Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1

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Aus der Reihe: Dreizehn -13- #1
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End

Stöhnend richtete Amrei sich auf, wobei sie den Geigenkasten zur Seite fallen ließ und sich vorsichtig mit den Handballen auf dem scherbenübersäten Boden abstützte. Glassplitter steckten ihr in Armen und Gesicht. Sie zitterte und blickte mit einer Mischung aus Angst und Faszination zu mir auf.

»Godric«, hauchte sie. Ich wagte nicht, die Machete sinken zu lassen. Diese Enerphagen waren verschlagen. Es wäre nicht das erste Mal, dass mir einer von ihnen in Amreis Gestalt begegnete. Nikandros hatte gesagt, er könne jede Erscheinung annehmen, die er erlernt hatte. Dazu zählten insbesondere die Gestalten der Spiegelbilder, die er im Laufe seiner langen Gefangenschaft gemimt hatte. Waren sie etwa auch dazu imstande, sich als Versionen unterschiedlichen Alters der jeweiligen Person auszugeben?

Amrei stöhnte und sank zurück. Erst jetzt bemerkte ich den Blutfleck auf ihrer Bluse. Ein Splitter hatte sich in ihre Bauchdecke gebohrt.

Jasper fluchte. Er schob mich zur Seite, beugte sich zu Amrei herab und hob sie hoch. »Rocío!«, rief er laut, während er sie schon zur Tür hinaustrug.

»Meine Geige!«, japste Amrei in Jaspers Armen.

»Godric passt auf sie auf«, erwiderte der Izzianer knapp. »Rocío!«

Wenig später hatten wir Amrei auf das Sofa in Waterstones Wohnzimmer gebettet. Rocío kniete neben ihr, entfernte vorsichtig einen Splitter nach dem anderen und säuberte ihre Wunden.

»Wie schlimm ist es?«, fragte Jasper und sah besorgt in Amreis bleiches Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete flach, schien aber bei Bewusstsein zu sein.

»Sie hat viel Blut verloren, aber keiner der Schnitte ist bedenklich tief«, entgegnete die Alchemistin, während sie den letzten Splitter entfernte.

»Amrei?«, fragte ich behutsam. Die junge Frau öffnete die Augen und sah zu mir.

»Es ist unglaublich«, flüsterte sie. »Als wären nur wenige Viertel vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Er hat mir gesagt, dass es so sein würde, aber ich bin dennoch überwältigt.«

»Wer hat gesagt, dass es so sein würde?«, forschte ich nach.

»Er nannte sich Wurmgott«, antwortete sie. »Obwohl wir die meiste Zeit zusammen waren, weiß ich nicht viel mehr über ihn.«

»Ihr kennt euch?«, fragte Rocío und blickte zwischen mir und Amrei hin und her.

Ich nickte. »Wir haben uns in meinen ersten Vierteln in Treedsgow kennengelernt«, sagte ich. »Dann eines Tages verschwand sie.«

»Nicht irgendeines Tages«, meldete sich Amrei erneut zu Wort. »Es passierte an meinem dreizehnten Geburtstag. Ich betrachtete mich im Spiegel, als mein Spiegelbild … etwas war merkwürdig damit. Es bewegte sich, ohne dass ich mich bewegte. Es fasste durch das Spiegelglas mein Handgelenk und während es mich hineinzog, trat es hinaus und nahm meinen Platz in der Realität ein. Ich war gefangen in einer Welt schwarzen Nebels.«

»Nein!«, rief Jasper unvermittelt und wich vom Sofa zurück. Alle sahen zu ihm. Panik beherrschte seinen Blick, und er zitterte am ganzen Leib. »Die schwarzen Nebel sind fort«, fügte er hinzu und fuhr sich mit den Händen über den kahl rasierten Schädel. »Sprich nicht mehr davon!«

Rocío ging zu ihm, fasste ihn am Arm und führte ihn behutsam zu einem Sessel. »Die schwarzen Nebel sind fort«, bestätigte sie, woraufhin Jasper sich ein wenig beruhigte. »Alles ist gut.«

»Er war zu lange auf der anderen Seite«, beantwortete ich Amreis unausgesprochene Frage.

Die junge Violinistin warf ihm einen verständnisvollen Blick zu, ehe sie fortfuhr: »Einen halben Tag lang war ich gezwungen, ihr Spiegelbild zu spielen. Dann kam der Wurmgott und erlöste mich.«

»Wie?« Ich hatte nicht vergessen, wie schwer es gewesen war, mich aus dem Bann zu befreien, während ich gezwungen war, Nikandros Spiegelbild zu mimen.

