Abitreffen

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»Aber bitte, Flo!«

Die Ernsthaftigkeit und das Erstaunen waren übertrieben gespielt. Entspannt ließ der arrogant auftretende Typ den Löffel auf die Untertasse fallen, schürzte abwägend die Lippen, wippte dabei den Kopf einige Male hin und her und sagte dann mit einem süffisanten Lächeln im Gesicht:

»Ich habe eigentlich feste Bürozeiten mit meinem Vater vereinbart. Ich habe natürlich auch viele Termine bei Kunden, so dass ich nicht immer im Büro sein muss, wenn du verstehst, was ich meine.«

Pytlik wusste sofort, was er meinte. Er war ein fauler Hund, der mit beiden Händen das Geld seines Vaters ausgab, der wiederum froh war, wenn sein nichtsnutziger Sohn ihm im Geschäft nicht die Arbeit kaputtmachte.

»Naja, wenn man morgen mal unsere Abiturkolleginnen und -kollegen befragen würde, was aus dir geworden ist, würden wohl die meisten genau darauf tippen, wie es für dich nun gekommen ist, Benny.«

Ach, wie niedlich! Pytlik musste innerlich leicht schmunzeln, nachdem er nun wusste, dass er es mit dem reichen Unternehmersöhnchen Benny zu tun hatte, das anscheinend nach Kronach gekommen war, weil hier ein Treffen seiner ehemaligen Abiklasse stattfand. Und dieser Flo – Pytlik vermutete, dass er in Wirklichkeit Florian hieß – schien wohl damals so eine Art Lakai des Angebers gewesen zu sein. Der Hauptkommissar hatte Zeit und machte sich den Spaß, noch ein bisschen zu lauschen.

»Ja, ja, die guten alten Kolleginnen und Kollegen aus dem Abitur«, simpelte der Kleine vor sich hin, der Pytlik an eine etwas ausgewachsenere Version des Michel aus Lönneberga erinnerte, ohne dass er mit ihm die gleichen Lausbubenstreiche in Verbindung bringen würde.

»Hast du eigentlich jemandem Bescheid gegeben, dass du kommen wirst? Ich meine, die werden dich nicht gerade mit offenen Armen empfangen, das ist dir doch wohl klar!«

Pytlik schlug eine Broschüre auf, die vor ihm auf dem Tisch lag. Er wollte damit zeigen, dass er sich in keiner Weise für das interessierte, was die beiden Männer da besprachen. Tatsächlich strengte er sich aber jetzt umso mehr an, das Gespräch zu verfolgen.

»Na, du bist doch schuld! Ich war ja im E-Mail-Verteiler gar nicht mit drin, als es um die Terminfestlegung für das Abitreffen ging. Du hättest mir das einfach nicht weiterleiten sollen! Ist doch offensichtlich, dass die mich nicht dabeihaben wollen. Aber, du weißt ja, so was ist mir scheißegal! Ich habe mich noch nie nach den Anderen gerichtet. Ich habe immer mein Ding gemacht. Verstehst du, Flo!«

Das Lächeln des Blonden wirkte gequält, aber natürlich zustimmend. Pytlik dachte, dass das früher zwischen den Beiden wohl auch immer so gelaufen sein musste. Hier der große Zampano, der die Richtung vorgibt und alles besser weiß und dort der kleine Stiefellecker, der froh sein konnte, dass ihm jemand Aufmerksamkeit und so etwas wie Zuneigung schenkte. Für Pytlik war dies nun zumindest geklärt.

»Was ist los, Flo? Du hast doch irgendetwas auf dem Herzen.«

Der Macho hatte bemerkt, dass seinem Kumpel von früher anscheinend irgendetwas auf den Nägeln brannte. Die Stimmen der Beiden wurden leiser und der, dessen Name wohl Florian sein musste, schaute zunächst vorsichtig nach links und rechts, bevor er weiter sprach.

»Es ist wegen der Geschichte mit Martina!«

Das bis dahin so überlegen und unerschütterlich wirkende Getue des hessischen Sportwagenliebhabers verwandelte sich plötzlich in angestrengte Mimik und nervöse Gesten. Wer auch immer diese Martina war, sie schien eine besondere Beziehung mit diesem Benny zu haben, schlussfolgerte Pytlik sogleich.

»Aber ich dachte, davon würde niemand wissen. Ich meine, was da in der Nacht bei unserem Abischerz gelaufen ist, das wissen doch nur du und ich.«

Beide flüsterten nun mehr als sie das vorher getan hatten. Pytlik musste sich konzentrieren.

