Das Schweigen im Rössental

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»Ja, Herrgottsakrament! Können Sie nicht anklopfen und ›Guten Morgen‹ sagen? Wer sind Sie denn? Und was wollen Sie? Eigentlich ist gar keine Sprechstunde!«

Danach legte er einige Akten vor sich auf dem Tisch ab, zog sich seine Hose etwas nach oben, ohne dabei das heraushängende Hemd wieder hineinzustecken und rückte sich seine Brille gerade. Einige Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Pytlik schaute noch einmal seelenruhig zu Hermann und ging dann mit ihm in das Zimmer hinein, bis beide dem Mann gegenüberstanden. Er sah dem Komiker Heinz Erhardt sehr ähnlich. Pytlik holte seinen Dienstausweis heraus und hielt ihn seinem Gegenüber deutlich vor das Gesicht, da die Dicke der Brillengläser des schwer schnaufenden Mannes darauf hindeutete, dass er ein ernstes Sehproblem hatte.

»Pytlik ist mein Name. Ich bin Hauptkommissar bei der Polizei in Kronach. Und das ist mein Kollege Cajo Hermann.«

Pytlik wartete einen Moment und prüfte genau die Reaktion.

»Und wer sind Sie?«, wollte er dann wissen.

»Von der Polizei? Hauptkommissar? Was wollen Sie denn in aller Herrgottsfrüh schon hier? Ist denn irgendetwas passiert?«

Pytlik strahlte Souveränität aus. Er wollte damit seinem Gesprächspartner auch die Möglichkeit geben, etwas herunterzukommen und sich zu beruhigen.

»Eins nach dem Andern, Herr...!«

Ein kurzer Augenblick der Verwirrung, dann kam die Antwort.

»Äh, ich, ach so, ja natürlich! Entschuldigen Sie bitte! So kleine und unbedeutende Bürgermeister wie mich kennt man im fernen Kronach natürlich nicht.«

Pytlik überlegte nur ganz kurz, ob er das als zynischen Seitenhieb auf die angebliche Hochnäsigkeit seiner Mitbewohner in der Kreisstadt deuten sollte oder ob es ehrlich und ernst gemeint war. Aber mit seiner Vermutung, dass es sich um den Bürgermeister handeln könnte, hatte er allem Anschein nach richtig gelegen.

»Wachter! Walfried! Ich bin der Bürgermeister hier in Birnbaum – ehrenamtlich versteht sich, aber zu tun ist trotzdem genug. Noch mal würde ich das nicht machen, aber einer muss es ja tun. Nur Scherereien!«

Walfried Wachter erfüllte tatsächlich alle Klischees, die Pytlik nach diesen wenigen Minuten draußen und in seinem Büro für ihn parat hatte. Nach der Beschwerde über seine ehrenamtliche Tätigkeit hatte der Bürgermeister ein farblich zu seinem Outfit passendes Stofftaschentuch aus der Hosentasche geholt, zweimal kräftig hinein geschnäuzt und es dann wieder weggesteckt. Danach setzte er sich auf seinen Schreibtischstuhl und bat Pytlik und Hermann mit einer Handbewegung, es ihm gleich zu tun.

»Gut, jetzt wissen Sie also, wer ich bin und nun können Sie mir erzählen, weshalb Sie mich hier schon so früh beläst..., also ich meine, warum Sie schon so früh hier auftauchen.«

Hermann hatte zuerst mit seiner Hand noch ein bisschen Staub vom Stuhl gewischt, bevor er sich hinsetzte. Pytlik war es egal. Die beiden Ermittler hatten während der kurzen Fahrt vom Hof der Schuberts hoch ins Dorf die Möglichkeit diskutiert, ob der oder die Täter direkt aus Birnbaum sein könnten. Da unten die beiden Personen, die allem Anschein nach ein Leben außerhalb der Dorfgemeinschaft führten und hier oben ein kleines beschauliches Kaff, in dem man über den Anderen besser Bescheid wusste als über sich selbst. Wenn diese Theorie also stimmen sollte, dann sollte der Ortsvorsteher zumindest nicht allzu überrascht sein, wenn er erfahren hatte oder erfahren würde, was passiert war. Pytlik war nun sehr konzentriert. Er überlegte sich genau, was er sagen wollte.

»Herr Wachter«, begann er mit ruhiger Stimme, »wir wurden heute Morgen zum Hof des Bauern Schubert gerufen. Den kennen Sie doch, oder?«

Pytlik hatte seine Frage gerade zu Ende gestellt, da ließ sich Walfried Wachter leicht nach rechts fallen, um aus der Seitentür seines Schreibtisches etwas herauszuholen.

»Beim Schorsch waren Sie? Was will denn die Polizei bei dem?«

Pytlik hatte Wachters Gesichtsausdruck nicht sehen können, als dieser ihm antwortete. Er war sofort auf der Hut. Wachter begann, eine der Akten, die er herausgeholt hatte, aufzuschlagen und durchzublättern.

»Erzählen Sie ruhig weiter, Herr Hauptkommissar! Ich muss hier nur etwas nachschauen, ich habe heute einen wichtigen Termin. Also? Warum waren Sie denn beim Schorsch?«

Pytliks Geduldsfaden hatte nicht lange gehalten. Ohne lauter zu werden oder strenger zu wirken, sagte er so normal wie möglich: »Der Schorsch wurde umgebracht, ist tot! Und seine Tochter auch.«

Der Bürgermeister, vor dem ein Blatt Papier lag und der begonnen hatte, den Text mit Unterstützung seines von links nach rechts rutschenden Zeigefingers leise vor sich hin zu flüstern, schien zunächst Pytliks Auskunft nicht wahrgenommen zu haben. Plötzlich blieb der Finger stehen und auch Walfried Wachters Stimme war nicht mehr zu hören. Er fasste sich mit einer Hand an den rechten Brillenbügel, setzte seine Sehhilfe etwas besser auf die knollenartige Nase und schaute mit einem Ausdruck von Unverständnis zu Pytlik und Hermann hinüber. Dann war es einige Sekunden mucksmäuschenstill.

»Was? Was sagen Sie da? Der Schorsch und seine Tochter, die Helga? Tot? Umgebracht?«

Walfried Wachters Reaktion war weit entfernt von dem, was man Bestürzung hätte nennen können. Es glich eher einem spontanen Erstaunen nach dem Motto: Mord bei uns in Birnbaum? Nie im Leben! Dass der Bürgermeister sich nach seiner kurzen Stellungnahme gleich daran machte, weiter zu wühlen und zu suchen, wirkte etwas befremdlich.

»Ja und? Wissen Sie schon, wer es war? Ich meine, wenn Sie sagen ›umgebracht‹, dann muss es ja wohl einen Mörder geben. Jetzt habe ich hier wahrscheinlich auch noch die Presse im Dorf oder wie!«

Pytlik schaute zu Hermann, der leicht die Augenbrauen nach oben zog und kurz mit den Schultern zuckte, so als wollte er sagen, dass er sich auch nicht erklären könne, wie der Bürgermeister auf die Nachricht reagiert hatte. Hermann wollte seinen Chef unterstützen.

»Sagen Sie mal, Herr Wachter, in so einer Dorfgemeinschaft, da kennt doch eigentlich jeder jeden. Die Familien wachsen über Generationen miteinander auf. Jetzt erzählen wir Ihnen, dass Leute aus dieser Dorfgemeinschaft, der Bauer Schubert und seine Tochter, umgebracht worden sind und Sie scheint das nicht sonderlich zu berühren, wenn ich das mal so bemerken darf. Wie kommt das?«

Hermanns oberlehrerhafte Gestik und seine etwas arrogant klingende Stimme in diesem Moment schienen urplötzlich die volle Aufmerksamkeit Walfried Wachters geweckt zu haben. Der Bürgermeister setzte sich aufrecht in seinen Stuhl, nahm seine Brille ab und drückte zweimal kräftig mit Zeigefinger und Daumen auf seinen Nasenrücken. Dann wandte er sich mit ruhigen Worten an Pytliks Assistenten.

»Wissen Sie, junger Mann – obwohl, so jung sind Sie wohl auch nicht mehr –, in jeder Herde gibt es schwarze Schafe und auch in einer Dorfgemeinschaft müssen sich nicht alle mögen und schon gar nicht alle beliebt sein. Es mag Ihnen vielleicht gefühllos und für einen Bürgermeister nicht angemessen erscheinen, aber für den Dorffrieden – das können Sie mir glauben – war es das Beste, dass der Schubert und seine Tochter da unten im Loch wohnten.«

»Warum?«, wollte Pytlik wissen. Dem Hauptkommissar war nicht entgangen, dass Walfried Wachter in regelmäßigen Abständen auf die billige Wanduhr zu seiner Rechten schaute, die zur wenig stimmigen Komposition der Amtsstube passte.

