Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1

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Aus der Reihe: Dreizehn -13- #1
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Im Verwunschenen Tal

Regenrauschen und das Murmeln der Schrumpfköpfe füllten die Stille. Das Licht zahlreicher Kerzen warf tanzende Schatten an die Wände, aus denen Regalbretter wie Baumpilze ragten. Die Temperatur war mit Einbruch der Nacht gesunken, doch im Inneren der Hütte des Marionettenmannes war es behaglich warm.

Während William auf die Marionette einschlug, beobachtete der Marionettenmann ihn durch seinen Kessel wie durch ein rundes Fenster in der Decke von Raum 21. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und seufzte erschöpft, während er mit der anderen das Spielkreuz hielt. Nachdem William verkündet hatte, dass er ihm nicht länger helfen würde, hatte der Marionettenmann eine schreckliche Stunde lang geglaubt, Emily aufgeben zu müssen. Doch dann war William mit Ed zurückgekehrt. Dass er ihn ins offene Messer hatte laufen lassen, war letzten Endes genauso gut, als wenn er durch seine Hand gestorben wäre. Vermutlich hatte William seinen Freund bloß deshalb zu seiner Marionette gebracht, damit sie tat, wozu er nicht imstande gewesen war. Wenn er nun schrie und heulte, dann nur, weil er versuchte, sich selbst etwas vorzumachen.

Schließlich ging der Student vor seinem toten Freund auf die Knie. Sein Klagen war zu einem Wimmern abgeflaut. Der Marionettenmann nutzte die Gelegenheit und ließ das Spielkreuz tanzen.

»Du kannst mich hassen, wenn du willst«, sagte die Marionette. »Aber lass den Tod deines Freundes nicht umsonst gewesen sein. Hilf mir, Emily wiederzubeleben.« William hob den Blick. Seine Augen waren rot umrandet. Es war nicht das erste Mal, dass der Marionettenmann diesen Ausdruck in dem Blick von jemandem sah: Flammen des Hasses loderten darin, genährt von großem Schmerz.

»Das werde ich«, sagte er. »Aber danach werde ich dich finden, M-Punkt, und den Tod meines Freundes rächen.« Der Marionettenmann musste an sich halten, um das spöttische Lachen, das ihm über die Lippen kam, nicht auf die Marionette zu übertragen. So tonlos es aus ihrem Mund geklungen hätte, es hätte William vermutlich blind vor Wut gemacht.

William, William. Du hast ja keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast.

»Ich werde den Toten beseitigen«, ließ er die Marionette schließlich sagen. Sie packte Ed am Handgelenk, hob ihn hoch und ließ ihn in der Truhe neben der zugemauerten Eingangstür verschwinden, nicht ohne zuvor ein wenig von seinem Blut Williams Kessel hinzuzufügen. Nur zur Sicherheit würde er die Aura der Truhe löschen. Das hätte er längst tun sollen. Dieser Schnüffler Lovelace und seine rechte Hand Harper suchten bereits nach Hinweisen auf den Verbleib des Mannes, den der Marionettenmann zu seiner jüngsten Puppe gemacht hatte. Für gewöhnlich ließ er den Zugriff nur so lange währen, dass seine Opfer allenfalls einen geistigen Schaden davontrugen. Für die Zusammenarbeit mit William jedoch hatte er seine Marionette nicht ständig wechseln wollen und dafür eine seiner wertvollsten Zutaten geopfert: die Essenz eines Windgeistes, jene Sorte von Naturgeistern, mit denen seit den Druiden des antiken Normar kaum jemand in Kontakt getreten war. Der ständige Zugriff hatte den Mann nicht nur den Verstand gekostet, sondern auch das Leben. Der Marionettenmann tat sein Bestes, um den Verwesungsprozess aufzuhalten, doch es erwies sich als genauso schwer, wie dem Alterungsprozess eines Lebenden Einhalt zu gebieten; zumal er nicht die gleichen Maßnahmen wie bei Emily treffen konnte. Eingefroren und sich die Kontrolle mit einem Folkloren teilend, hätte er die Marionette nicht lenken können.

»Was ist nun zu tun?«, fragte William, während der Marionettenmann seinen Kesselinhalt studierte wie ein Maler sein Gemälde, an dem er seit langer Zeit arbeitete. »Wo finde ich die Lotinsrose?«

»Gib mir einen Moment.« Der Marionettenmann hing das Spielkreuz über ein galgenähnliches Gestell, das er am Kesselrand angebracht hatte. Er trat vor seinen Zutatenschrank, öffnete ihn und holte eine unscheinbare Schachtel daraus hervor. Darin befanden sich Gegenstände, die der Wurmgott ihm überlassen hatte, um seine Aufgabe zu erledigen: Steine, in die besondere Enerphagen mithilfe der dunklen Runen gebannt worden waren. Sie ermöglichten einem, die Runenmatrix zu manipulieren. Der Wurmgott würde ihm die Haut abziehen, wenn er je wieder hier aufkreuzte. Allerdings glaubte der Marionettenmann, dass er es sich längst so sehr mit ihm verscherzt hatte, dass es schlimmer nicht würde kommen können. Er hatte einige Maßnahmen getroffen, um sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Alles, was er jetzt noch tun konnte, war, Emily ins Leben zurückzuholen, bevor er für seinen Ungehorsam bezahlte.

Der Marionettenmann nahm einen der Steine aus der Schachtel, außerdem mehrere Gläser mit aufbereiteten Zutaten aus dem Schrank und kehrte damit zum Kessel zurück. Nach nur kurzer Zeit hatte er die Runen in der Aura der Truhe wie Falten aus einem Hemd gebügelt. Wer die Welt durch irdische Augen sah, würde sie nun einfach übersehen. Sollte doch jemand auf sie aufmerksam werden, würde die Person sie bald wieder vergessen. Um ganz sicherzugehen, wollte der Marionettenmann sie zudem versiegeln.

»Hey, Harry«, rief er, ohne vom Kessel aufzublicken. »Warst du nicht mal Schlüsselmacher?«

»Der Beste«, erwiderte der Schrumpfkopf namens Harry stolz – ein besonders großes Exemplar mit Vollbart. »Ich brachte einst im Auftrag der Königin die Schlösser des Silverrust Palace auf den neuesten Standard.«

»Perfekt«, entgegnete der Marionettenmann, nahm den Kopf aus dem Regal und warf ihn in seinen Kessel, ehe Harry auch nur eine erschrockene Miene ziehen konnte. Nach nur wenigen Handgriffen war es vollbracht.

Nun galt es, den Spiegel zu fragen, wo die Lotinsrose gewachsen war. Mit klopfendem Herzen trat der Marionettenmann vor das runde Glas. Statt seines eigenen Spiegelbildes zeigte es eine Stadt, die wie ein steinerner Wald an einem Gebirgsstock wuchs. Mit unzähligen Türmen und Gärten glich sie keiner Stadt, die der Marionettenmann je gesehen hatte. Schiffe, aus deren Rümpfen Flügel ragten, schwebten über den Dächern. Das Bild im Spiegel bewegte sich, als zeigte es die Welt durch die Augen eines Vogels, der über der Stadt flog. Er hielt auf die Öffnung eines Tunnels im Gebirgsstock zu und folgte seinem Verlauf bis in eine kugelrunde Höhle. In ihrem Zentrum schwebte eine Sonne, die langsam pulsierte wie das Herz eines schlafenden Berges. An den Höhlenwänden wuchsen einzigartige Pflanzen, deren Namen nicht einmal der Marionettenmann kannte. Und dort, neben einem kaktusähnlichen Gewächs mit Fühlern statt Dornen, war eine Rose mit schwarzen Blütenblättern: die Lotinsrose.

»Was ist das für ein Ort?«, murmelte der Marionettenmann.

Einer der Schrumpfköpfe hoch oben im Regal lachte spöttisch. »Das ist Iduns Herz«, sagte Carl. »Es befindet sich in Vision: einer Stadt an einem Ort so fern und unerreichbar wie dieses Tal.«

»Was redest du?«, fragte der Marionettenmann gereizt. Carl besaß wie alle Schrumpfköpfe keine Augen. Doch war er das einzige Exemplar, das nicht der Marionettenmann erschaffen hatte, sondern der Wurmgott. Vielleicht hatte er ihm das ein oder andere innere Auge geöffnet.

»Es ist vorbei«, erwiderte Carl. Seine Genugtuung war unüberhörbar. »Das ist deine letzte Chance, dich deiner eigentlichen Aufgabe zu widmen, Marionettenmann. Töte die Wächter!«

Der Marionettenmann schluckte seine Verzweiflung herunter. Er ballte die Hände zu Fäusten und schob trotzig das Kinn vor. Trat vor den Kessel und nahm das Spielkreuz zur Hand.

»Du musst nach Vision gehen«, ließ er die Marionette sagen. Er würde nichts unversucht lassen. »Du findest die Rose in einer Höhle, die Iduns Herz genannt wird.«

»Vision? Wo ist das?«, fragte William. Der Marionettenmann sah zu Carl.

»Selbst wenn ich es dir beantworten könnte, ich würde es dir nicht sagen«, meinte der Schrumpfkopf und schniefte.

»Du …« Der Marionettenmann erstarrte. Angst lähmte seine Glieder. »W…w…war das da gerade ein Wurm in deiner Nase?«

»Da war nichts«, antwortete Carl unschuldig im fast selben Moment, als der Wurm erneut aus seiner schrumpeligen Nase rutschte. Er wand sich eine Sekunde lang, wie um jeden im Raum zu warnen, ehe der Schrumpfkopf ihn mit einem Schniefen wieder einholte.

Der Marionettenmann fing an zu zittern. »Er kommt«, murmelte er, woraufhin alle Schrumpfköpfe in betretenes Schweigen verfielen. »Der Wurmgott ist im Verwunschenen Tal!« Einige wenige Sekunden verstrichen ungenutzt, während die Angst das Denken des Marionettenmannes betäubte.

»Mein Junge«, sagte der Schrumpfkopf namens Porl, der zu Lebzeiten der Mentor des Marionettenmannes gewesen war. »Du hast dich auf diesen Moment vorbereitet.«

»Ja«, sagte der Marionettenmann und schluckte schwer. Als der Wurmgott zu ihm gekommen war und ihn ins Verwunschene Tal gebracht hatte, war ihm nicht in den Sinn gekommen, sich ihm zu verweigern. Es war die bloße Ausstrahlung dieses Mannes, die den Marionettenmann hatte hörig werden lassen. Aber er war nicht mehr derselbe von damals. Er war gewachsen, und sein Kessel mit ihm. Er hatte einzigartige Tränke darin gebraut und dabei seltene Zutaten verwendet. Das Kunstwerk, das dabei entstanden war, wartete nur auf die Gelegenheit, seine volle Macht zu entfalten und einen Sturm zu entfesseln.

Der Marionettenmann ballte die Hände zu Fäusten, trat vor den Spiegel und sagte: »Zeig ihn mir!« Das Bild der Höhle mit der Miniatursonne wurde durch die Silhouetten zweier Männer mit schwarzen Regenschirmen ersetzt, die soeben eine Blumenwiese überquerten. Der bloße Anblick des Wurmgottes schnürte dem Marionettenmann die Kehle zu. Was die Regenschleier nicht erkennen ließen, ergänzte seine Erinnerung: tiefliegende, von Schatten umrandete Augen, eingefallene Wangen und dünne Lippen. Das kurze, dunkle Haar hatte er zu einer eleganten Frisur geformt. Er war hager und hochgewachsen und trug einen auf schlichte Weise edlen Anzug aus dunklem Stoff. Durch den Spiegel betrachtet hätte er harmlos gewirkt, wäre da nicht diese Kälte in seinem Blick gewesen. Es waren die Augen eines Mannes, der entschlossen war, zu siegen; dunkle Augen voller Weisheit und erkaltetem Hass. Sein Blick verriet, dass er niemandes Freundes war. Niemanden liebte. Er hatte keinen Dank für jene übrig, die sich ihm Untertan machten. Sie waren seine Werkzeuge und würden ebenso wenig als Sieger aus diesem Krieg hervorgehen wie seine Feinde.

 

Den Mann an der Seite des Wurmgottes – ebenfalls hochgewachsen, mit Schnurrbart und einer Brille mit kleinen, runden Gläsern – hatte der Marionettenmann noch nie gesehen.

Das Bild im Glas flackerte, woraufhin der Marionettenmann einige Sekunden lang reglos darum kämpfte, nicht die Ruhe zu verlieren. Der Spiegel war ein mächtiges, magisches Relikt. Nicht einmal mit einem Mojo konnte man sich vor ihm verbergen. Wenn er jedoch den Wurmgott zeigte, wurde das Bild instabil.

