Pinocchio

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Viertes Stück.

Bengele und Lispel-Heimchen

Seppel wurde unschuldig ins Gefängnis geführt, Bengele, der Schlingel, war frei.

Hättet ihr ihn sehen können, wie er davonlief! Er wollte keinen einzigen Menschen mehr sehen, sprang zur Stadt hinaus in die Felder, setzte über hohe Dornhecken und dichte Brombeerstücke, er machte Sprünge über Löcher und Wassergräben wie ein flinkes Reh und irrte ziellos umher wie ein gehetzter Hase.

Endlich kam er nach Hause. Die Türe stand noch offen. Er trat ein und schlug sie hinter sich zu. Dann setzte er sich mitten in der Stube auf den Boden, holte tief Atem und stieß die Luft wieder aus mit einem langen, zufriedenen: Aaah!

Leider dauerte seine Behaglichkeit nicht lange. Es gab ein Geräusch im Zimmer, ein Zirpsen: Kri-kri-kri! – Bengele schaute überall herum und fragte furchtsam:

»Was soll das heißen? – Wer ist denn hier?«

»Ich!« lispelte ein zartes Stimmchen. Bengele drehte sich um und sah eine schwarze Grille langsam die Wand hinaufklettern.

»Wer bist du?«

»Ich bin das Lispel-Heimchen und wohne seit hundert Jahren in diesem Zimmer.«

»Das aber von heute an mir gehört«, ergänzte Bengele grob diese Worte. – »Bitte, mache dich aus dem Staube und laß es dir nicht zweimal sagen.«

»Wenn es sein muß, kann ich gehen. – Darf ich dir vor dem Abschied noch eine gute Lehre geben?«

»Meinetwegen! – aber kurz!«

»Schlecht geht es allen Kindern, die nicht auf ihre Eltern hören und eigenmächtig aus dem Hause laufen. Sie rennen ins Unglück und müssen einmal ihren Ungehorsam bereuen.«

»Predige nur, du Grillenkopf, und quiekse, solange es dir beliebt. Trotzdem gehe ich morgen früh schon wieder fort. Dann kannst du hier wieder einziehen. Mir gefällt es nicht. Wenn ich bleibe, so schickt man mich morgen zur Schule, und – gern oder ungern – müßte ich etwas lernen. Aber, offen gestanden, dazu habe ich gerade am wenigsten Lust. Schmetterlinge jagen und Vogelnester ausheben ist viel schöner!«

»O du Gescheitele! Weißt du, wieweit man es damit bringt? – Du wirst bald ein großer Esel sein und alle lachen dich aus!«

»Hältst du gleich den Schnabel, du schwarze Unglücksgrille«, schimpfte Bengele.

Aber Lispel-Heimchen bewahrte sein kaltes Blut und seine ernste Ruhe; es nahm dem Schlingel die Unart nicht übel und fuhr in ernstem Tone fort:

»Wenn es dir nicht paßt, in die Schule zu gehen, so lerne ein Handwerk; dann kannst du dir doch das Brot verdienen!«

Dem Bengele ging jetzt die Geduld aus und er sagte spitz:

»Weißt du, Piepser, welches Handwerk mir am besten gefällt?«

»Nein!«

»Also paß auf! – Gut essen und trinken, schlafen und spielen und den lieben langen Tag auf der Straße herumstreichen, das ist das schönste Handwerk!«

»Mag sein, aber merke dir wohl: alle, die es treiben, endigen einmal im Krankenhaus oder im Zuchthaus.« So sagte mit kalter Seelenruhe Lispel-Heimchen.

»Nimm dich in acht, Grillenköter, mit deiner bösen Zunge! Wenn mir die Galle steigt! ... Nimm dich zusammen! ...«

»Armer Bengele, du tust mir wirklich leid!«

»Warum soll ich dir leid tun?«

»Du bist halt ein Hampelmann und hast einen Holzkopf.«

Jetzt schnellte Bengele wütend vom Boden auf, riß einen Holzhammer von der Schnitzelbank und schleuderte ihn gegen das Lispel-Heimchen.

Vielleicht wollte er daneben zielen; aber der Hammer flog dem Tierchen gerade auf den Kopf. – Lispel-Heimchen zirpte eben noch: kri-kri-kri, dann ging ihm der letzte Atem aus, und es blieb wie eine getatschte Fliege an der Wand hängen.

Fünftes Stück.

Ein Eierkuchen, der davonfliegt.

Indessen war es Abend geworden, und Bengele erinnerte sich, daß er noch nichts gegessen hatte. Er spürte eine Leere im Magen und fühlte starken Appetit. Im Handumdrehen war der Appetit schon Hunger und verlangte gestillt zu werden.

Auf dem eisernen Ofen in der Ecke stand ein Topf. Das Hampelchen hob den Deckel ab und schaute hinein. – Nichts als Wasser. Bengele sah sein dummes Gesicht darin abgespiegelt und setzte kopfschüttelnd den Deckel wieder auf den Topf.

Das hungrige Hampelchen rannte im Zimmer auf und ab, zog alle Schubladen aus, öffnete alle Kästchen. – O daß er doch ein Stückchen Brot finden könnte, wenn es auch ganz trocken wäre! Sogar mit einer alten, harten Kruste hätte er sich begnügt, aber gar nichts war da auf Vorrat bei seinem armen Vater Seppel.

Indes wurde der Hunger immer stärker und Bengele fing an zu gähnen. Er riß den Mund entsetzlich auf und glaubte, sein Magen gehe ihm davon. Mutlos und verzweifelt fing er an zu weinen und sprach:

»Ja, ja! Lispel-Heimchen hat doch recht gehabt und hat es so gut mit mir gemeint. – Aber ich war eigensinnig und unartig; ich habe dem Vater nicht gehorcht und bin ihm davongelaufen. – Wenn doch nur der Vater da wäre! – Durch meine Schuld ist er ins Gefängnis gekommen, und ich muß daheim vor Hunger sterben. – Der Hunger tut so weh; er ist eine schreckliche Krankheit.« –

Hurra! – Dort liegt etwas auf dem Kehrichthaufen. Bengele springt hin, hebt es auf und ruft:

»Ein Ei! Ein Ei!« – Der halbverhungerte Hampelmann kann sein Glück kaum fassen. Er hält das Ei in beiden Händen, drückt es an die Wangen, küßt und streichelt es.

»Jetzt mache ich mir einen Eierkuchen«, sagt er überglücklich, »oder soll ich es einschlagen? – oder weichkochen? – Das Einschlagen geht am schnellsten; ich kann nicht mehr lange warten mit meinem Hunger.«

An der Wand hing eine Bratpfanne. Er holte sie herab und stellte sie auf die Kohlenglut, über der Vater Seppel den Leim kochte. Butter oder anderes Fett war nicht da. Bengele goß Wasser in die Pfanne und blies die Kohlenglut neu an. Das Wasser begann ein wenig zu dampfen, da nahm er das Ei, schlug es auf den scharfen Rand der Pfanne und ... –

»Pieps, pieps!« begrüßte ihn ein lustiges buntfarbiges Vögelchen; es kroch flink aus dem Ei, setzte sich auf den Pfannenstiel, schlug die Flügel und putzte sich. Dann machte es dem Bengele ein artiges Kompliment und sang mit heller Stimme:

Mein kleiner Freund, ich danke dir;

Du hast mich heut befreit.

Ich schwing' mich fort, weit fort von hier

Zur Waldeseinsamkeit.

Halbflügg' entflog dem Elternpaar

Ich aus dem Nest heraus

Und schlief verzaubert hundert Jahr'

In diesem weißen Haus.

Adieu! Leb wohl, mein Bengelein!

Ich laß den Vater grüßen. –

Des Eigensinnes Diener sein,

Muß jeder bitter büßen.

Mit großen Augen und offenem Munde, die Eierschalen in der Hand, hörte der Hampelmann des Vögleins Lied. Der kleine Sänger flog fort durchs offene Fenster; der Hampelmann aber weinte zum Erbarmen und sprach: »Lispel-Heimchen und das Vögelein haben ganz recht. – Ich muß vor Hunger sterben. – Wäre ich doch nicht davongelaufen. – Ja, ich muß es büßen, ich sterbe vor Hunger.«

Immer schlimmer knurrte der Magen. Es war schon spät abends. Bengele wagte das Äußerste, ging zum Hause hinaus und lief aufs Geratewohl fort.

»Ich werde doch irgend einen guten Menschen finden, der mir ein wenig zu essen gibt«, das war sein einziger Gedanke.

Sechstes Stück.

Bengele geht betteln. – Die abgebrannten Füße.

Schauerlich kam die Nacht. Krachend rollte der Donner und es blitzte in einem fort, daß der Himmel aussah wie ein Feuermeer. Dazu pfiff ein schneidigkalter Wind, jagte Staubwolken vor sich her und schüttelte die Bäume, daß sie laut ächzten.

Bengele hatte schrecklich Angst bei Gewittern. Aber heute war sein Hunger größer als die Angst. Er schlug einen Feldweg ein und kam nach kurzer Zeit in ein Dörfchen. Alles war still und dunkel, die Haustüren und die Fenster samt und sonders geschlossen, kein Hund auf der Straße, die reinste Friedhofsruhe.

In seinem verzweifelten Hunger zog Bengele eine Hausglocke und läutete kräftig und lange.

»Irgend ein Mensch muß doch zum Vorschein kommen«, dachte er.

Richtig! – Ein alter Mann öffnete das Fenster. Er hatte die Nachtmütze auf dem Kopfe und brummte sehr ärgerlich:

»Wer kommt noch um diese Zeit?«

»Gebt mir doch um Gottes willen ein Stückchen Brot, ich muß sonst verhungern«, gab Bengele zur Antwort.

»Warte ein wenig, ich bringe es gleich.«

Der Mann aber dachte: »Das ist mal wieder einer von den nichtsnutzigen Schlingeln, die nachts die Hausglocken ziehen, weil sie ordentliche Leute im Schlafe stören wollen.«

Nach wenigen Augenblicken kam der Alte wieder ans Fenster und rief:

»Komm, halte deinen Hut hierher!«

Bengele hatte noch keinen Hut. Er trat also unter das Fenster und hielt beide Hände in die Höhe, um das herabfallende Stück Brot wie einen Ball aufzufangen. – Da ergoß sich über ihn der volle Inhalt eines Waschbeckens. Er wurde naß von oben bis unten und triefte wie ein Blumenstock, den man mit der Kanne abgespritzt hat.

Traurig wie ein verregneter Pudel trottelte der unglückliche Hampelmann nach Hause. Erschöpft von Hunger und Müdigkeit kam er heim; die Glieder schlotterten ihm vor Kälte.

Noch waren ein paar glimmende Kohlen in dem Becken, über dem Vater Seppel den Leim kochte. Bengele blies sie ein wenig an und wärmte sich die Hände. Dann holte er den wackeligen Stuhl und setzte sich vor die Glut. Seine feuchtkalten Füße legte er auf den Rand des Beckens, und so schlief er ein.

 

Nach und nach fingen die Holzfüße Feuer über der Kohlenglut und verbrannten zu Asche. – Bengele schnarchte und merkte nichts. Erst bei Tagesanbruch wachte er auf; denn es hatte laut an der Türe geklopft.

»Wer ist draußen?« fragte Bengele noch ganz verschlafen, gähnte und rieb sich die Augen aus.

»Ich!« kam die Antwort. Es war der Vater Seppel.

Bengele sprang schnell auf, um den Riegel an der Türe zurückzuschieben; aber schon nach zwei, drei Stelzschritten fiel er auf den Boden.

Das gab einen Lärm, als wäre ein Sack voll Kochlöffel vom fünften Stock aufs Pflaster gefallen.

»Mach mal auf«, rief Seppel immerfort auf der Straße.

»Vater, lieber Vater, ich kann ja nicht«, heulte Bengele und rutschte auf dem Boden herum.

»Warum kannst du nicht?«

»Meine Füße sind abgefressen!«

»Wer hat sie abgefressen?«

»Die Katze«, sagte Bengele. – Denn er sah gerade die Katze vor sich, die mit ein paar Hobelspänen spielte.

»Ich sag dir's zum letztenmal, mach auf, sonst geb' ich dir nachher die Katze!«

»O jeh! Ich kann nicht mehr stehen, glaub mir's doch! – Jetzt muß ich mein Leben lang auf den Knieen rutschen.«

Seppel dachte, hinter all dem Gerede stecke nur eine neue Spitzbuberei des Hampelmanns, und wollte ihr gleich ein Ende machen. Er hielt sich am Fenstergesimse fest, zog sich an der Mauer empor und stieg wie ein Feuerwehrmann ins Zimmer hinein.

Siebtes Stück.

Bengeles Morgenbrot.

Die ganze Nacht hatte man den Vater Seppel im Gefängnis festgehalten. Am frühen Morgen wurde er vor den Richter geführt. Alsbald erkannte dieser, daß der alte Mann unschuldig sei, und ließ ihn frei. Frohen Mutes kam der Schnefler nach Hause. Er hatte dem kleinen Taugenichts alles verziehen; aber jetzt erlebte er eine neue Schlingelei, und dafür wollte er den Hampelmann kräftig bestrafen.

So dachte der Schnefler, als er zum Fenster hinein in seine Wohnung stieg; aber was mußte er hier erblicken! – Mit abgebrannten Füßen kauerte der arme Hampelmann auf dem Boden und weinte und schluchzte. Dieser Jammer ging dem Vater zu Herzen. Er hob den kleinen Holzmann auf, herzte und küßte ihn.

»Bengele, mein lieber Bengele«, sagte er dabei voll Mitleid, »wie hast du dir nur die Füße so verbrennen können! Du armer, kleiner Hampelmann!«

Da erzählte ihm das hölzerne Söhnchen seine Erlebnisse:

»Ich weiß es selber nicht, lieber Vater; aber glaub mir nur, es war eine schauerliche Nacht, und ich werde sie meiner Lebtag nicht vergessen. – Gedonnert hat es und geblitzt, und ich habe so arg Angst gehabt. Dann sagte Lispel-Heimchen: ›Es geschieht dir recht, du bist ein böser Bube und verdienst es!‹ Ich hab' ihm gesagt: ›Paß auf!‹... Und es sagte: ›Du bist ein Hampelmann und hast einen Holzkopf!‹ Und ich hab' ihm den Hammer nachgeworfen; und es starb. Aber es war selber schuld; ich habe es nicht umbringen wollen. Ich hab' auch ein Pfännchen auf das Kohlenbecken gestellt; aber das Hinkelchen ist davongeflogen und hat gesagt: ›Adieu! Ich laß den Vater grüßen; man muß es bitter büßen.‹ – Ich habe immer noch mehr Hunger bekommen, und dann hat der Alte mit der Nachtmütze zum Fenster herausgeguckt und gesagt: ›Komm, halte deinen Hut hierher!‹ Und ich bekam eine ganze Schüssel voll Wasser auf den Kopf. Es ist doch keine Schande gewesen, daß ich ein Stücklein Brot gebettelt habe, gelt nicht? – Ich ging gleich heim und hatte immer noch so arg Hunger. Und ich habe so nasse, kalte Füße gehabt. An den Kohlen wollte ich sie wärmen. Dann bist du heimgekommen, und meine Füße waren abgebrannt. Jetzt habe ich immer noch Hunger und keine Füße mehr, ojeh ... eh ... eh ...!«

Dem guten Vater Seppel rannen die Tränen über die Wangen, als er die traurige Geschichte seines Zauberhampels hörte.