»Warum?«, wiederholte Wachter Pytliks Frage und der Hauptkommissar vermutete, dass er wohl keine befriedigende Antwort bekommen würde.

»Ist lange her und die Leute hier sind froh über jeden Tag, an dem ein bisschen mehr Gras über die Sache wächst.«

Pytlik hatte keine Lust, sich wie ein kleiner Schuljunge behandeln zu lassen. Wer war dieser Walfried Wachter überhaupt, dass er sich anmaßte zu bestimmen, was und in welcher Ausführlichkeit er den beiden Ermittlern erzählen wollte. Schließlich ging es hier um einen Doppelmord in seinem Dorf.

»Also hören Sie mal, Herr Wachter,…!«

Pytlik hatte gerade begonnen, Autorität zu zeigen, als seine ersten Worte von einem lauten Knall der Eingangstür begleitet wurden und er seine Ansprache unterbrechen musste.

»Walfried? Walfried? Bist du schon da?«, war vom Flur eine von Hast und Aufgeregtheit beherrschte Männerstimme zu hören und obwohl der Fußboden kaum Geräusche preisgab, konnte man erahnen, dass die Person sich eilig dem Büro des Bürgermeisters näherte. Pytlik schaute zu Wachter, Wachter zu Pytlik. Dann Pytlik zu Hermann und der zum Bürgermeister.

»Ja, hier in meinem Büro. Mit den Herren von der Polizei.«

Kaum, dass Walfried Wachter dem heraneilenden Besucher deutlich und unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, dass er nicht alleine in seinem Zimmer saß, trafen sich die Blicke des Bürgermeisters und des Hauptkommissars in einem kurzen Moment und jeder wusste, was der Andere dachte.

Im nächsten Augenblick flog, mehr als dass er ging oder rannte, ein Mann durch die Bürotür, gerade als die augenscheinliche Warnung des Bürgermeisters verhallt war. Pytlik und Hermann musterten die Gestalt, die nicht sonderlich groß und eher schmächtig war. Das Haupthaar war bereits sehr dünn und das Profil bekam durch die leichte Hakennase mit einer unübersehbaren Warze und zwei leicht nach vorne stehenden Schneidezähnen eine markante Note.

»Ah, äh, gu.., guten Morgen!«

Die Szene wirkte filmreif. Hätte nur noch gefehlt, dachte sich Pytlik, dass die Ankunft dieses Mannes von dem Geräusch quietschender Reifen begleitet worden wäre. Da stand er nun vor ihnen, von dem Pytlik und Hermann noch nicht wussten, wer er war und was er hier wollte. Der Hauptkommissar reagierte schnell, sprang auf und stellte sich in die Sichtlinie zwischen dem Bürgermeister und dem Ankömmling.

 

»Guten Morgen, nur hereinspaziert, Herr…«, begann Pytlik ihn forsch zu begrüßen. Der Mann war sichtlich überrascht und benahm sich in den ersten Momenten wie ein ertappter Einbrecher. Er schaute Pytlik nicht direkt ins Gesicht, sondern versuchte mit leicht gesenktem Kopf am Hauptkommissar vorbei Blickkontakt mit Walfried Wachter aufzunehmen. Der ließ sich allerdings nicht lumpen und klärte mit ein paar hastig gesprochenen Informationen auf.

»Das ist Herr Kolb, unser Kirchenpfleger. Aribert, die Kommissare haben mir gerade eine sehr schlimme Sache mitgeteilt.«

Der Bürgermeister hatte sich von seinem Stuhl erhoben und war um den Schreibtisch herum nach vorne gekommen, um den Mann mit einem kurzen Handschlag zu begrüßen.

»Was denn?«, fragte Aribert Kolb so schüchtern wie ein kleiner Schuljunge, den man dabei erwischt hatte, wie er im Tante-Emma-Laden ein Päckchen Kaugummis gestohlen hatte. Pytlik klinkte sich ein, ihm war das Theater zuwider.

»Sie haben es doch bestimmt schon von irgendwoher gehört, dass der Bauer Schubert und seine Tochter tot sind. Oder?«

Kolb machte einen verlegenen Eindruck und schaute abwechselnd – ohne dabei seinen Kopf zu bewegen – zwischen Pytlik und Walfried Wachter hin und her. Dann traf ihn des Bürgermeisters Hand auf der Schulter.

