Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1

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Aus der Reihe: Dreizehn -13- #1
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Rattle und Cat

Rattle atmete ruhig. Die Hände lagen auf seinen Oberschenkeln, während er neben seinen Brüdern und Schwestern kniete und darauf wartete, dass Meister Dimir die Zwiesprache beendete. Nicht ein Mal öffnete er die Augen, um einen Blick auf das zu werfen, was im dunklen Spiegel zu sehen war. Nicht, dass er neugierig gewesen wäre. Er befand sich in einem Zustand der Meditation, in dem ein Gefühl wie Neugierde nicht existierte. Er lauschte seinem Atem, seinem Herzschlag und dem Klicken der Minenkrebse; dem steten Rauschen des Windes, der einen Weg durch die natürlichen Tunnel und die in den Berg gegrabenen Schächte suchte, und der Stille. Die kühle, feuchte Luft vereinte seine Gedanken zu einem ruhig dahintreibenden Fluss, während der Granitgeruch dieses Ortes mit jedem Atemzug in sein Herz einzog, dessen Schlag längst so ruhig war wie die Erde selbst.

Goldgrüner Lichtschein kündete von einem Minenkrebs, der sich von links näherte; friedliche Lebewesen, sofern man sie nicht bedrohte. Es war schon öfter vorgekommen, dass den Scheren ein Finger zum Opfer gefallen war. Das Tier konnte Rattle jedoch genauso wenig überraschen wie er sich selbst. Solange er das Auge des Einklangs geöffnet hatte, spürte er es, als wäre es ein Teil von ihm.

Dimirs Kleidung raschelte, als er sich erhob. Rattle tauchte aus dem Zustand der Meditation auf und öffnete die Augen. Er befand sich in einer natürlichen Höhle, in deren Zentrum auf einem Podest am Ende einer kurzen Treppe ein über zwei Meter hoher Spiegel stand. Zwei Säulen flankierten ihn und verliehen ihm das Aussehen eines Portals. Sechs oder sieben Minenkrebse grasten in der Höhle, einer vor Rattles Knien, die langen Stielaugen auf ihn gerichtet und mit einem wild wuchernden Kristall auf dem Panzer, dem ein goldgrünes Licht innewohnte: die Hauptlichtquelle in der Onslow Mine.

»Der dunkle Spiegel hat gesprochen«, verkündete Dimir feierlich. Er war ein Mann mittleren Alters mit Glatze und Adlernase. Außer der Hose aus dunklem Stoff trug er nur einen schwarzen Umhang, der von einer aus einem Spiegelsplitter bestehenden Schnalle zusammengehalten wurde. »Es ist mir eine Ehre, die Worte von ihm empfangen zu dürfen, die verkündeten, dass wir – das heißt, die Mitglieder unserer Bruderschaft – von nun an sowohl immun gegen den Grubenwahn sind als auch von den Wahnsinnigen nicht länger angegriffen werden.« Ein Raunen ging durch die Reihen der für gewöhnlich stets gefassten Schüler. Sogar Rattles Herz machte einen aufgeregten Hüpfer. Wenn einer der Meister mit seinen Schülern das Heiligtum aufsuchte, dann normalerweise, um in Erfahrung zu bringen, ob der dunkle Spiegel einen der Zöglinge auf die Probe stellen wollte. Rattle hoffte schon seit Langem darauf, einen weiteren Auftrag zu erhalten. Doch Dimirs Worte machten seine Enttäuschung mehr als wett. Der Grubenwahn und die daran Erkrankten stellten keine Gefahr mehr für die Bruderschaft dar! Das bedeutete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie die Onslow Mine verlassen konnten.