Er hatte allerdings von der ganzen Erzählung nur so viel verstanden, daß der Kleine fast Hungers sterbe. Deshalb zog er drei Birnen aus der Tasche, gab sie ihm und sprach:

»Iß und werde wieder froh! – Ich habe mir das Obst zum Frühstück gekauft; aber du armes Hampelchen bist hungriger wie ich.« –

»Sei so gut und schäle mir die Birnen!« »Schälen?« – Verwundert schüttelte Vater Seppel den Kopf. – »Bist du so verwöhnt und heikel? Das taugt nichts, Bengele. Ein Feinschmecker darfst du mir nicht werden. Wer weiß, wie es dir noch gehen kann im Leben!«

»Du hast schon recht, Vater; aber ich esse nie Obst mit Schalen, sonst bekomme ich Leibweh.«

Seppel zog sein Taschenmesser heraus und schälte dem Kleinen die drei Birnen. Die Schalen legte er hübsch zusammen auf den Tisch.

Bengele hatte von der ersten Birne nur noch den Butzen in der Hand und wollte ihn wegwerfen. Seppel hielt ihm den Arm und sagte:

»Langsam, mein Lieber; das legen wir zu den Schalen.«

»Aber den Butzen esse ich niemals«, sagte das Hampelchen und tat dabei sehr entrüstet.

»Wer weiß? – Versprich nicht zu viel!« mahnte der kluge Vater.

Die Butzen kamen zu den Schalen auf den Tisch. Bengele hatte mit Heißhunger die drei Birnen verzehrt, machte ein verdrießliches Gesicht, gähnte weit und sprach:

»Ich habe noch mehr Hunger.«

»Aber, liebes Kind, es ist nichts mehr da.«

»Gar nichts mehr?«

»Nur noch diese Schalen und Butzen.«

»Dann will ich einmal eine Schale versuchen.«

Er aß sie, verzog anfangs ein wenig den Mund; aber dann ging's auch an die andern, und schließlich schmeckten ihm sogar die Butzen mit den Kernen. Als der Tisch ganz leer war, streckte sich der Hampelmann, fuhr mit der Hand über sein Bäuchlein und meinte:

»So! – jetzt bin ich wieder hergestellt.«

»Na!« bemerkte Vater Seppel, »hatte ich nicht recht? Mit dem ›Niemals‹ muß man vorsichtig sein. Man weiß nie, wie es kommt in der Welt. – Bengele, du wirst noch manches erleben.«

Achtes Stück.

Bengele erhält neue Füße. – Das ABC-Buch.

Nach dem Frühstück wäre der Hampelmann am liebsten ein wenig herumgesprungen. – Es ging nicht, weil er keine Füße hatte. Traurig und unzufrieden saß er eine Zeitlang auf dem Stuhle und fing dann an bitterlich zu weinen.

Den ganzen Vormittag kümmerte sich Vater Seppel gar nicht um das Gejammer; denn Bengele sollte für seinen Ungehorsam auch die Strafe spüren.

Schließlich sagte der Meister:

»Wozu soll ich dir neue Füße machen! Allenfalls rennst du mir wieder davon.«

»Nein, nein«, schluchzte Bengele, »von heute an werde ich ganz brav sein; ich verspreche es ...«

»Ja, ja«, antwortete Vater Seppel, »so sagen die Kinder alle.«

»Sicher, im Ernste! ich verspreche es dir, Vater; ich gehe in die Schule und mache dir Freude.«

»Immer die gleiche Geschichte, wenn die bösen Buben etwas haben wollen.«

»Aber ich bin keiner von denen, ich bin bräver als alle und lüge nie. Ich verspreche es dir noch einmal: Ich will etwas Rechtes werden, dir Freude machen und dir helfen, wenn du einmal alt bist.«

Vater Seppel machte immer noch ein saueres Gesicht. In den Augen aber standen ihm die Tränen und sein Herz war voll Mitleid mit dem verkrüppelten Hampelmann.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, nahm er sein Werkzeug, wählte zwei Stücke Holz und begann zu schnitzen. Nach einer Stunde waren die beiden Füße fertig. Kein Künstler hätte sie trefflicher formen können.

»Mache die Augen zu und schlafe ein wenig!« befahl der Vater Seppel.

Bengele stellte sich schlafend. Indes leimte der Meister so zierlich die neuen Füße an die Beine, daß man den Unterschied kaum bemerken konnte.

Als der Hampelmann wieder Füße hatte, war er grenzenlos glücklich. Er hüpfte im Zimmer herum, schlug ein Dutzend Purzelbäume, klatschte mit seinen Holzhänden und sprach:

»Vater, wie bist du so gut gegen mich! – Jetzt will ich auch gleich zur Schule gehen.«

»Recht so, mein Sohn!«

»Aber ich sollte ein Kleid haben.«

Vater Seppel war schrecklich arm. Den letzten Pfennig hatte er ausgegeben; aber er wußte sich zu helfen. Das Hampelchen erhielt ein Gewand von geblümtem Papier, Schuhe von Baumrinde und eine Kappe von weichem Brot.

Bengele goß Wasser in eine Schüssel und spiegelte sich darin. Er schaute an sich herunter, neigte sich nach links und rechts und meinte:

»Wie ein feiner Herr sehe ich jetzt aus!«

»Sei nicht eitel!« mahnte der Vater. »Wir sind arme Leute und können keine teuern Stoffe kaufen. Auch ein einfaches Kleid ist schön, wenn es rein ist. Das merke dir wohl und achte auf dein Gewand!«

Bengele hörte nie gern gute Lehren an. Er lenkte das Gespräch auf etwas anderes und sagte:

»Wenn ich zur Schule gehen soll, fehlt mir immer noch die Hauptsache.« –

»Nämlich?« –

»Das ABC-Buch!«

»Wahrhaftig! – Aber wie eines bekommen?«

»Man kauft es beim Buchhändler.«

»Wer bezahlt es?«

»Ich habe kein Geld!«

»Ich auch nicht«, sagte traurig der alte Vater.

Bengele war sonst immer lustig und froh; aber jetzt ward er ernst und unglücklich. – Auch ein Kind begreift und fühlt es, wie bitter die wahre Armut ist.

»Bleibe ein paar Minuten allein!« unterbrach Vater Seppel das düstere Schweigen. Er zog seinen groben Kittel an und ging zum Hause hinaus.

Bald kehrte der alte Mann zurück und brachte ein ABC-Buch für seinen Kleinen mit. Den Kittel hatte er nicht mehr an. – Der Arme ging hemdärmelig, und schon fing es an zu schneien. Als er ins Zimmer trat, fragte Bengele:

»Dein Kittel, Vater?«

»Ich habe ihn verkauft.«

»Warum hast du ihn nicht behalten?«

»Er machte mir zu warm. – Hier hast du dein ABC-Buch.«

Der hölzerne Hampelmann fühlte in diesem Augenblick die große, unergründliche Liebe, die aus dem Vaterherzen sprach.

»Vater, lieber Vater!« konnte er nur sagen, hing sich dem guten Alten an den Hals, küßte ihn und schmiegte sich zärtlich an seine Wangen.

Neuntes Stück.

Bengele verkauft das ABC-Buch und geht ins Kasperletheater.