»Ja, ja, aber anscheinend hat sie doch etwas erzählt, auch wenn du ihr gedroht hast.«

Pytlik hatte den letzten Halbsatz nicht mehr verstehen können, da sein Handy ausgerechnet in diesem Augenblick klingelte. Er ging kurz nach draußen und telefonierte, bevor er anschließend wieder an seinen Platz im Backhaus zurückkehrte. Die beiden Männer schienen beschlossen zu haben, das Thema von gerade nicht weiter in der Öffentlichkeit zu besprechen. Es dauerte dann auch nur noch wenige Momente – der Hauptkommissar war etwas überrascht – und das Duo zahlte an der Theke die Rechnung und verließ den Raum. Im Augenwinkel hatte Pytlik gesehen, dass sich eine junge Frau mit dunkelblauer Uniform, einem Stift und einem Quittungsblock in der Hand für das schnelle Auto auf dem Behindertenparkplatz interessierte. Ein Lächeln huschte ihm ins Gesicht. Tanja, die sympathische Politesse, die aufgrund ihres Jobs in Kronach mehr Feinde als Freunde hatte, war gerade dabei, ihre Arbeit auch in diesem Fall akribisch zu erledigen.

Pytlik konnte zwar nicht hören, worum es im anschließenden Gespräch der Männer, die noch vor wenigen Augenblicken neben ihm im Backhaus gestanden hatten, mit der durchaus attraktiven jungen Frau mit den bunten Fingernägeln ging, allerdings konnte sich der Hauptkommissar den Verlauf der Unterhaltung sehr gut vorstellen. Er beobachtete. Pytlik hatte eine gewisse Vermutung, wie es ablaufen würde. Allerdings musste sich der Kronacher Ermittler sehr schnell eingestehen, dass er die Situation wohl falsch eingeschätzt hatte. Ein bisschen Smalltalk, ein paar dumme Sprüche, Zerreißen des Knöllchens und dann mit Vollgas abhauen – das hatte Pytlik erwartet. Aber es war ganz anders gekommen und der Hauptkommissar machte sich bereit, der Politesse zu Hilfe zu eilen. Nachdem er sehen konnte, dass der mutmaßliche Fahrzeughalter der Ordnungshüterin gegen deren Willen einen Arm um die Schultern legte und sie fest an sich drückte und begann, sie vor seinem Kumpel lächerlich zu machen, legte auch Pytlik schnell ein paar Münzen auf den Tresen und eilte nach draußen.

»So, Freundchen, Schluss jetzt! Du nimmst sofort deine Hände von meiner Kollegin oder es passiert was!«

Im Nu blieben einige Passanten am Ort des Geschehens stehen und zeigten neugierig Interesse, was nun passieren würde. Pytlik stand jetzt vor dem Mann, der ihm von der Statur her ein bisschen ähnelte, gut und gerne aber sein Sohn hätte sein können. Der blonde Begleiter hielt sich schüchtern mit einem Meter Abstand im Hintergrund. Der Politesse, die sich mittlerweile aus den Fängen des Querulanten befreit hatte, war die Situation sichtlich peinlich. Pytlik redete beruhigend auf sie ein.

»Alles gut, Tanja! Alles gut, ich regle das. Schreib du dein Knöllchen; ich bin mir sicher, das wird der feine Herr hier schnellstmöglich begleichen.«

Der feine Herr, wie Pytlik ihn genannt hatte, war sichtlich überrascht, schaffte es aber, rasch wieder in Angriffsposition zu gehen.

»Kollegin also! Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Die Fragen stelle jetzt zunächst mal ich«, entgegnete Pytlik lapidar.

»Führerschein, Fahrzeugschein, Ausweis bitte! Und von Ihnen bitte auch!«

Pytlik genoss es, den beiden Männern eine kurze Belehrung zu geben.

»Also, wen haben wir denn da? Sattler, Benjamin. Aus Hanau, ist das richtig?«

»Wenn es da steht, wird es schon so sein.«

»Schönes Auto haben Sie da!«

»Werden Sie sich wohl niemals leisten können!«

Pytlik lächelte mitleidig.

»Und wen haben wir hier noch?«, schaute er sich den Ausweis des zweiten Mannes an.