Langsam nahm im Kopf des Marionettenmannes wie von selbst ein Trank Gestalt an, der ihn mit kalter Ruhe füllte. Er ging zum Schrank, nahm verschiedene Zutaten heraus und trat damit vor den Kessel. Es waren nur wenige Handgriffe nötig, um ihn in den gewünschten Zustand zu überführen. Schließlich streute er eine Hand voll Sturmsand in die Flammen darunter, woraufhin sie sich weißbläulich färbten. Ein Grollen rollte über den Himmel wie der Laut eines primitiven, kolossalen Dieners, der darauf wartete, einen Befehl zu empfangen. Dampf, so dunkel wie die Regenwolken über dem Verwunschenen Tal, stieg aus dem Kessel, und blieb darüber schweben. Der Marionettenmann entkorkte ein Glas, das mit etwas gefüllt war, das wie Eissplitter aussah, und schüttete den Inhalt in seinen Kessel. Wieder grollte der Himmel, wie um ihm mitzuteilen, dass er den Befehl verstanden habe. Von einer Sekunde zur anderen veränderte sich das Geräusch des Regens. Er klang nunmehr wie Hagel, stellte der Marionettenmann mit grimmiger Genugtuung fest. Er ging zum Spiegel und sah bestätigt, dass sein Trank wirkte: Statt Regen prasselten messerscharfe Eissplitter auf die Erde nieder. Doch auch wenn sie vermutlich gerade zahlreichen unglücklichen Tieren, die nicht Schutz in ihrem Bau gesucht hatten, Fell und Federn von den Knochen fetzten, prasselten sie auf die Schirme der beiden Männer ein, ohne auch nur ein Loch in den Stoff zu reißen. Der Marionettenmann verzog das Gesicht. Er hatte befürchtet, dass dem Wurmgott so nicht beizukommen wäre. Doch er hatte sich zumindest eine kleine Reaktion erhofft. Das Problem war, dass der Marionettenmann nicht einmal sicher war, ob es sich bei ihm um einen Menschen oder einen Bösen Geist handelte. Vielleicht war er keines von beidem – gewiss aber kein Gott.

Inzwischen waren die beiden Männer dem Fichtenwäldchen, in dem die Hütte des Marionettenmannes stand, beängstigend nahegekommen. Von entschlossener Wut gepackt ging der Marionettenmann noch einmal zu seinem Zutatenschrank und holte eine mit Silberspänen gefüllte Dose daraus hervor. Er konnte vielleicht kein Silber regnen lassen, aber er konnte die für Böse Geister tödliche Eigenschaft des Edelmetalls auf die Eissplitter übertragen. Wenn der Wurmgott ein Böser Geist war, wäre das sein Ende. Der Marionettenmann streute die Späne in den Kessel und rührte darin, gab einen Schuss Sumpfwasser hinzu und warf mehrere lebendige Moderkäfer hinein. Der Himmel verkündete lauthals polternd, dass er zum Angriff überging. Mit gespannter Miene sah der Marionettenmann zum Spiegel.

Der Wurmgott und sein Begleiter zeigten keine Reaktion. Es war, als verpasse er jemandem mit aller Kraft einen Faustschlag ins Gesicht, ohne dass derjenige überhaupt Notiz davon nahm.

Der Marionettenmann stieß einen Wutschrei aus, wandte sich dem Kessel zu und spie hinein. Der Trank fing an zu schäumen. Anstatt über den Kesselrand zu laufen, wurde er von der darüber schwebenden Wolke aufgesogen. Ein langanhaltendes Donnern erschütterte das Verwunschene Tal, als trommele sich der Himmel wie ein wild gewordener Riesengorilla auf der Brust herum. Das Prasseln steigerte sich zu einem Brausen, während die Eissplitter nun wie Sperrfeuer aus einem Rückstoßlader niedergingen.

Dieses Mal reagierte der Wurmgott. Er blieb stehen und holte etwas aus der Innentasche seines Sakkos. Das Bild im Spiegel näherte sich und zeigte dem Marionettenmann etwas, das aussah wie ein aufwendig verziertes Sturmfeuerzeug aus Messing. Der Wurmgott klappte es auf, hielt es hoch, ohne den Schutz des Regenschirms zu verlassen, und betätigte einen Mechanismus. Ein Blitz zuckte aus den Wolken und schlug in das Messinggerät ein. Als hätte es die Wut des Himmels abgeleitet und in seinem Innern eingeschlossen, ertönte ein beruhigtes Grollen. Statt Eissplittern ging nun wieder Regen nieder, und der Wurmgott und sein Begleiter setzten ihren Weg fort.

So beiläufig, so kunstlos. Als hätte er eine Mücke weggeschnippt. Der Marionettenmann verlor einige wertvolle Augenblicke in fassungsloser Starre. Als er wieder zur Besinnung kam, wusste er, dass er zum letzten Mittel würde greifen müssen. Er holte ein Gläschen aus dem Schrank, das anstelle eines Korkens mit einer dünnen Kerze verschlossen war. Darin enthalten waren etwa hundert Milliliter Detomagnesiumlösung – genug, um die Hütte in die Luft zu jagen. Der Marionettenmann entzündete den Docht und stellte das Fläschchen ins Regal. Falls alles scheiterte, würde die Kerze innerhalb der nächsten zwanzig Minuten herunterbrennen und ihn, sämtliche Schrumpfköpfe und hoffentlich auch den Wurmgott in Fetzen reißen.

Ein letztes Mal in dieser Nacht widmete sich der Marionettenmann seinem Kessel. Er würde ein Rudel Totengeister beschwören – Naturgeister, die sich an nebligen Tagen am Leid der Sterbenden labten. Er würde viele Schrumpfköpfe opfern müssen, um sie dazu zu bringen, für ihn zu kämpfen. Damit sie ihm überhaupt Beachtung schenkten, war ein besonderes Opfer nötig. Der Blick des Marionettenmannes wanderte über das Regal und blieb zuletzt an Porl hängen.

»Verzeih mir«, sagte er mit zugeschnürter Kehle, als er den Schrumpfkopf seines ehemaligen Mentors aus dem Regal nahm.

»Das habe ich längst, mein Junge«, erwiderte Porl. Ohne ein Wort des Abschieds warf der Marionettenmann ihn in den Kessel. Dampf stieg von der Oberfläche des Tranks auf, schwappte über den Kesselrand und tastete sich über den Boden.

»Denkst du wirklich, du könntest mich aufhalten?«, donnerte es unvermittelt durch die Hütte. Der Marionettenmann zuckte zusammen. Gesprochen hatte Carl, der Schrumpfkopf, den ihm der Wurmgott dagelassen hatte. Doch seine Stimme war nicht länger auf nervige Weise quäkend, sondern dunkel und feindselig. Zwei violette Lichter leuchteten in den leeren Augenhöhlen des Schrumpfkopfes und Würmer quollen ihm aus Nase und Ohren. »Du bist einer meiner wertvollsten Helfer. Tu nichts, das mich die Beherrschung verlieren ließe.« Der Marionettenmann warf einen Blick in den Spiegel und erkannte, dass der Wurmgott und sein Begleiter nur noch knapp hundert Schritte von seiner Hütte entfernt waren. Die Lippen des Wurmgottes bewegten sich synchron zu denen Carls.

Getrieben von verzweifelter Angst eilte der Marionettenmann zum Korb neben der Feuerstelle, der bis zum Rand mit Schrumpfköpfen gefüllt war, und hievte ihn zum Kessel. Seine dünnen Arme zitterten, während er ihn anhob und den Inhalt in den Trank schüttete. Schreiend und klagend kullerten die Köpfe übereinander. Während sie sich einer nach dem anderen auflösten, wuchsen ein halbes Dutzend Säulen aus dem Nebel über dem Boden. Sie nahmen menschliche Gestalten an ausgerüstet mit Säbeln, Langschwertern und Äxten. Ihr Anblick verlieh dem Marionettenmann Zuversicht. Die gesichtslosen Köpfe ihm zugewandt warteten sie auf seinen Befehl.

»Draußen sind zwei Männer«, sagte der Alchemist. »Tötet sie.« Stumm wandten sich die Nebelgestalten um und begaben sich zum Ausgang. Obwohl sie einen Fuß vor den anderen setzten, schienen sie mehr zu schweben, denn zu gehen, wobei sie Dunstschleier hinter sich herzogen. Ihre Gestalten verschmolzen miteinander, während sie durch die geschlossene Tür entschwebten, als wären sie nichts weiter als Trugbilder. Dabei verursachten sie bis auf ein leises Seufzen wie von einem Luftzug, der sich unter einem Türspalt hindurchzwängt, keinen Laut. Mit angehaltenem Atem lauschte der Marionettenmann. Mehrere zähe Sekunden verstrichen, während derer nur das Rauschen des Regens zu hören war. Hatten die Nebelgeister den Wurmgott bezwungen? Diese Wesen waren normalerweise friedlich. Doch wenn man sie dazu bringen konnte, zu kämpfen, machten sie blutigen Ernst. Der Marionettenmann wagte es nicht, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Er hatte kaum die Gelegenheit, Mut zu sammeln, da schwang die Tür auf, und der Wurmgott und sein Begleiter traten ein. Sie schüttelten das Wasser von ihren Schirmen und klappten sie zusammen, als wäre ihnen draußen nichts Schlimmeres begegnet als strömender Regen.

»Marionettenmann.« Die Stimme des Wurmgottes war ruhig, aber deshalb nicht weniger einschüchternd, als wenn die Erde davon erbebt wäre. Seine Augen – dunkel, kalt – hielten den Marionettenmann so wirksam in Schach, wie es für gewöhnlich nur eine Pistole gekonnt hätte. Er stellte den Regenschirm neben der Eingangstür ab und griff abermals in sein Sakko. Dieses Mal holte er eine Taschenuhr daraus hervor und klappte sie auf. Statt eines Ziffernblatts kam das Uhrwerk zum Vorschein bestehend aus rotierendem Räderwerk und pendelnder Unruh. Während es den Blick des Marionettenmannes gefangen nahm, entkoppelte es sein Hirn von jedem Muskel in seinem Leib.

»Es war schwer, Emily zu töten«, sagte der Wurmgott im Plauderton, während er die Taschenuhr wieder wegsteckte und an dem Marionettenmann vorbei zum Kamin ging. »Die kleine Füchsin wusste doch tatsächlich, wie man ein Mojo herstellt.« Ein Anflug von Stolz belebte die Züge des Wurmgottes. Er nahm einen Teekessel vom Kaminsims und hing ihn über das Feuer, nicht ohne sich davon zu überzeugen, dass noch Wasser darin war. »Sie hatte wohl beabsichtigt, sich vor deinem Spiegel zu verbergen – erfolglos, wie wir beide wissen. Dafür machte sie es mir fast unmöglich, ihre Zukunft zu beeinflussen.« Der Wurmgott sah zu seinem Begleiter, der noch immer im Türrahmen stand. »Rein oder raus, Walter«, sagte er trocken, »aber mach die Tür zu.« Walter trat ins Kerzenlicht und erst jetzt sah der Marionettenmann, dass er zwei längliche Objekte auf den Armen trug, die an riesige Spritzen erinnerten. Er lächelte auf eine Weise, die Schlimmes ahnen ließ.

»Ich habe versucht, so subtil wie möglich vorzugehen«, setzte der Wurmgott seinen Monolog fort, während er vorm Feuer auf und abging. »Ich wollte nicht, dass sie herausfindet, dass jemand viel Bedeutenderes hinter ihr her war, als sie ahnte. Aber hast du eine Idee, wie schwer es ist, den Lauf der Dinge zu lenken, wenn man ständig auf dieser verdammten Straße gehen muss, über der keine Sterne scheinen?« Wut begleitete die letzten Worte des Wurmgottes – nur ein Anflug, doch ließ sie sämtliche Schrumpfköpfe ängstlich die schrumpeligen Lippen aufeinanderpressen, den Marionettenmann den Atem anhalten und das Lächeln des Mannes namens Walter verfliegen. Der Wurmgott schloss kurz die umschatteten Augen und holte einmal tief Luft, ehe er fortfuhr: »Alle Versuche, diese Diane dazu zu bringen, sie zu erledigen, scheiterten. Ich schlage schließlich alle Vorsicht in den Wind und schicke einen meiner Diener los, damit er ihr die Pulsadern aufschneidet. Und was passiert? Es gelingt ihr tatsächlich, ihn zu vertreiben, und dieser William – ebenfalls unsichtbar für meine inneren Augen – platzt rein und rettet ihr das Leben. Ich muss mich also persönlich um Emily kümmern, woraufhin du, Marionettenmann, offenbar nichts Besseres im Sinn hast, als sie zurückzuholen. Du – hast – eine –Aufgabe!« Die Lippen des Marionettenmannes hätten wohl gezittert, unterläge er nicht noch immer der hypnotischen Wirkung der Taschenuhr. So waren nur die Tränen, die ihm über die Wangen liefen, Ausdruck seiner Angst. »Du enttäuschst mich. Allein deinen Fähigkeiten verdankst du, dass ich dir nicht den Kopf abschneide und ihn zu deinen Trophäen ins Regal stelle. Glücklicherweise hat mein treuer Gehilfe Walter Schwarzberg hier eine Möglichkeit gefunden, uns zu helfen.« Mit einer knappen Geste gab er das Wort an seinen Begleiter weiter, der prompt sein bescheidenes Lächeln wieder aufnahm.

»Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen«, sagte er mit ernster Miene. Er legte die Spritzen auf den Tisch und fuhr in sachlichem Tonfall fort: »Der Grund für die Differenzen zwischen dir und dem Wurmgott sind zum einen dein Ungehorsam und zugleich deine Emotionen. Es wäre möglich, dass durch Entfernen von Letzterem auch ersteres Problem behoben würde. Ich möchte aber ganz sichergehen.« Er nahm eine der Spritzen auf und trat vor die hochgewachsene und immer noch reglose Gestalt des Marionettenmannes. Zögerlich sah er zum Wurmgott. »Ich zurre meine Patienten für gewöhnlich fest, um sie zu behandeln.«

 

»Er wird sich nicht rühren«, gab der Wurmgott zurück, während er den Teekessel vom Feuer nahm und sich heißes Wasser in eine Tasse goss. Schwarzberg hob die Spritze und setzte sie mit den Worten »Das wird jetzt ein wenig stechen« auf der hageren Brust des Marionettenmannes an. Er hoffte, zu stürzen. Vielleicht würde der Aufprall ihn aus der Starre befreien. Doch die Hypnose ließ ihn das Gleichgewicht verlagern, sodass er dem Druck der Nadel standhielt. Schwarzberg bohrte sie einige Zentimeter tief in seine Brust, dann zog er den Kolben zurück. Das Grauen war größer als der Schmerz, und wurde nur von der Qual übertroffen, ihn nicht hinausschreien zu können. Der Zylinder füllte sich mit flüssigem Licht, wie es schien, das in allen Farben des Regenbogens leuchtete. Schwarzberg zog die Nadel erst aus der Brust des Marionettenmannes, als er sie bis zum Anschlag zurückgezogen hatte. Mit interessierter Miene betrachtete er den Inhalt des Kolbens.

»Du hast viel Bitterkeit mit dir herumgetragen«, kommentierte er. »Zudem Wut, Angst, Liebe, Hass, Leidenschaft … bei Zuris, mein Innenleben dürfte im Vergleich dazu farblos wirken.«

»Halte dich nicht mit Belanglosigkeiten auf, Walter«, wies der Wurmgott ihn zurecht und nippte an seinem Tee. »Wir haben nicht viel Zeit.«

Schwarzberg legte die Spritze weg und nahm die zweite auf. Als er die Nadel nun in einen Augenwinkel des Marionettenmannes bohrte und einen roten Nebel scheinbar direkt aus seinem Hirn zog, fühlte der Marionettenmann lediglich Schmerz – kein Grauen, keine Angst, keine Wut … nichts.

Der Wurmgott trank einen letzten Schluck Tee und stellte die halbleere Tasse auf den Tisch neben die Spritzen. Erneut zeigte er dem Marionettenmann das Uhrwerk, woraufhin die Hypnose von ihm abfiel.

»Warum …?«, hauchte der Marionettenmann – ein Wort, das von Gefühlen in Bewegung gesetzt worden war, die nicht mehr in ihm existierten.

»Weil sie sterben musste«, sagte der Wurmgott mit beinahe bedauernder Miene. Er ging zum Regal, wo das Fläschchen mit der Detomagnesiumlösung stand, befeuchtete Daumen und Zeigefinger mit der Zunge und löschte die Kerze. »Gehen wir, Walter«, sagte er und wandte sich zur Tür.

»Wie Ihr wünscht, mein Herr.«

»Genug der Formalität«, meinte der Wurmgott im Hinausgehen. »Nenn mich Lotin.«

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