»Er berührte mich nur an der Schulter«, flüsterte Amrei. »Er sagte, mein Platz sei nicht hier. Und dann nahm der Nebel Gestalt an, und wir fanden uns an einem sonderbaren Ort wieder: einer Insel, auf der es Tiere und Pflanzen gab, von denen ich noch nie im Leben gehört hatte.« Norin hatte von etwas Ähnlichem berichtet: Als er in Icolis von den Blitzen eines Synaígiegewitters für die Dauer weniger Augenblicke in eine Synaígieblase katapultiert worden war, hatte er von riesigen Reptilien berichtet. Ob es sich bei der Insel ebenfalls um einen Ort handelte, der von einer Synaígieblase eingekapselt war? Wie war es dann möglich, dass Amrei so schnell gealtert war? »Ich bat den Wurmgott, mich nach Hause zu bringen«, fuhr Amrei fort. »Er sagte nur, dass er mich nicht gehen lassen könne, ohne mich die dunklen Runen gelehrt zu haben. Er versicherte mir, dass, wenn ich zurückkehrte, nur wenige Viertel vergangen sein würden. Vier Jahre verbrachten wir auf der Insel, während derer er mich unter seine Fittiche nahm. Die Lehre der dunklen Runen ist ein derart weites Feld, dass ich bezweifelte, sie jemals abzuschließen. Erst vor wenigen Stunden dann verkündete er, es sei an der Zeit, nach Hause zurückzukehren. Ich solle verhindern, dass mein Ebenbild im Diesseits unseren gemeinsamen Freund Godric End töte.«

Ich hob die Brauen. »Du?«

Ihrer Schwäche zum Trotz brachte Amrei einen giftigen Blick zustande. »Ich bin zu mehr fähig, als du denkst«, meinte sie. Hätte sie die Kraft dazu gehabt, hätte sie mich wohl angefaucht. Tatsächlich aber klang sie so ehrfurchtgebietender. »Der Wurmgott brachte mich wieder …« Sie warf Jasper einen flüchtigen Blick zu. »… auf die andere Seite. Ein Spiegel materialisierte sich, und er ließ mich allein. Ich warf mich instinktiv dagegen, und als er zerbrach, fand ich mich im Badezimmer dieses Hauses wieder.«

»Hat dieser … Wurmgott erwähnt, um was für eine Art Enerphag es sich bei deinem Spiegelbild handelt?«, fragte ich. Jasper sah mit verwirrter Miene zu mir.

Ehe er fragen konnte, was ich damit meinte, antwortete Amrei: »Eine Norn.« Das Herz wurde mir schwer. Wie sich herausgestellt hatte, war unser Triumph über Nikandros ein Glücksfall gewesen. Ehe Norin und die Gruppe aus Synaígikern den Norn vor vielen Jahrtausenden besiegt und um den Großteil seiner wahren Macht gebracht hatten, war er fast sowas wie ein Gott unter seinesgleichen gewesen. Seine Stimme hatte ein Unwetter beschworen. Er hatte das Glas aller Fenster in Portale zur anderen Seite verwandelt und dutzende Tentakel daraus heraufbeschworen. Wie sollten wir gegen so etwas bestehen?

»Ich kenne die dunklen Runen, die sie bannen«, sagte Amrei, als hätte sie erraten, was in mir vorging.

»Ach ja? Wie funktionieren sie? Trägst du sie deinem Spiegelbild einfach vor?«

»Ich spiele sie der Norn vor«, erwiderte Amrei. »Auf meiner Geige.«

»Ich wusste nicht, dass man dunkle Runen auch vorspielen kann«, bemerkte ich.

»Ich wusste nicht, dass überhaupt sowas wie dunkle Runen existieren«, hielt Jasper dagegen. »Kann vielleicht mal einer erklären, wovon ihr redet? Was ist eine Norn? Was sind dunkle Runen?« Mit knappen Worten berichtete ich ihm und Rocío, was ich aus Norins Memoiren darüber erfahren hatte. Ich hatte kaum geendet, als wir die Tür zu Waterstones Wohnung ins Schloss fallen hörten. Sekunden später betrat der Professor das Wohnzimmer gefolgt von Miel: ein kugelrunder Student mit wabbelndem, mehrfachem Kinn und kurzem, blondem Haar.

Du bist, was du isst, hatte Martin, Koch auf der Swimming Island, oft gesagt, und er hatte Recht. Miel sah aus wie seine Leibspeise: ein Honigkuchen.

Waterstones Blick fiel auf den jüngst eingetroffenen Gast in seinem Haus, und er erstarrte.

»Wer ist das?«, fragte er mit der Miene eines Vaters, der seine Kinder dabei erwischt hatte, wie sie etwas Unartiges taten, und eine Erklärung verlangte. »Noch jemand von außerhalb des Universitätsviertels, den ich in meinem Haus verstecken muss?«

»Sozusagen«, bestätigte ich. »Ihr Name ist Amrei.«

»Nein!«, sagte Waterstone und schüttelte vehement den Kopf. »Tut mir leid, aber das ist zu viel. Ich kann euch nicht alle durchfüttern. Ganz zu schweigen davon, was mir bevorsteht, wenn jemand herausfindet, dass ich an der Zahl drei Menschen von außerhalb hier Zuflucht gewähre. Nein! Sie muss gehen.«

»Wie du meinst«, entgegnete ich und zuckte scheinbar gleichgültig die Schultern. Jasper warf mir einen überraschten Blick zu. »Übrigens: Ein weiterer Enerphag wie Nikandros ist in Treedsgow.«

Meine Worte wischten die Wut aus Waterstones Miene. »Wie bitte?«

Wieder zuckte ich die Achseln. »Ja. Vermutlich ist er noch ein wenig gefährlicher.«

»Sie!«, meldete sich Amrei zu Wort. »Es ist ein weiblicher Enerphag.« Die Vorstellung, dass es Geschlechter unter solchen Wesen gab, war befremdlich. Als Nikandros uns in der Gestalt eines ungeschlachten Monsters mit stachelbewährtem Gemächte begegnet war, hatte ich mich schon gefragt, ob das gute Stück wohl zum Einsatz käme.

»Amrei weiß nebenbei, wie man ihr beikommt«, fuhr ich fort. »Aber wenn du darauf bestehst, dass sie geht …«

»Wir wissen auch, wie man mit den Enerphagen fertig wird«, hielt Waterstone dagegen. »Wir haben auch Nikandros geschafft, oder?«

»Indem wir mich mit synaígischer Energie geladen haben«, sagte ich und nickte. Ich vermutete, dass die Aura meiner Machete, die dutzenden Menschen das Leben genommen hatte, in Kombination mit der synaígischen Energie tödliche Wirkung gezeigt hatte. »Da wusste ich aber nicht, dass es sich bei dieser Energie um ein Bewusstsein handelt. Ich werde das Risiko nicht noch einmal eingehen, dass sie sich meiner bemächtigt.«

Waterstone knirschte mit den Zähnen. »Woher weiß ich, dass sie uns wirklich helfen kann?«, fragte er und nickte zu Amrei.

»Du hast mein Wort als Ehrenmann«, entgegnete ich in einem Anflug von Ironie. Waterstone schwieg.

 

»Was ist ein Enerphag?«, fragte Miel nach einigen stillen Sekunden und begegnete der Reihe nach unseren Blicken. Ich zögerte. Wie erklärte man jemandem, der einer Wesenheit wie Nikandros nie begegnet war, dass in einer anderen Welt intelligentes Leben existierte, das nicht auf Materie, sondern auf dunklem Mana basierte?

»Das ist ziemlich kompliziert«, sagte ich und kratzte mich am Nacken. »Um nicht zu sagen, unglaublich.«

»Auf gewisse Weise das Mitglied einer Sekte«, sprang Jasper mir bei. »Ziemlich gefährliche Typen.«

»Gefährlicher als Damon, der Banditenanführer?«, fragte Miel ungläubig.

»Viel gefährlicher«, bestätigte ich.

»Hier in Treedsgow?«

»Ja.«

»Aber sie wird mit ihnen fertig?« Der dicke Student deutete auf Amrei.

Ich nickte, und ehe Miel mich mit einer weiteren Frage in noch größere Erklärungsnot bringen konnte, fügte ich hinzu: »Vielleicht stoßen wir auch in der Bibliothek von Ad Etupiae auf etwas, das uns gegen sie hilft. Bauanleitungen für synaígische Waffen oder ähnliches.« Mein Revolver hatte mir stets gute Dienste geleistet, aber zu einer Synaígo-Impuls-Repetierkanone würde ich nicht nein sagen.

»Bibliothek von Ad Etupiae?«, fragte Miel.

»Hab Geduld«, erwiderte ich. »Besser, du siehst es mit eigenen Augen.« An Waterstone gewandt fuhr ich fort: »Uns steht eine Menge Arbeit bevor. Was hältst du davon, wenn wir noch mehr Leute einweihen?«

Waterstone zögerte. »Es wäre mir unlieb, wenn mein Kollegium von der Bibliothek erführe. Wie du gesagt hast: Vielleicht enthält sie Informationen über Waffen. Die sollten gerade in Zeiten des Krieges nicht in falsche Hände geraten.« Ich pflichtete Waterstone stumm bei. Allen voran war da Hicks, Professor für Geotechnologie, der Waterstone und dessen unorthodoxe Methoden am liebsten vor die Mauer des Universitätsviertel gesetzt hätte. Vielleicht lag meine Einschätzung seiner Person darin begründet, dass seine offene Abneigung gegen mich und Waterstone ihm nicht gerade Sympathiepunkte einbrachte. Ich zweifelte jedenfalls nicht daran, dass er versuchen würde, das Projekt in seine Hände zu nehmen, um den Ruhm einzuheimsen und das in der Bibliothek verborgene Wissen an die Industrie zu verkaufen.

Außerdem war da noch Schwarzberg: der ehemalige Anstaltsleiter von Sankt Laplace, von dessen kranken Experimenten an Patienten und makabrer Sammlung menschlicher Augen ich Zeuge geworden war.

»Der Einzige, der in Frage käme, wäre Professor Bennett«, meinte Waterstone.

»Ich dachte weniger an jemanden aus deinem Kollegium, sondern an weitere Studenten«, erwiderte ich. »Obwohl ich Bennett ebenfalls gut leiden kann.« Bennett war ein kleiner Mann mit schütterem Haar und Vollbart, der einer Pfeife mit gutem Tabak nie abgeneigt war. Ich war ihm im Hafen von Treedsgow begegnet, als er ein Foto von einem Gebirge gemacht hatte, das wie eine Fata Morgana über dem Meer erschienen war. Seine unvoreingenommene Art gegenüber dem Hafenvolk und mir ließen mich glauben, dass Waterstone sich nicht in ihm irrte.

Sieh mal einer an, meldete sich eine interessierte Stimme in meinem Kopf zu Wort. Vor nicht allzu langer Zeit hättest du nicht einmal deiner eigenen Mutter den Rücken gekehrt. Und nun vertraust du Menschen, weil sie nett sind? Wieder kam mir der Gedanke, dass ich unvorsichtig wurde.

»Miel ist der einzige meiner Studenten, dem ich vertraue«, entgegnete Waterstone knapp, woraufhin seinem Schützling die opulente Brust schwoll.

»Die beiden Chemiestudenten Malcolm und Clive haben sich ebenfalls als vertrauenswürdig erwiesen«, sagte ich.

»Ich kann sie holen«, bot Miel an. Waterstone willigte ein und folgte ihm zur Tür hinaus, um seinen Kollegen Bennett bei einer Tasse Kaffee vorsichtig an die Situation heranzuführen. Indessen machten Rocío und Jasper sich daran, eine kräftigende Mahlzeit für Amrei zuzubereiten. Ich folgte ihnen in die Küche und kehrte mit einem Löffel von Waterstones Tafelsilber zurück. Norin hatte in seinen Memoiren erwähnt, dass Silber den Enerphagen nicht gut bekam. Erst, als Amrei den Löffel berührt hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, konnte ich sicher sein, dass sie war, wer sie zu sein behauptete.

»Was weißt du noch über den Wurmgott?«, fragte ich die Violinistin, sobald wir allein waren.

»Nicht viel«, erwiderte sie. Wie sie meinem Blick auswich, kam mir der Verdacht, dass sie mir etwas verschwieg.

»Wie sah er aus?«

»Groß. Dunkles Haar. Dunkle Augen.« Sie erschauerte. »Er hatte ein Mal über der Augenbraue.« Das sogenannte Lotinsmal. Es kam nicht selten vor, dass ein Mensch mit einem solchen Mal geboren wurde – auch meine Schwester.

»Sonst irgendwelche besonderen Merkmale?«, hakte ich nach.

»Sein Blick ist der eines sehr weisen Mannes. Ich weiß, es klingt verrückt«, fügte sie hinzu, als ich die Brauen hob. »Du müsstest ihm nur einmal in die Augen sehen, um zu wissen, was ich meine. Als hätte er die ganze Welt bereist. Als lebte er schon seit Jahrtausenden. Als wüsste er selbst, was uns nach dem Tod erwartet.« Mochte es sich bei diesem Wurmgott um Argos handeln, den allwissenden Auguren, den Norin in seinem Bernstein eingeschlossen hatte?

»Warst du die ganze Zeit mit ihm zusammen?«, wollte ich wissen.

»Nicht die ganze Zeit«, entgegnete Amrei. »Manchmal ging er fort und kam erst Viertel später wieder. Ich wäre vor Einsamkeit vermutlich verrückt geworden, wären da nicht auch die Schrumpfköpfe gewesen.«

»Die was?«

»Fünf sprechende Schrumpfköpfe.« Amrei lächelte matt. »Peter, Arthur, Veronica, Clair und Bruce. Sie unterrichteten mich in der Abwesenheit des Wurmgottes.« Ich dachte daran, wie ich nach meinem Trip auf schwarzem Perl in Limbanias Versteck im Unterrumpf aufgewacht war und meine erste unerfreuliche Begegnung mit meinem lebendig gewordenen Spiegelbild gemacht hatte. Hätte der Schrumpfkopf im Regal nicht Alarm geschlagen, hätte es mich wohl schon viel früher auf die andere Seite gezogen. Damals glaubte ich, mein Verstand hätte mir einen Streich gespielt – eine Nachwirkung des schwarzen Perls.

»Und in der ganzen Zeit hast du sonst nichts über ihn erfahren?«, fragte ich.

Amrei zögerte. »Er ist ein strenger Lehrer«, sagte sie schließlich. »Er weiß viel über die dunklen Runen und die Enerphagen. Er ist nicht sonderlich gesprächig«, fügte sie entschuldigend hinzu.

Waterstone und Miel kehrten erst zurück, nachdem Amrei und ich gegessen hatten. Als sie die Wohnung betraten, hörten wir zuallererst Clive, der behutsam zu Waterstone sprach: »Wir fühlen uns sehr geehrt, dass Sie uns in Ihr Projekt einbeziehen wollen, Professor, wirklich. Aber es sind eigentlich Semesterferien.«

Mit der Hand auf der Klinke der Wohnzimmertür hielt Waterstone inne. »Junger Mann, mich interessiert doch sehr, was wichtiger ist als diese einmalige Gelegenheit, an einem wissenschaftlichen Projekt teilzunehmen.«

»Feiern und so«, erwiderte Clive kleinlaut.

»Das Niveau der Treedsgower Studenten hat schon bessere Zeiten gesehen, findest du nicht auch, Edgar?«

»Entweder das, oder sie wussten bislang lediglich, wann es besser war, den Mund zu halten«, ertönte Bennetts Stimme. Ein Lächeln schwang in seinen Worten mit. Jasper und ich tauschten einen belustigten Blick. Die beiden Chemiestudenten glaubten vermutlich, dazu auserkoren worden zu sein, Waterstone beim Sammeln weiterer Messdaten zu unterstützen. Wohl um sich mit ihnen einen Spaß zu erlauben, hatte der Professor die verschüttete Bibliothek von Ad Etupiae mit keinem Wort erwähnt.

Die Tür zum Wohnzimmer wurde geöffnet, und Waterstone, Bennett und Miel betraten den Raum, gefolgt von Malcolm und Clive: Ersterer groß, schlaksig und mit zurückgekämmtem Haar, Letzterer klein und mit zotteligem Schopf. Als sie mich sahen, hellten sich ihre Mienen auf, und sie wechselten einen freudig erregten Blick.

Der Schalk in Bennetts Blick gefror, als er Rocío, Jasper und Amrei erblickte. »Wer sind die, Theodor?«, fragte er. Ein warnender Unterton begleitete seine Worte.

Waterstone räusperte sich verlegen. »Das sind meine Gehilfen Rocío, Jasper und … ähm … Amrei. Von außerhalb«, fügte er ebenso kleinlaut hinzu wie zuvor Clive.

Bennett seufzte und strich sich über den Bart. »Manchmal verstehe ich dich nicht«, sagte er. »Du sagst mir, du möchtest nicht, dass sonst irgendwer von diesem Projekt erfährt aus Angst, jemand könne es dir wegnehmen. Und jetzt muss ich erfahren, dass du drei Personen von außerhalb in deinem Haus versteckst? Du servierst Hicks hiermit einen Grund auf dem Silbertablett, um dich vom Dienst zu suspendieren.«

»Ich brauche sie zu meinem Schutz«, erwiderte Waterstone und kratzte sich am Hinterkopf.

»Schutz? Du hast mit keinem Wort erwähnt, dass es gefährlich wird.«

»Seit wann muss man in der Wissenschaft nicht mit Gefahr rechnen, Edgar?«, konterte Waterstone. »Ich möchte euch nicht länger auf die Folter spannen.« Er wandte sich an Malcolm, Clive und Miel. »Wir sind unter der Erde, zugänglich über die Kanalisation von Treedsgow, auf ein verschüttetes Bauwerk gestoßen: die Bibliothek von Ad Etupiae, einer Stadt des antiken Dustriens.«

»Ich wusste es!«, platzte es aus Malcolm heraus. Alle sahen zu ihm, woraufhin der Chemiestudent rot anlief.

»Du wusstest was?«, fragte Waterstone mit hochgezogenen Brauen.

»Dass, ähm … es die geheime Bibliothek wirklich gibt«, stammelte Malcolm. Waterstone hatte darauf nur einen strengen Blick für ihn übrig.

»Es gibt Grund zur Annahme, dass wir dort Informationen finden, die uns zum Durchbruch mit der Entrizität beziehungsweise der Synaígie verhelfen«, fuhr er schließlich fort. »Der Grund, warum ich dazu so viel Unterstützung wie möglich brauche, ist zum einen die schiere Größe der Bibliothek; zum anderen die Tatsache, dass das Register und vermutlich auch ein Großteil der Schriftstücke in Runenschrift verfasst sind.«

»Wie bitte?«, fragte Clive entgeistert. »Wir sind Chemiestudenten. Wir verstehen nichts von Runen.« Selbst Bennett hob skeptisch die Brauen.

»Rocío und ich werden euch unterrichten«, sagte Waterstone und nickte zu der Alchemistin.

»Warst du schon an diesem Ort, Theodor?«, fragte Bennett.

Waterstone begegnete seinem Blick mit verwirrter Miene. »Aber natürlich.«

Bennett hob abwehrend die Hände. »Verzeih mir die Frage. Es scheint mir nur so unmöglich, dass ein komplett erhaltenes Gebäude aus der Antike so tief im Boden begraben liegen soll. Es hätte längst unter der Last der Erde einbrechen müssen. Ganz zu schweigen davon, dass die Bücher die Jahrtausende dort unten wohl kaum unbeschadet überstanden haben können.«

»Ich verstehe deine Zweifel, geschätzter Freund«, sagte Waterstone milde lächelnd. »Wie es scheint, verstanden sich die Segovia darauf, die Entrizität zu nutzen, um ihre Gebäude zu stabilisieren und Gegenstände zu konservieren. Du siehst, sie waren buchstäblich zu Wundern fähig. Wir können nur spekulieren, welche Möglichkeiten diese Form der Energie uns noch bietet. Sicher ist nur, dass sie die Welt revolutionieren wird.« Seine kleine Ansprache schien Malcolm, Clive und Miel überzeugt zu haben. Bennett nickte. Die Zweifel wichen allerdings erst aus seinem Blick, als er die Bibliothek zum ersten Mal betrat.

Tags darauf erwartete mich Roberto vorm Studentendorf Somerville, wo ich mir wieder das Zimmer mit Miel teilte. Der Izzianer war ursprünglich als Bewahrer der Ehre im Auftrag der Familie Fonti gekommen, um mich zu stellen. Nachdem ich ihm das Leben gerettet hatte, war ihm vermutlich nur Maria, die Perle des Fourier, wichtiger, als seine Schuld bei mir zu begleichen. Er ahnte nicht, dass der Glücksbringer, den er mir einst geschenkt hatte – ein eiserner Kreis mit einer liegenden Acht darin –, eine Kugel aus Damons Revolver abgefangen hatte, die andernfalls mein Herz zerfetzt hätte. Es wäre wohl das Klügste gewesen, den Anhänger ins Meer zu werfen. Das Projektil war immer noch darin eingeklemmt. Sollte Roberto ihn jemals zu Gesicht bekommen, wüsste er, dass er längst nicht mehr in meiner Schuld stand.

Vor einiger Zeit hatte ich den Izzianer losgeschickt, um Aliona zu finden. Sie gehörte zu den Hibridia, eine Gruppe bestehend aus fünf Personen mit fantastischen Fähigkeiten, die nur durch Magie zu erklären waren.

»Einer meiner Kontakte teilte mir mit, du hättest Aliona gefunden?«, fragte er mich.

Ich stutzte. Wie gut jemand über mich Bescheid wusste – und das wenige Tage nach meiner Begegnung mit der Hibridia – war beunruhigend.

 

»Woher weiß er davon?«, forschte ich nach.

»Er hat durch mysteriöse Umstände davon erfahren«, zitierte Roberto seinen Kontakt. »Also stimmt es?« Ich nickte. Vielleicht hatte Aliona selbst ihm diese Info zukommen lassen. Trotz aller Gefahr, die von ihr ausgegangen war, hatte sie einen umgänglichen Eindruck gemacht – immer vorausgesetzt sie verstieß nicht gegen ihr heiliges Gesetz der Neutralität, was auch immer das bedeuten mochte.

Roberto lachte ungläubig. »Du willst mir nicht weißmachen, dass es sich wahrhaftig um die Hibridia aus den Kindergeschichten handelt, oder?«

»Keine Ahnung«, erwiderte ich kurz angebunden. Roberto wusste nichts von Enerphagen, Synaígie und Alchemie, und ich verspürte keine Lust, ihn in all das einzuweihen.

»Wie dem auch sei«, sagte der Izzianer, sobald ihm klar wurde, dass er von mir nichts weiter erfahren würde. »Wenn du mich brauchst, ich habe ein Zimmer im Kepler.«

Während der folgenden Viertel stiegen Rocío und ich regelmäßig in die Bibliothek hinab und suchten zwischen den turmhohen Bücherregalen nach geeigneter Literatur, um daran die segovianische Runenschrift zu studieren – eine derart komplexe Aufgabe, dass in unseren Köpfen nicht viel Raum für andere Dinge blieb. Selbst einfache Texte forderten uns unsere gesamte geistige Anstrengung ab, während wir täglich mehrere Stunden in Waterstones Wohnzimmer darum kämpften, ihre Bedeutung zu verstehen, und literweise Kaffee in uns hineinschütteten. Die Schriftzeichen ließen sich sowohl zu Texten als auch zu Formeln zusammensetzen. Es existierten viele Wörter, für die es keine Übersetzung gab. Häufig bezeichneten sie solche Dinge, die abstrakte Naturereignisse beschrieben wie zum Beispiel den Geruch, der nach einem Sommerregen in der Luft liegt, oder das Sonnenlicht an einem Herbstnachmittag. Sie mochten auf den ersten Blick belanglos erscheinen, doch hatten die Segovia eine Vorliebe dafür gehabt, selbst in wissenschaftlichen Texten in Metaphern zu sprechen. Im Gegensatz zu den heutigen Gelehrten, die stets versuchen, so präzise wie möglich zu formulieren, strebten die Segovia danach, die Diskrepanzen in der Wahrnehmung eines jeden Menschen durch die richtigen Sinnbilder auszugleichen.

Als ob das nicht genug war, gab es spezielle Verbformen für je positive und negative Emotionen, die einen Satz begleiteten. Die Autoren der Antike empfanden es offenbar als bedeutsam, ihre Gefühle in einer Sache mitzuteilen.

»Nach meinen Informationen sprachen die Menschen in der Antike in Dustrien Numiumisch und verwendeten guntrische Buchstaben«, bemerkte Waterstone bei Gelegenheit. »Erst, als das Zeitalter der Segovia kam, und mit ihm der Durchbruch ihrer Technologie basierend auf den synaígischen Runen, fingen sie an, ihre Texte in Runenschrift zu verfassen. Die Sprache aus der grauen Vorzeit von Normar, das heute als Norsee bekannt ist, wurde jedoch nie wiederbelebt.«

Ohne meine Gabe als Arboris und Rocíos und Waterstones bruchstückhafte Kenntnisse der Runen wäre unser Unterfangen ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Auch so dauerte es zwei lange Monate, ehe wir uns daran machen konnten, die anderen zu unterrichten. Malcolm, Clive und Miel nutzten die Zeit, indem sie die spärlich vorhandene Literatur über die segovianischen Runen aus der Universitätsbibliothek studierten. Das Ausmaß von Waterstones Entdeckung ließ sie darüber hinwegsehen, dass sie ihre kostbaren Semesterferien opferten. Selbst an Mirrorisnacht, einem Feiertag, den Studenten traditionsgemäß damit verbrachten, sich im Ampère volllaufen zu lassen, stiegen sie in die Bibliothek hinab.

»Es kommt gut bei den anderen Kommilitonen an, wenn wir erzählen, dass wir an einem Geheimprojekt von Waterstone mitarbeiten«, berichtete Malcolm. »Seit der Golem quer durch Treedsgow gerannt ist, können sie es nicht erwarten, mehr Wunderwerke zu sehen. Zumal es Gerüchte gibt, die Maschine habe Damons Leuten den Arsch aufgerissen und das Hotel in die Luft gejagt.« Er hielt erschrocken inne und sah zu Waterstone. Der Professor hatte die ungebührliche Wortwahl nicht bemerkt, und der Chemiestudent fuhr fort: »Nicht wenige sagen, wenn es jemanden gibt, der die Lage im Hafen wieder in den Griff bekommt, dann du und Waterstone.«

Das Wintersemester kam, und Waterstone und Bennett befreiten die drei Studenten von den Vorlesungen. Trotz aller Arbeit fand ich noch Zeit, nach meinem eigentlichen Ziel Ausschau zu halten: Informationen darüber, wie man jemanden mithilfe der Alchemie ins Leben zurückholt. Regelmäßig stieg ich in die Bibliothek hinab und suchte nach vielversprechenden Titeln von Werken über die Alchemie wie Gebieter über das Sterben oder Das Ende der Endgültigkeit – eine Lektüre über Leben und Tod. Oftmals genügte es, das Inhaltsverzeichnis zu überfliegen, um zu erkennen, dass sich das jeweilige Buch nicht so sehr damit befasste, den Tod um ein Leben zu betrügen, wie sein Titel glauben machte. Viele Werke befanden sich an einem Platz hoch oben in einem der turmhohen Regale. Aus Norins Aufzeichnungen wusste ich, dass es sich bei den Kabinen vor jedem Zugang zu den Gängen zwischen den Regalen um eine Art Aufzug handelte. Allerdings schien die Energiezufuhr unterbrochen zu sein.

»Wenn es eine Möglichkeit gibt, die Entrizität zu reaktivieren, dann müssen wir sie finden«, sagte Waterstone. Dass ihm nicht in den Sinn kam, den Balitstein als bislang einzige Quelle synaígischer Energie zu nutzen, um sich reich und mächtig zu machen, brachte ihm meinen Respekt ein. »Die Formel, die die Bücher konserviert und dem Gebäude Stabilität verleiht, wird vermutlich durch eine Art entrisches Notstromaggregat gespeist«, fuhr er fort. Ich hatte ihm erzählt, was ich in Norins Memoiren über Idun und darüber, wie man sie programmierte, erfahren hatte. »Die Aufzüge sind nicht daran angeschlossen.« Gemeinsam erkundeten wir die Bibliothek und fanden in einem angrenzenden Maschinenhaus das Aggregat: ein komplexes Gebilde, das aus drei ineinander verschachtelten Ringen aus Messing bestand und einen halben Meter über dem Boden schwebte. Der größte Ring hatte einen Durchmesser von etwa fünf Metern. Im Innern des Kleinsten pulsierte ein goldenes Licht wie eine winzige Sonne. Uns allen klapperten die Zähne, kaum dass wir die Tür zum Maschinenhaus geöffnet hatten. Mithilfe seiner Messgeräte stellte Waterstone fest, was die Hibridia Aliona schon erwähnt hatte: Die Menge der dort gespeicherten Energie war groß genug, um diesen Ort weitere tausend Jahre vor dem Verfall zu bewahren.

»Sofern kein Feuer ausbricht«, fügte er mit wütendem Blick auf Jasper hinzu, der den Rauch seiner Zigarette ausstieß und sich in keiner Weise anmerken ließ, dass er sich angesprochen fühlte.

Bis es Waterstone gelang, die Aufzüge an die Versorgung durch das Aggregat anzuschließen, nutzten wir die Energie des Balitsteins.

Indessen verbrachte Amrei die Tage damit, sich an der musikalischen Interpretation der dunklen Runen zu üben, die die Enerphag bannen würde. Damit die Violinistin draußen nicht zu hören war, spielte sie im Keller von Waterstones Wohnung. Als ich sie fragte, wie und wann sie beabsichtigte, die Norn zu konfrontieren, antwortete sie überraschend präzise: »Sie wird am sechsunddreißigsten Winterwind bei Einbruch der Nacht kommen – also in etwa knapp drei Monaten. Das sagte jedenfalls der Wurmgott.« Das konnte nur bedeuten, dass er die Zukunft kannte. Handelte es sich tatsächlich um Argos? War es ihm irgendwie gelungen, sich aus Norins Bernstein zu befreien? Und wenn ja, plante er immer noch, die Welt zu vernichten?

»Sie beobachtet euch, seit es euch gelungen ist, Nikandros zu töten«, berichtete Amrei. »Sie sinnt nach Rache, doch euer Triumph über den Norn hat sie verunsichert. Du darfst niemandem davon erzählen, dass sie kommen wird, Godric«, fügte die Violinistin hinzu. »Noch nicht jedenfalls.«