»Aha, Florian Frank! Na, da haben Ihre Eltern aber viel Einfallsreichtum bewiesen. Wieso denn nicht gleich Frank Frank? Wäre doch noch einfacher gewesen, oder nicht?«

»Jetzt machen Sie mal langsam, Herr…«

»Pytlik! Pytlik ist mein Name. Ich bin Hauptkommissar bei der Polizei in Kronach und wenn ich nicht gerade Verbrechen aufkläre, komme ich meinen Kolleginnen und Kollegen zu Hilfe, wenn die gerade Stress mit irgendwelchen Typen haben, die meinen, nach Lust und Laune Gesetze außer Acht lassen zu können.«

Der Macho hatte sich aus dem Auto einen Notizblock und einen Stift geholt.

»Wie schreibt man das?«

»Was?«, wollte Pytlik wissen.

»Ihren Namen! Wie schreibt man Ihren Namen?«

»Komm schon, Benny! Jetzt lass doch gut sein! Zahl den Strafzettel und dann hat sich die Sache!«

Der kleine Blonde schien zumindest vernünftiger zu sein als sein Kumpel. Als er ihn beschwichtigend am Arm fasste, schubste der in allerdings unsanft weg.

»Spinnst du? Ich lass mich hier doch nicht schikanieren!«

Pytlik wollte noch warten, bis seine Kollegin mit ihrer Arbeit fertig war und weitergehen würde, dann würde er den kleinen Zwischenfall auch schnellstmöglich beenden und selbst nach Hause gehen. Die Angelegenheit war ihm keine weitere Aufregung wert.

»Mach‘s gut, Tanja! Schönes Wochenende.«

»Danke, Franz! Wär’ nicht nötig gewesen, aber trotzdem…«

Pytlik konnte sehen, dass es nicht verkehrt war, der jungen Frau geholfen zu haben. Er hätte nur zu gern gewusst, was sie sich alles hatte anhören müssen. Als sie sich davonmachte, konnte es sich Benjamin Sattler nicht verkneifen, ihr noch einen Kommentar hinterherzurufen.

»Tschüss, Tanja! Ich finde bestimmt heraus, wo ich dich heute Abend treffen kann. Ich habe gute Beziehungen in Kronach – immer noch. Kann sein, dass wir heute Abend noch gemeinsam irgendwo etwas trinken. Was meinst du?«

Er winkte aufreizend und arrogant hinter der Politesse her, die sich aber nicht mehr umdrehte.

»So, jetzt reicht es mir! Hier sind Ihre Papiere und Ausweise zurück. Ich gebe Ihnen den guten Rat, sich mit ruhiger Fahrt hier vom Hof zu machen.«

Dann trat Pytlik ganz nahe an Benjamin Sattler heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das niemand sonst hören konnte.

 

»Arschlöcher wie Sie kann ich in meiner Stadt nicht gebrauchen! Also, steigen Sie jetzt in Ihr Scheißauto ein und hauen Sie ab! Und wenn ich auch nur noch eine kleine Beschwerde über Sie hören sollte, solange Sie hier sind, werde ich Sie auseinandernehmen, das verspreche ich Ihnen! Und bevor Sie jetzt losbrüllen, dass der Bulle Sie Arschloch genannt hat, darf ich Sie daran erinnern, dass der Bulle gesehen hat, wie Sie seiner Kollegin an die Titten gefasst haben. Also, auf Nimmerwiedersehen, Amigo!«

Nachdem Pytlik einen Schritt zurückgewichen war, konnte er sich an der versteinerten Miene Benjamin Sattlers erfreuen, der wohl tatsächlich im Begriff gewesen war, das zu tun, wovor Pytlik ihn letztendlich eindringlich gewarnt hatte.

***

Samstag, 6. Oktober 2007

»Mann, Mann, Mann! Heiner, was machst du denn für Sachen?«

Es war Samstagmorgen und diesmal konnte Pytlik zumindest auf ein gemütliches Frühstück zurückblicken, da er es geschafft hatte, seine Kaffeemaschine selbst zu reparieren. Gegen halb zehn hatte er versucht, seinen Kumpel Heiner Baumann zu erreichen, den er am Abend zum Grillen einladen wollte.

»Als deine Frau mir erzählt hat, was passiert ist, habe ich es zuerst nicht geglaubt.«

Heiner Baumann machte einen etwas geschwächten Eindruck, freute sich aber sehr über den Besuch des Hauptkommissars.

»Es ging alles ganz schnell gestern. Ich hatte schon zwei, drei Tage dieses Gefühl, dass da irgendetwas nicht passte. Dann kam gestern auch noch Fieber dazu und dann hat es meiner Frau gereicht. Sie hat mich gleich zum Arzt gefahren und der hat schon nach wenigen Minuten und ein bisschen Rumtasten entschieden, dass ich sofort ins Krankenhaus muss. Zwei Stunden später lag ich auf dem OP-Tisch.«

Pytlik war trotz allem irgendwie erleichtert.

»Und jetzt liegst du also hier ohne Blinddarm. Schon irgendwie witzig: Manche Menschen bekommen solche Kinderkrankheiten erst in hohem Alter.«

Beide lachten, Heiner Baumann ein bisschen weniger als Pytlik und man merkte, dass es ihm etwas schwer fiel.

Der Hauptkommissar hatte sich vergewissert, dass es seinem Freund den Umständen entsprechend gut ging und er nun also auch seinen Grill dieses Jahr endgültig im Keller verstauen konnte. Nach einer knappen Stunde und dem guten Gefühl, seinen Freund in bester Betreuung zu wissen, verabschiedete er sich und verließ das Krankenzimmer. Sichtlich erleichtert und ein bisschen in Gedanken verloren schlenderte er den Flur entlang und versuchte, seinen Tagesplan anzupassen. Er blickte nach vorne und sah aus einem Zimmer eine Frau kommen, die in der einen Hand eine kleine Sporttasche trug und die der Hauptkommissar anhand der Figur, der Haare und des Gangs zu kennen glaubte. Da war er sich ziemlich sicher. Die Frau lief etwa zehn Meter vor ihm, aber ihr Schritt schien immer schneller zu werden – anscheinend hatte sie es eilig. Pytlik war sich jetzt hundertprozentig sicher.

»Hey, Tanja! Tanja, warte doch mal!«

Pytlik konnte nicht sehen, ob sie nicht vielleicht kleine Kopfhörer in den Ohren hatte und somit nicht reagieren konnte. Sein Rufen war eigentlich laut genug gewesen und er hätte weiß Gott etwas darauf gewettet, dass die Person die Politesse war, die er gestern aus der misslichen Situation mit dem hessischen Angeber befreit hatte. Jetzt, wo er noch einmal die Gelegenheit hatte, wollte er ihr – sozusagen als kleine Aufmunterung – doch gleich noch einmal sagen, dass sie nichts falsch gemacht hatte. Sicherlich hätte ihr das gut getan, dachte er. Sie bog vorne rechts um die Ecke Richtung Ausgang. Pytlik war es wichtig, deshalb erhöhte er auch sein Tempo. Auch er bog nach wenigen Sekunden rechts ab.

Das kann doch nicht wahr sein, dachte er. Wo war sie geblieben? Die Ausgangstür war noch in einiger Entfernung, aber von der blonden Politesse war nichts mehr zu sehen. Pytlik blieb stehen und stutzte. Komisch, überlegte er und schüttelte den Kopf so, als hätte ihn absichtlich jemand reingelegt. Er würde dann einfach mit ihr sprechen, wenn er sie das nächste Mal treffen würde.

***

Pytlik konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt einen derart entspannten Tag verbracht hatte. Nach dem Krankenbesuch bei Heiner Baumann war er gleich losgefahren, um einige Dinge zu besorgen, die er für den Garten brauchte. Er hatte sich ganz bewusst nichts Anderes vorgenommen und als er am späten Nachmittag auf seiner Terrasse das erste Bier aufmachte, ließ er sich die herbstlichen Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen und war zufrieden. Vielleicht sollte er wieder einmal ein Buch lesen, dachte er, als er überlegte, wie er den Abend verbringen würde. Nein, natürlich nicht diesen Regionalkrimi. Am Ende würde er ihm noch gefallen und dann… – nein, das war auf keinen Fall eine Option!

Gartenarbeit war nicht Pytliks tägliches Brot. Da er auch nicht mehr der Jüngste war, hatten die Schneide-, Pflanz- und Säuberungsarbeiten doch körperliche Spuren beim Hauptkommissar hinterlassen. Das eine oder andere Bier nach dem ersten hatte außerdem dazu beigetragen, dass sich bereits während der Tagesschau die Müdigkeit an ihm zu schaffen machte. Als die Fernbedienung aus seiner Hand auf den Fußboden im Wohnzimmer fiel, war Pytlik blitzartig wieder wach und konnte gerade noch die letzten Wetterprognosen für die nächsten Tage aufnehmen. Na gut, dachte er, irgendwo wird schon ein Krimi laufen. Es dauerte dann allerdings nicht lange, bis das Telefon klingelte.

Pytlik war niemand, der generell und schon gar nicht am Wochenende von vielen Leuten angerufen wurde. Er hätte es durchaus unterschrieben, wenn man ihn in die Kategorie »einsamer Wolf« gesteckt hätte. Er überlegte kurz. Vielleicht Heiner, der alleine im Krankenhaus lag und ein bisschen Abwechslung brauchte? Sein Bruder Georg, der sich erkundigen wollte, warum Pytlik nicht nach München gekommen war, um mit ihm und seiner Frau zum Wandern zu gehen? Pytlik stand auf und lief zum Telefon. Er nahm das Mobilteil ab und schaute auf das Display. Bitte nicht, murmelte er, bevor er die Taste mit dem grünen Hörer drückte. Zehn Minuten später zog er die Haustür hinter sich zu und stieg bei seinem Assistenten Cajo Hermann ins Auto.

***

Immer, wenn etwas geschehen war und Hermann seinen Chef daheim abholte, um mit ihm an den Tatort zu fahren, war die Situation fast die gleiche. Pytlik war entweder müde, krank oder hatte ein paar Bier getrunken – auf jeden Fall war er nicht darauf vorbereitet, irgendwelche Ermittlungen zu starten und hoch konzentriert an die Arbeit zu gehen. Hermann hingegen hatte meistens bereits Informationen und konnte dem Hauptkommissar schon einige Dinge sagen, die er in Erfahrung gebracht hatte. Immer war er dabei sachlich und nüchtern, Emotionen spielten bei ihm kaum eine Rolle. Diesmal war es anders, zumindest was Hermann anging.

»Ist das wirklich dein Ernst, Cajo?«, fragte Pytlik nach.

Hermann wirkte sehr nervös. Er schien in Gedanken ganz woanders zu sein und machte den Eindruck, dass ihm irgendetwas große Sorge bereitete.

»Was heißt, ob das mein Ernst ist? Meinst du, ich mache Witze? Bernadette hat mich vor 20 Minuten angerufen; sie war völlig hysterisch und kaum zu beruhigen. Sie hat geweint, gewimmert, so als hätte sie etwas ganz Schreckliches erlebt. Im Hintergrund konnte ich hören, dass helle Aufregung herrschte und jeder telefonierte und viele – vor allem die Frauen – weinten und völlig aufgelöst schienen.«

Pytlik hörte zunächst nur zu. Er war noch viel zu sehr im Ruhemodus, als dass es jetzt schon bei ihm dämmern konnte. Er fragte weiter.

»Was machen die denn da oben? Es ist halb neun und dunkel. Nachtwanderung oder wie?«

Der Weg war nicht weit, Hermann fuhr bereits über die kleine Brücke, die an der Hammermühle über die Rodach führte. Dann ging es hinauf, steil hinauf. Nach etwa einem Kilometer endete die Teerstraße und Hermann bog links in einen Waldweg ein.

»Halt! Halt an!«

Pytlik war plötzlich hellwach. Kaum, dass der Untergrund ruppiger wurde und Hermann die Fahrgeschwindigkeit angepasst hatte, befahl Pytlik seinem Assistenten, den Wagen zu stoppen.

»Fahr zurück!«

»Wieso?«, wollte Hermann wissen, dem es nicht passte, dass er nicht weiterfahren sollte.

»Fahr zurück! Los, mach schon!«

Hermann legte den Rückwärtsgang ein und fuhr vorsichtig bis zu der Stelle, an der sie abgebogen waren.

»Noch ein bisschen zurück! Ja, gut so! Stopp!«

»Was ist?«

Etwas abseits des Lichtkegels des Abblendlichtes hatte Pytlik eine Entdeckung gemacht. Er schnallte sich ab und stieg aus dem Wagen aus. Vor einem verwilderten Holzgatter, hinter dem sich in ebenso verwildertem Zustand ein von Bäumen und anderen Pflanzen zugewachsenes, altes und vom Einsturz bedrohtes Haus befand, stand tatsächlich der rote Sportwagen, der Pytlik am Tag zuvor Ärger bereitet hatte. Der Hauptkommissar leuchtete mit einer Taschenlampe und ging einmal grob prüfend um das Auto herum. Auf den ersten Blick konnte er nichts feststellen, was ungewöhnlich gewesen wäre. Dann dachte er kurz und intensiv nach und auf dem Weg zurück zu Hermanns Auto schien ihm einiges klar zu werden. Nachdem Hermann die Fahrt wieder fortgesetzt hatte, fragte Pytlik nach.

»Sag mal, deine Bernadette ist nicht zufällig mit ihrer ehemaligen Abiturklasse da oben unterwegs?«

»Doch, klar! Das hab ich dir doch gerade eben schon… – nein, das habe ich dir eben noch nicht erzählt! Ja, die haben sich dieses Jahr, also heute, mal wieder getroffen. Ich glaube, die wollten zunächst in der ›Grüedn‹ essen und danach noch in die Stadt weiterziehen.«

Hermann konzentrierte sich und machte eine kurze Pause. Er schien die richtige Stelle zu suchen, musste sich aber nicht lange abtun, da er bereits das Blaulicht des Streifenwagens in einiger Entfernung sehen konnte. Dann erzählte er weiter.

»Ja, und auf jeden Fall hatten sie wohl auch geplant, eine kleine Nachtwanderung hoch zum Lucas-Cranach-Turm zu machen. Keine Ahnung! Ich hab mich nicht weiter dafür interessiert. Wird schon seinen Grund haben.«

Pytlik hatte seine Stirn in Falten gelegt und die Augen leicht zugekniffen. Er überlegte und schüttelte fast unmerklich den Kopf.

»Aber wieso weißt du darüber eigentlich Bescheid?«, war Hermann von Pytliks Frage etwas überrascht.

»Ich weiß im Moment noch nicht so genau, was ich eigentlich weiß und warum ich gefragt habe«, erwiderte Pytlik. Dann wurde er konkreter.

»Da waren gestern zwei Typen im Backhaus. Ich konnte ihr Gespräch mit anhören; unter anderem ging es dann darum, dass der eine – und zwar der, dessen Auto da vorne steht – zu einem Abitreffen nach Kronach gekommen ist.«

»Ach so! Echt? So ein Zufall!«, stellte Hermann in Gedanken versunken fest. Er war besorgt.

»Hm!«, überlegte Pytlik, »das ist echt ein Zufall. Am besten bringen wir den gleich in die Dienststelle, falls er etwas aussagen möchte, denn der ist einfach nur nervig. So ein richtiges Arschloch!«

Von einem Kollegen der Schutzpolizei wurden Pytlik und Hermann bereits erwartet. Er ging voraus und brachte die beiden Ermittler das letzte Stück hoch bis dahin, wo am Fuße des Aussichtssturms viele sich bewegende Taschenlampen und die Silhouette einer größeren Gruppe von Menschen zu sehen war. Auf dem mit Wurzeln durchzogenen Boden war es schwierig zu laufen. An den meisten Stellen war der Weg bis dahin von dichtem Gestrüpp bewachsen und Pytlik war sichtlich außer Atem, als sie sich der Gruppe näherten. Pytlik begrüßte zunächst zwei weitere Schutzpolizisten, die um den Turm herum bereits mit Absperrband eine Zone markiert hatten, die nicht betreten werden sollte. Während sich der Hauptkommissar die ersten Informationen geben ließ, war Hermann eine der Personen aus der Gruppe sichtbar durcheinander und weinend um den Hals gefallen. Es war seine Freundin Bernadette, die ihn auch angerufen und um Hilfe gebeten hatte.

»Es ist alles so schlimm, Cajo! Es ist alles so furchtbar! Ich will hier weg! Ich will nach Hause!«

Hermann hielt seine Freundin fest in den Armen und versuchte gleichzeitig, sie zu beruhigen. Er wusste genau, dass er in allererster Linie einen Job zu erledigen hatte und außerdem waren noch genügend andere Leute da, die sicherlich in gleicher Weise mit dem zu kämpfen hatten, was Bernadette auch gesehen hatte. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr.

»Hör zu, Schatz! Dir kann nichts passieren. Wir sind da und werden die Sache jetzt übernehmen. Wir müssen noch ein bisschen was organisieren und dann werden wir dafür sorgen, dass ihr alle sicher nach unten gebracht werdet. Glaub mir, alles wird gut werden!«

 

Hermanns Freundin beruhigte sich langsam. Die Erleichterung darüber, dass ihr Liebster jetzt da war, war ihr anzumerken. Hermann schaute in die Runde. Er schätzte, dass 20 bis 25 Leute zu Bernadettes Begleitung zählten. Die meisten Frauen weinten oder hielten sich die Hände vor das Gesicht und schüttelten den Kopf. Auch die Gesichtsfarbe der Männer hatte wohl weniger mit den etwas kühlen Temperaturen zu tun. Pytliks Assistent bat seine Freundin, sich zu den Anderen zu stellen.

»Geh bitte rüber und sag ihnen, dass wir uns gleich um euch kümmern werden. Wir werden eure Personalien aufnehmen müssen und euch dann auch sagen, wie es weitergehen wird.«

»Alles klar!«, flüsterte Bernadette. Hermann hob das Absperrband etwas hoch und bückte sich leicht, um darunter durchzugehen und sich zu Pytlik und den Schutzpolizisten zu gesellen. Er rieb sich einmal kräftig die Hände, weniger wegen der Temperaturen, sondern vielmehr als eine Art Zeichen, dass es nun losgehen konnte.

»Also gut, was haben wir hier?«, wollte er wissen.

»Da hinten! Kommt mit, ich zeige es euch!«, gab einer der Kollegen, die zuerst vor Ort waren, Auskunft und zeigte mit seiner Hand in Richtung des Bereichs, der auf der Rückseite des Eingangs des Lucas-Cranach-Turms lag. Pytlik und Hermann leuchteten mit ihren Taschenlampen auf den Boden und gingen vorsichtig Schritt für Schritt vorwärts, denn sie wollten auf keinen Fall mögliche Spuren zunichtemachen. In unmittelbarer Nähe des Mauerwerks konnten sie Blut feststellen. Außerdem meinte Pytlik, Anzeichen dafür zu sehen, dass etwas oder jemand über den Boden geschleift worden war.

»Uuh!«

»Leck mich am Arsch!«

Pytlik und Hermann hatten fast gleichzeitig das gesehen, was sie urplötzlich aufschrecken ließ, obwohl sie bereits wussten, dass sie einen leblosen Körper vorfinden würden. Es war auch nicht ihre erste Leiche und sie hatten auch schon diverse Arten von Gewalteinwirkung gesehen. Die vor ihnen am Boden liegende Variante hätten beide allerdings in die schlimmste Kategorie eingeordnet.

»Sieht ganz schön übel aus!«, stellte Hermann fest. Dann ging er in die Knie und ganz nahe an den leblosen Körper heran und begann vom Kopf ab langsam mit der Taschenlampe die einzelnen Verletzungen zu begutachten. Pytlik stand da und sagte nichts. Er richtete sein Licht regungslos und ohne es woanders hinzubewegen auf den Kopf des Opfers.

»Also, so auf den ersten Blick würde ich sagen, mindestens ein Dutzend Einstiche im Oberkörperbereich. Dass man das Gesicht für eine Identifizierung noch einigermaßen rekonstruieren kann, bezweifle ich stark. Das sieht ja so aus, als wäre der von einem tonnenschweren Stein getroffen worden.«

Hermann redete weiter; so als wäre er ein Rechtsmediziner bei der Obduktion und würde seine Beobachtungen auf das Diktiergerät sprechen. Beide wussten, dass sie sich eigentlich nicht zu lange am unmittelbaren Fundort der Leiche aufhalten sollten, um nicht wieder in Konflikt mit der Spurensicherung zu geraten. Erst jetzt fiel Hermann auf, dass sein Chef schon seit einigen Minuten nichts gesagt hatte. Als er hochschaute zu ihm, sah er in Pytliks versteinertes Gesicht und der starre Blick des Hauptkommissars war unablässig nach unten gerichtet.

»Was ist los Franz? Du sagst ja gar nichts.«

Hermann fühlte vorsichtig, ob er womöglich eine Geldbörse oder sonstige Papiere oder Dokumente in der Kleidung des Toten spüren konnte.

»Gib dir keine Mühe, Cajo!«

»Was meinst du?«

Hermann war aufgestanden und hatte sich Pytlik einen Schritt genähert. Die beiden Männer standen dicht zusammen, dennoch wusste Pytlik, dass das, was er seinem Assistenten jetzt zu sagen hatte, möglichst niemand außer ihnen hören sollte.

»Das Arschloch, von dem ich dir gerade vorhin erzählt habe…«, flüsterte er und hielt seine Taschenlampe dabei so von unten nach oben, dass beide den jeweils Anderen sahen.