»Also, Herr Hauptkommissar, jetzt hören Sie aber auf! Es ist kurz vor neun in der Früh und Sie sind wahrscheinlich die Einzigen, die überhaupt schon davon wissen – na gut, jetzt weiß ich es auch noch, weil Sie es mir erzählt haben. Aber glauben Sie denn ernsthaft, dass das im Dorf bei uns schon jemand weiß? Im Leben nicht! Ich bitte Sie! Und der Ari, der erfährt ohnehin immer alles als Letzter in seiner Junggesellenbude. Oder, Ari?«

Für einen kurzen Augenblick schauten sich Pytlik und Wachter wieder an, dann überlegte der Hauptkommissar, ob es eigentlich wirklich wichtig für ihn wäre, zu wissen, ob einer von den Beiden oder alle zwei bereits informiert waren. Für den Moment war es egal. Walfried Wachters Verhalten war ihm dennoch suspekt. Der wiederum schien die Situation nun komplett unter Kontrolle zu haben.

»Bist du wegen der Sache mit den Straßenausbesserungen vor dem Pfarrhaus hier? Weil wir noch mal darüber reden wollten, oder?«

Aribert Kolbs Miene hellte sich plötzlich und für Pytlik ein bisschen zu schnell auf und der verunsichert wirkende Mann schien sich gefangen zu haben.

»Ja, genau! Genau wegen der Straße bin ich hier. Da hatten wir ja gesagt, dass wir da noch mal drüber reden müssen.«

»Ja, machen wir dann auch gleich«, unterbrach ihn der Bürgermeister. »Ich weiß ja nicht, ob die beiden Herren von der Polizei mich im Moment noch länger belästigen müssen.«

Sein Ton war autoritär und der Blick, den er Pytlik und Hermann gleichzeitig zuwarf, sollte wohl unmissverständlich als Aufforderung verstanden werden, das Büro und das Rathaus nun zu verlassen.

»Ich hatte Ihnen ja bereits gesagt, dass ich noch ein paar Dinge zusammenstellen und heraussuchen muss. Hier, bitte!«

Walfried Wachter hatte aus einer Schublade eine Visitenkarte mit seinem Namen, einer Festnetz- und einer Handynummer herausgekramt und sie Pytlik in die Hand gedrückt.

»Ich stehe Ihnen natürlich jederzeit gerne für weitere Fragen zur Verfügung. Glauben Sie mir, je eher Sie herausfinden, wer den Schubert und seine Tochter umgebracht hat, desto besser ist es für mich und unser Dorf. Eigentlich wollen wir hier alle nur unsere Ruhe haben.«

***

Pytlik und Hermann fuhren nach dem wenig aufschlussreichen und äußerst seltsamen Besuch beim Bürgermeister zunächst noch einmal zum Tatort, wo die Kollegen von der Schutzpolizei um das Haus herum mittlerweile rot-weißes Absperrband angebracht hatten und ein Drei-Mann-Team der Spurensicherung aus Coburg auch schon vor Ort war. Nachdem der Hauptkommissar kurz Rücksprache gehalten hatte, machte er sich zusammen mit seinem Assistenten auf den Weg zurück ins Präsidium nach Kronach. Als sie Birnbaum in südlicher Richtung verlassen hatten und Hermann kurz vor der Abzweigung nach Steinberg die Geschwindigkeit verringerte, deutete Pytlik mit einer Hand geradeaus.

»Fahr doch bitte über Steinwiesen zurück, Cajo! Ich habe einen unheimlichen Kohldampf.«

Hermann reagierte etwas verwundert, fand die Idee seines Chefs aber gar nicht so schlecht. Schließlich hatte auch er noch nicht gefrühstückt und da er Pytlik sehr gut kannte, fand er den Vorschlag, den der Hauptkommissar zwar noch nicht ausgesprochen hatte, auch ganz hervorragend.

Eine Viertelstunde später saßen die Beiden in Marktrodach und genossen ihr Fast-Food-Frühstück. Man merkte ihnen an, dass sie eine zu kurze Nacht mit zu viel Alkohol hinter sich hatten und Geist und Körper für die bevorstehenden Ermittlungen im Mordfall Schubert erst einmal neu starten mussten. Sie hatten sich etwas abseits gesetzt und konnten ihre ersten Gedanken zu dem, was sie bisher wussten und in Erfahrung gebracht hatten, austauschen.

»Glaubst du immer noch«, wollte Hermann wissen, nachdem er sich mit einer Serviette zunächst über den Mund gewischt hatte, »dass die beiden Möglichkeiten, die wir vorhin in Betracht gezogen haben, die einzigen Varianten sind?«

Pytlik rührte mit einem dünnen Holzspatel in seinem Kaffee und nippte dann am Pappbecher, bevor er anschließend das Gesicht verzog.

»Mist, ist der heiß!«

Er räusperte sich kurz.

»Es würde mich wundern, wenn die Ergebnisse der Spurensicherung auf etwas Anderes hindeuten würden.«

Hermann hatte erwartet, dass Pytlik seine Gedanken weiter preisgeben würde, doch plötzlich schien der Hauptkommissar völlig den Faden verloren zu haben.

»Sag mal«, begann Pytlik mit einem Ausdruck von Verwunderung von Neuem. »Wie viele vergleichbare Fälle – also ich meine jetzt Gewaltverbrechen – haben wir in den letzten Jahren auf den Tisch bekommen?«

Hermann zuckte mit den Schultern, während er noch einmal kräftig zubiss.

»Genau kann ich dir das nicht sagen, aber schon einige, würde ich meinen.«

Pytlik kniff etwas die Augen zusammen und verlieh seinem Gesicht einen Hauch von Ratlosigkeit, vielleicht war es sogar Enttäuschung oder Verzweiflung.

»Liegt es tatsächlich daran«, versuchte er sich selbst zu erklären, »dass es gestern ein bisschen länger ging und wir etwas getrunken haben? Ich meine, ich weiß ja nicht, wie du das da oben empfunden hast. Es hatte irgendetwas von Belanglosigkeit für mich. Da liegen zwei Menschen, die allem Anschein nach umgebracht worden sind und ich interessiere mich viel mehr für die wunderbare Natur vor deren Haustür.«

Pytlik schüttelte ein paar Mal langsam den Kopf hin und her, so als wollte er sagen, dass er das überhaupt nicht verstehen konnte.

»Naja«, versuchte Hermann ihm beizupflichten, »wenn ich die komische Vorstellung des Bürgermeisters noch sehe, dann macht das alles schon ein bisschen den Eindruck, dass die Geschichte wohl nicht für besonders viel Aufsehen sorgen wird. Mag daran liegen, dass die wirklich in dem Tal da unten keinen Bezug zum Dorf hatten – aus welchem Grund auch immer. Kann aber auch sein, dass es da wirklich etwas gab, was die Leute oben in Birnbaum und den Bauern mit seiner Tochter auseinander getrieben hat. In gewisser Weise hast du schon Recht. Aber ich kann dir sagen, dass spätestens jetzt die Nachricht in jedem Haus bereits angekommen ist.«

Pytlik versuchte es ein weiteres Mal mit dem Kaffee. Während Hermann geredet hatte, hatte er anerkennend genickt, um zu bestätigen, dass sein Assistent mit seinen Ausführungen wohl richtig lag.

»Wir haben ja noch nichts, was uns einen Hinweis geben könnte. Zwei Einsiedler auf der einen Seite und ein Dorf, das froh ist, dass die Beiden ein bisschen weg vom Schuss wohnen. Ein Bürgermeister, der – sagen wir es einmal vorsichtig – irgendwie einen ganz komischen Eindruck macht und nicht sehr auskunftsfreudig zu sein scheint. Und dann noch dieser Kirchenpfleger.«

Hermann unterbrach.

»Ich musste ja vorhin fast ein bisschen lachen«, sagte er. »Dieses alte Rathaus, das Büro und diese zwei Gestalten. Kennst du noch die Filme mit Don Camillo und Peppone?«

Pytlik nickte wiederum und beide mussten grinsen.

»Ein sehr guter Hinweis übrigens«, fiel dem Hauptkommissar dazu ein. »Wo es einen Kirchenpfleger gibt, da kann auch ein Pfarrer eigentlich nicht weit sein. Wir sollten zunächst einmal herausfinden, was das generelle Problem in Birnbaum ist.«

»Würde mich wundern«, schien Hermann bereits die Lösung präsentieren zu wollen, »wenn unser lieber Kollege Justus Büttner da nicht was wüsste. Der ist doch diesbezüglich wie ein Almanach, wenn es um Dorfgeschichte und -geschichten geht.«

Der Kaffee war nun genießbar und auch sonst schien Hauptkommissar Pytlik den ungewöhnlichen Anflug von Sentimentalität und Selbstzweifel hinter sich gelassen zu haben.