»Erhebe dich, Tamora. Gib den anderen Meistern Bescheid.« Eine Schülerin aus den Reihen der Knieenden kam auf die Beine und verließ im Eiltempo das Heiligtum. »Während der dunkle Spiegel nun nach dem schnellstmöglichen Weg sucht, auf dem wir die Mine verlassen können, gibt es einen Auftrag von großer Wichtigkeit, der erledigt werden muss«, fuhr Dimir an den Rest gewandt fort. Noch einmal schlug Rattles Herz schneller. Von großer Wichtigkeit? Wenn der Spiegel ihn dazu berief, diesen Auftrag zu erledigen, wäre er der eindeutige Günstling. Er war mit nur sechzehn Jahren der fähigste Schüler Dimirs; vielleicht sogar der Beste unter allen Schülern. Die vermutlich Einzige, der er nicht das Wasser reichen konnte, war Gwendolyn. Sie hatte einen Weg gefunden, das Auge des Einklangs zu öffnen, den die Meister nicht lehrten – einen, der viel effizienter war als jeder andere. Vor einigen Jahren, als sie noch der Bruderschaft angehört hatte, hatte Rattle ihr ständig am Rockzipfel gehangen. Er hatte alles über ihre Methodik erfahren wollen. Doch dann hatte Gwendolyn beschlossen, dem Spiegel den Rücken zu kehren. Inzwischen konnte Rattle nicht mehr glauben, dass er einst zu ihr – einer Verräterin – aufgeblickt hatte.

Seine somit einzige Konkurrentin war die gleichaltrige Cat. Auch seine Schwester hatte sich die ein oder andere Lektion von Gwendolyn lehren lassen. Tatsächlich war sie so anmaßend gewesen, zu behaupten, sie könne es mit ihm aufnehmen. Rattle hatte sie bloß eines verachtenden Blickes gewürdigt.

»Erhebe dich«, sagte Dimir und legte eine dramatische Pause ein. »Favorit des dunklen Spiegels, Rattle.« Ohne eine Miene zu verziehen, stand Rattle auf und ging an dem Minenkrebs vorbei, der ihm mit den Scheren drohte.

»Erhebe dich …«, wiederholte Dimir, woraufhin Rattle auf halbem Wege zu seinem Meister stutzte. Er war doch längst auf den Beinen. »… Favoritin des dunklen Spiegels, Cat.« Rattle traute seinen Ohren nicht. Der Spiegel hatte zwei Schüler auserwählt? Er warf einen Blick zurück und sah seine Mitschülerin aus den Reihen der knienden Brüder und Schwestern treten. Sie ging barfuß, hatte kein Haar auf dem Kopf und war übersät mit Tätowierungen. Außer einer leichten Hose aus weißem Stoff trug sie wie alle weiblichen Schüler nur eine Brustbinde. Weder ließ ihre Miene erkennen, dass die Worte ihres Meisters sie überrascht hatten, noch gab einer der anderen Schüler einen Laut von sich, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, dass der dunkle Spiegel zwei Schüler auswählte. Erst als Cat zu ihm aufschloss, setzte Rattle seinen Weg an ihrer Seite fort. Vor Dimir kniete seine Schwester nieder. Rattle hingegen begegnete dem Blick des Meisters auf Augenhöhe.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er kalt.

»Der dunkle Spiegel ist unergründlich«, erwiderte Dimir ruhig. Eine unterschwellige Drohung begleitete seine Worte.

»Noch nie sind zwei Schüler aufgerufen worden«, begehrte Rattle auf. »Hält er mich nicht für fähig genug, seine Aufgabe allein zu bewältigen?«

»Es bedeutet«, erwiderte sein Meister und begegnete Rattles Blick mit kühler Ruhe, »dass ihr es mit einem Gegner zu tun bekommen werdet wie noch kein Schüler zuvor. Aber wenn dein Stolz dir verbietet, den Auftrag zu zweit durchzuführen, sei dir gewährt, diese Ehre abzugeben.« Rattle knirschte mit den Zähnen. Obwohl Cat vollkommen reglos und mit gesenktem Haupt vor ihrem Meister kniete, spürte er ihren Spott. