis zum Zerreißen gespannt.

„Was? Wieso hatte er...? Mist! Verdammt! Wie geht es ihm?“

Nach einigen weiteren Ausführungen Schneiders legte Pytlik auf und donnerte dreimal kräftig mit der rechten Faust auf den Tisch. Danach erzählte er den Kollegen, was Schneider ihm berichtet hatte.

***

Um halb zehn kehrte Pytlik in sein Büro zurück. Er war sofort bei Geuther gewesen, um es ihm zu erzählen. Pytliks sonst fast maßloses Selbstvertrauen hatte in dieser Situation kurzfristig einen Knacks bekommen. Selbst Geuther hatte wohl gemerkt, dass es dem Hauptkommissar ziemlich an die Nieren ging, was passiert war. Deshalb reagierte er trotz der angespannten Lage eher zurückhaltend. Im Erdgeschoss kam ihm dann auch schon Lisa Strehmel entgegen, mit der er die Pressekonferenz durchführen wollte. Er bat sie mit knapper Geste in sein Arbeitszimmer.

„Guten Morgen, Herr Pytlik. Alles klar?“

Strehmel hatte schnell gemerkt, dass nicht alles klar war. Sie kannte Pytlik schon ein paar Jahre und wusste mit seiner Mimik umzugehen. Es sah so aus, als wäre etwas ganz und gar nicht in Ordnung.

„Kein guter Morgen, Frau Staatsanwältin!“

Pytlik bat sie, Platz zu nehmen und schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein, ohne sie danach gefragt zu haben.

„Milch? Zucker?“

„Äh, Milch, ja, bitte. Was ist passiert?“

„Der Bernhard Angerer, unser Technik-Mann. Alles meine Schuld. So ein Mist!“

Immerhin hatte Pytlik dem Computerfachmann mehr oder weniger befohlen, sich bereits am Sonntag zuhause mit dem möglichen Beweismittel im Fall Antonowa zu befassen. Die zugesprochene Ausgleichszeit würde Angerer nun in der Frankenwaldklinik verbringen können.

„Es scheint, als ob sich jemand ganz bewusst für den Laptop, den der von Mainegg gefunden hat, interessiert. Es gab heute morgen einen Verkehrsunfall, so sieht es zumindest auf den ersten Blick aus. Der Angerer war auf dem Weg zur Arbeit. Zwischen Hesselbach und Wilhelmsthal hat ihn auf abschüssiger Strecke in einer Kurve ein anderes Fahrzeug von der Straße gedrängt.“

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