***

»Dess müss vor 20 Joah gewesen sei«, überlegte Justus Büttner, Leiter der Schutzpolizei, angestrengt, legte dabei die Stirn in Falten und kraulte sich das Kinn. Pytlik und Hermann saßen im Büro am Kaulanger und hatten sich noch frische Puddingbrezeln aus dem Backhaus mitgebracht. Sie hörten dem mit tiefer Stimme und rücksichtslos im breiten Dialekt erzählenden Kollegen interessiert zu. Pytlik hatte vorher seinen Chef, Robert Behrschmidt, über die Geschehnisse in Birnbaum informiert.

»Ich erinner mich nuch: Do hodds gebrennd! Desswecher homm sa jetzt ja ach den Wasserdurm!«

Pytlik verstand nicht. Nachdem er genussvoll von seinem Lieblingsgebäck abgebissen hatte, hakte er nach.

»Wie? Was hat denn das Eine mit dem Anderen zu tun?«

»Irchendwie homm sa beim Löschen nedd genuch Wasserdrugg ghobbd und als Lehre do draus und nadürlich ach als Douristenaddragtion...«

»Aha!«

Pytlik hatte Interesse gefunden an dem, was Büttner erzählte. Den Wasserturm hatte er schon gesehen, die Geschichte dazu kannte er bisher noch nicht.

»Ja, und? Bringt uns das jetzt weiter?«, schaltete sich Hermann ein, der eine Art Generationenkonflikt mit dem bärigen Büttner austrug. Es war ungewohnt, dass dieser nicht antwortete, ja nicht einmal zu reagieren schien auf das, was sein jüngerer Kollege in provokanter Art geäußert hatte. Büttner schaute ihn nicht einmal an, konzentrierte sich stattdessen auf Pytlik und fuhr fort.

»Is zwoa scho 20 Joah her...«

»Aber?«, war Pytlik gespannt.

Büttner schaute erst voller Genugtuung zu Hermann, dann wieder zu Pytlik.

»Bei dem Feuer is der Huf vo die Kleyleins fast komblett nunndergebrennd. Zergoa aufn Nochberhuf hädd des Feuer fast nuch übergegriffen.«

»Ich erinnere mich dunkel«, sagte Pytlik. »Gab es da nicht auch Tote?«

Büttner nickte zustimmend. Die Tür ging auf und Robert Behrschmidt, der Leiter der Polizeiinspektion am Kaulanger, kam herein.

»Guten Morgen!«, begrüßte er Hermann und Büttner, die er an diesem Tag noch nicht gesehen hatte. Sie erwiderten den Gruß. Behrschmidt wandte sich an Pytlik.

»Die Pressekonferenz habe ich für heute Nachmittag angesetzt. Was wollen Sie jetzt unternehmen?«

Pytlik saß immer noch ruhig in seinem Schreibtischstuhl und war gespannt, was Büttner ihm weiter erzählen wollte.

»Haben Sie eigentlich schon gefrühstückt? Hier! Die sind lecker, nehmen Sie doch eine!«

Er schob die Papiertüte quer über den Tisch, so dass sie direkt vor seinem Chef zum Liegen kam. Der nahm sie in die Hand, schaute kurz hinein und wunderte sich dann.

»Was ist das denn?«, erkundigte er sich mit einem neugierigen Blick.

»Kennen Sie nicht? Puddingbrezeln! Einfach ein Genuss!«, sagte Pytlik.

Behrschmidt blickte skeptisch, dann griff er hinein, nahm ein Teil heraus und biss zu. Noch während er das Gebäck im Mund hatte und die Augen nach unten auf die wabbelige Puddingfüllung fallen ließ, zog er die Brauen hoch und machte ein Geräusch, das dem Schnurren eines Katers ähnelte. Pytlik, Hermann und Büttner schauten sich gegenseitig an und mussten schmunzeln.

»Und?«, war Büttner neugierig. »Legger, odder?«

»Sehr gut! Wirklich sehr gut! Warum wusste ich bisher nichts davon?«

»Jetzt wissen Sie es ja«, antwortete Pytlik trocken.

»Der Kollege Büttner erzählt uns gerade ein bisschen was über Birnbaum. Da gab es vor 20 Jahren einen Brand. Ich kann mich nur noch dunkel erinnern. Die Kollegen aus Coburg haben damals die Ermittlungen übernommen, meiner Meinung nach aber nichts gefunden. Hieß es letztendlich nicht, dass ein Kurzschluss möglicherweise das Feuer verursacht hatte?«

 

Pytlik hatte wieder Blickkontakt zu Büttner aufgenommen und ihn damit gleichzeitig gebeten, weiter zu berichten, was er noch wusste. Büttner hatte im selben Moment die Papiertüte mit der letzten Puddingbrezel darin zu sich herübergezogen und nach einer kurzen Bestätigung des Hauptkommissars, dass das in Ordnung wäre, zugegriffen.