»Du meinst den, dessen Auto da unten steht? Der müsste auch vorne bei der Gruppe dabei sein, wenn ich das richtig verstanden habe. Was ist denn mit dem?«

Während Hermann nachfragte, ohne scheinbar auch nur zu ahnen, worauf Pytlik hinaus wollte, wurde der Blick des Hauptkommissars immer intensiver und plötzlich schien es seinem Assistenten zu dämmern.

»Du meinst…? Das ist nicht dein Ernst!«

Hermann legte einen Arm um Pytliks Schulter und schob ihn ein Stück zur Seite, noch ein bisschen weiter weg von den Kollegen der Schutzpolizei und der Gruppe um Bernadette. Dann fragte er in leisem Ton weiter. Das Erstaunen war ihm ins Gesicht geschrieben.

»Aber wieso…? Ich meine, wie…?«

Pytlik erahnte Hermanns Frage.

»Die Klamotten! Das Hemd, der Pullover – das sind die Klamotten, die er gestern auch schon trug, als ich ihm im Backhaus das erste Mal begegnet bin. Die Haare – kein Zweifel: der Mann, der da liegt, heißt Benjamin Sattler. Er kommt aus Hanau und hat mit den Leuten, die da vorne stehen, irgendwann vor 15 oder mehr Jahren Abitur in Kronach gemacht.«

Pytlik redete klar und konzentriert. Für ihn gab es keinen Zweifel. Hermann jedoch schien überfordert mit der Situation. Er ging einen Schritt zurück, fasste sich mit der einen Hand an die Stirn und schüttelte den Kopf, während er sich mit dem anderen Arm bei Pytlik abstützte. Er versuchte, zu kombinieren, schien das Naheliegende aber nicht sofort zu erkennen. Die Absurdität, von der die beiden Ermittler ergriffen wurden, äußerte sich bei Pytliks Assistenten plötzlich in einem ungläubigen Lachen.

»Das ist nicht wahr, oder? Ha, ha!«

Hermann leuchtete mit seiner Taschenlampe auf den Kopf der Leiche. Das Lachen verging ihm.

»Ich muss zu Bernadette«, klang seine Stimme plötzlich klar und männlich.

Als er an Pytlik vorbei laufen wollte, packte der ihn am Arm und hielt ihn zurück.

»Warte, Cajo!«

Hermann blieb stehen, ohne etwas zu sagen. Pytlik hatte kühlen Kopf bewahrt.

»Jetzt nichts überstürzen! Wer immer hierfür verantwortlich ist, ist uns im Moment mindestens einen Schritt voraus«, analysierte Pytlik mit leiser Stimme. Dann bat er einen der Schutzpolizisten heran und gab ihm eine Anweisung. Danach ging er wieder zu Hermann.

»Benjamin Sattler«, erzählte Pytlik weiter, »war allem Anschein nach nicht der beliebteste Mitschüler im Abiturjahrgang deiner Bernadette. Ich habe gestern im Backhaus wie gesagt ein Gespräch zwischen ihm und einem anderen ehemaligen Mitschüler mitgehört, in dem unter anderem erwähnt wurde, dass Sattler für dieses Treffen nicht direkt eingeladen war.«

»Und warum soll er dann dennoch hier gewesen sein?«, wollte Hermann wissen.

»Eben genau deswegen! Um den Anderen auch nach so langer Zeit wieder einmal zu beweisen, dass er der Chef im Ring ist, so wie es anscheinend damals auch schon gewesen war. Ein Narziss, ein Egomane, einer, der sich über alle Anderen erhoben hat und nach dessen Pfeife anscheinend alle tanzen mussten.«

Hermann war nun zurück in der Spur. In seinem Gesicht konnte Pytlik ablesen, dass er jetzt auch des Hauptkommissars Gedankengang folgte.

»Langsam verstehe ich, worauf du hinaus willst, Franz. Entweder, da drüben stehen lauter Ahnungslose, die nur wissen, dass sie hier irgendeine Leiche gefunden haben oder…«

»…da drüben steht einer oder stehen mehrere, die genau wissen, wer hier liegt und warum und die so tun, als wüssten sie es nicht«, vollendete Pytlik Hermanns Satz.

Hermann nahm vorsichtig eine Hand vor den Mund und drückte somit sein Entsetzen aus. Nicht über die Tat an sich, sondern über die Vorstellung, dass seine Freundin möglicherweise gerade in einer Gruppe von Leuten stand, von denen eine oder mehrere vielleicht einen Mord begangen hatten. Einen bestialischen Mord!

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