Am andern Morgen nahm Bengele das ABC-Buch unter den Arm und machte sich auf den Weg zur Schule. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf, er baute prächtige Luftschlösser und redete vor sich hin:

»Jetzt gehe ich in die Schule und bis heute abend kann ich schon lesen; morgen lerne ich schreiben, übermorgen rechnen! Geschickt wie ich bin, verdiene ich bald viel Geld, und zu allererst kaufe ich meinem Vater einen schönen Kittel. – Von feinem Tuch muß er sein! – Was, Tuch? – Nein, von Gold und Silber und die Knöpfe Edelsteine! Der arme Mann verdient's! Hemdärmelig muß er einhergehen, damit ich mit meinem Buch zur Schule gehen kann. – Und diese Kälte! Wie gut ist mein Vater, wie sehr liebt er mich! Nie will ich es vergessen und fleißig lernen.«

Das Hampelchen war so in seinen guten Gedanken versunken, daß es eine Weile stehen blieb.

Da klingt aus der Ferne fröhliche Musik an sein Ohr. Deutlich waren die hellen Flöten zu unterscheiden: di-dideldi, di-dideldi – und der große Brummbaß: bum-bumbum, bum-bumbum.

Die Töne kamen vom andern Ende einer langen Straße, die hinaus ans Meer führte. Dort lag vor der Stadt ein großer, freier Platz.

»Was für Musik das ist? – Schade, daß ich heute zur Schule muß, sonst ...«

Schon schwankten die guten Vorsätze. – Bengele stand am Scheidewege: zur Schule oder zur Musik.

»Heute höre ich die Musik an – morgen gehe ich zur Schule. Für die Schule ist immer noch Zeit, sie läuft nicht davon.«

So entschied sich der Schlingel. – Alle guten Vorsätze waren vergessen; er schlug die Seitenstraße ein und lief zur Stadt hinaus. Immer deutlicher ward die Musik, immer mehr Menschen gingen denselben Weg. – Bengele kam auf den großen Platz und sah die Musikanten am Eingang einer buntbemalten Meßbude. Eine Menge Leute stand davor, und Bengele fragte einen Knaben:

»Was kann man hier sehen?«

»Lies den Zettel dort, so weißt du es.«

»Ich tät' es gern, aber leider kann ich gerade heute noch nicht lesen.«

»Du bist ein netter Esel! – Ich will es dir lesen. Höre:

›Gros-ses Kas-per-le-the-a-ter!‹ So steht dort mit feuerroten Buchstaben.«

 

»Hat das Stück schon lange angefangen?«

»Eben geht es an.«

»Was kostet's Eintritt?«

»Zwanzig Pfennig.«

Bengele brannte vor Neugier und schämte sich nicht, den Buben zu fragen:

»Willst du mir nicht bis morgen zwanzig Pfennig leihen?«

»Ich täte es gern«, spottete ihn dieser aus, »aber heute kann ich es gerade nicht.«

»Für zwanzig Pfennig gebe ich dir meinen Kittel«, sagte der Hampelmann.

»Was tue ich mit einem beblümten Papierkittel? Wenn es regnet, pappt er mir auf den Rücken!«

»Kauf mir meine Schuhe ab!«

»Mit denen könnte man allenfalls Feuer anmachen!«

»Was gibst du mir für meine Kappe?«

»Eine Kappe von weichem Brot! – Die Mäuse kommen und fressen sie mir vom Kopfe weg.«

Bengele trippelte von einem Fuß auf den andern. Der Mut ging ihm aus; er zögerte, er kämpfte mit sich selber, endlich sagte er:

»Gib mir zwanzig Pfennig für dies ABC-Buch!«

»Ich kaufe nichts von andern Kindern«, sagte der kluge Knabe.

»Komm her! – Für zwanzig Pfennig nehme ich das ABC-Buch«, rief ein Lumpenmann, der eben mit seinem Karren dazukam.

Sofort wurde der Handel abgeschlossen. –

Bengele, Bengele, hast du alles vergessen? Der arme Vater Seppel hat dir gestern das ABC-Buch gekauft, er hat dafür seinen einzigen Kittel drangegeben und geht jetzt hemdärmelig bei dem Schnee und der harten Kälte!

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