»Es hodd dadsächlich zwaa Duda gehm! Der Kleyleins-Bauer und a Fraa!«

Büttner machte es spannend.

»Die Leichen waren doch bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, oder?«, meinte Pytlik zu wissen.

»Ja«, fuhr Büttner fort. »Obber onhond vom Gebiss hodd mer außerm Kleylein ach nuch die Fraa vom Schubert identifiziert.«

»Ist nicht wahr!«, zeigte sich Hermann verblüfft, der genauso wie Pytlik große Augen machte. Behrschmidt verstand im ersten Moment noch nicht ganz.

»Und der Schubert? Ach so«, kam es diesem dann, »ist das nicht unser…«

»Genau!«, half ihm Pytlik. »Das ist unser toter Bauer im Rössental.«

Für einen Moment herrschte nachdenkliche Stille. Jeder einigermaßen ambitionierte Kriminalist musste sich jetzt natürlich die Frage stellen, ob beide Ereignisse etwas miteinander zu tun haben konnten. Hatte Pytlik noch vor wenigen Stunden von Belanglosigkeit gesprochen oder sogar ein Motivationsproblem bei sich selbst festgestellt, war ihm nun klar, warum er diesen Job so mochte. Jetzt war er wieder in seinem Element und die kleinen Rädchen in seinem Kopf kamen langsam auf Touren.

»Was weißt du noch, Justus?«

»Ich hobb vorhin moll mei Allda – also mei Fraa – ogerufen, wall ich dess ghörd hobb. Die hodd nämlich a Kusine in Berrm...«

»Wo?«, wollte Behrschmidt wissen.

»In Berrm, also Birnbaum«, erklärte Büttner. »Es hodd wuhl ghaasn, die zwa Körber, also Leichen, wärn zomm gfunna worrn und zwoa uffm Haabuern.«

»Wo?«, wollte Behrschmidt wiederum wissen.

»Da, wo sich der Heuboden befand«, strengte sich Büttner an, ordentlich zu sprechen und übertrieb mit seiner Übersetzung. Er wusste, dass Behrschmidt ihn ebenso wie Pytlik manchmal nicht verstand. Das konnte wiederum Büttner nicht verstehen.

»Interessant! Sehr interessant! Findest du nicht, Cajo?«

Pytlik gab seine bequeme Sitzhaltung auf, erhob sich, nahm einen dicken Filzstift in die Hand und lief zur Schreibwand, an der noch ein paar unwichtige Notizen standen, die er mit einem Tuch schnell wegwischte. Dann schrieb er einige Namen und Begriffe darauf, zeichnete ein paar Pfeile in verschiedene Richtungen und ergänzte alles noch mit diversen Stichwörtern. Er ging zwei Schritte zurück und betrachtete das, was er entworfen hatte. Danach ließ er den Stift locker auf den Schreibtisch fallen und drehte sich ein bisschen zur Seite, so dass ihn Behrschmidt, Hermann und Büttner sehen konnten. Er deutete mit einem Finger auf die Tafel.

»Hier in der Mitte haben wir also die Schuberts. Bisher wissen wir, dass Georg Schubert und seine Tochter Helga alleine auf dem Hof gewohnt haben. Die Frau ist schon 20 Jahre tot. Was auf den ersten Blick für uns vorhin noch nicht relevant war, scheint jetzt allerdings doch von Interesse sein zu können. Hier«, Pytlik deutete auf einen Pfeil, den er etwas nach links versetzt oben in die Ecke gemacht hatte, »haben wir den Bürgermeister, Walfried Wachter.«

»Was steht da drunter noch?«, wollte Robert Behrschmidt wissen. »Unter dem Bürgermeister meine ich, in der Klammer.«

»Das heißt ›KP‹ für Kirchenpfleger. Wir erzählen also dem Bürgermeister, was passiert ist und er tut so, als hätte er das noch nicht gewusst. Was er uns aber auch noch erzählt – und zwar sehr unverhohlen – ist, dass das Dorf und die Schuberts aus irgendeinem Grund auf Kriegsfuß standen. Er wollte es nicht weiter erklären. Aber jetzt kommt natürlich die Geschichte mit dem Brand ins Spiel.«

Pytlik deutete jetzt auf der Tafel mit seiner Hand rechts hinüber zur anderen oberen Ecke, wo er »Kleylein« hingeschrieben hatte. Darunter stand noch »Feuer« sowie »Bauer und Frau Schubert kamen ums Leben«. Pytlik überlegte einen kurzen Moment, holte sich dann schnell den Stift vom Schreibtisch zurück und ergänzte das, indem er hastig »Beziehung?«, »Eifersucht?«, »Rache?« und »Mord?« hinzufügte. Danach presste er durch einen kurzen Schlag mit der Handfläche die Verschlusskappe auf den Stift.

»Bringt uns im Moment vielleicht noch gar nicht weiter«, gestand er sich selbst ein, »aber jetzt haben wir zumindest was, womit wir in Birnbaum schon einmal ein bisschen für Aufruhr und vor allen Dingen offene Türen und Ohren sorgen können. Die sollen bloß nicht denken, dass sie vor uns irgendetwas verheimlichen oder totschweigen können.«

»Do däusch dich moll nie!«, wusste Justus Büttner und schien dabei sehr überzeugt von seiner Einschätzung.

»Rein zeitlich«, versuchte Hermann, die Überlegungen seines Chefs zu stützen, »passen zwar der Tod der Mutter und die Tatsache, dass sie anscheinend bei dem Brand ums Leben gekommen ist, zusammen. Aber Vergeltung dafür – aus welchem Grund auch immer – 20 Jahre später? Macht das Sinn?«

»Und wofür überhaupt Vergeltung oder – wie Sie es dort formuliert haben – Rache?«

Auch Robert Behrschmidt konnte nicht mehr als eine vage Vermutung attestieren, die letztendlich nur auf logischen Fakten beruhte. Pytlik nahm seine Kaffeetasse und lief hinüber zur Maschine, um sich nachzuschenken. Er setzte sich wieder gemächlich auf seinen Stuhl und sagte dann mit Überzeugung: »Instinkt! Wenn ich mich bisher auf etwas verlassen konnte, dann war es mein Instinkt. Birnbaum war bis heute allem Anschein nach ein gespaltenes Dorf. Auf der einen Seite die Masse, auf der anderen Seite Bauer Schubert und seine Tochter. Und jetzt gibt es nur noch das Dorf und dafür gibt es einen Grund. Und den werden wir herausfinden.«

»Und was wollen Sie jetzt als Nächstes tun?«, fragte Behrschmidt.

Pytlik griff in die Brusttasche seines Hemdes und holte die Visitenkarte hervor, die er von Walfried Wachter bekommen hatte.

»Da, wo Fragen sind, muss es auch Antworten geben. Ich lass mich doch von so einem Hans Wurst nicht an der Nase herumführen.«

Dann dachte er kurz nach.

»Cajo«, sagte er, »was hältst du davon, wenn du heute einmal die Pressekonferenz übernimmst? Wäre das für Sie in Ordnung, Robert?«

Pytlik wandte sich an Behrschmidt, der etwas überrascht zu sein schien, grundsätzlich aber nichts dagegen einzuwenden hatte.

»Von meiner Seite aus in Ordnung«, sagte er und wartete Hermanns Antwort ab.

»Äh, ja, wieso nicht?«, war dieser zwar etwas verblüfft, kneifen wollte er aber auch nicht.

»Und was ist mit dir?«, wollte er aber dennoch von Pytlik wissen.

Der Hauptkommissar drehte sich in seinem Stuhl zur Seite und zeigte auf die Wandtafel.

»Ich will mal schauen, wie genau dieses Dreiecksverhältnis da funktioniert. Hat es vielleicht keine Bedeutung und mit dem Mord an Schubert und seiner Tochter etwa gar nichts zu tun?«

Dann wandte er sich noch einmal an Justus Büttner.

»Sag mal, wie ging es denn eigentlich nach dem Brand für die Frau von dem Kleylein weiter? Hat die den Hof wieder aufgebaut?«

Büttner zuckte kurz mit den Schultern.

»Müssd ich amoll mei Allda freech!«

»Nein, ist schon gut! Werde ich dann ja sehen.«

Alles war gesagt und die Versammlung löste sich auf. Adelgunde Reif, Pytliks Sekretärin, kam mit einem Zettel in der Hand herein. Die Notiz übergab sie ihrem Chef.

»Hier, Franz! Der Herr Pfarrer Puff aus Birnbaum hat angerufen.«

Kaum, dass Gundi Reif den Namen ausgesprochen hatte, rollte sie die Augen nach oben und stöhnte leise und gelangweilt vor sich hin. Die Männer lachten und jeder wusste sofort einen spontanen Kommentar abzugeben.

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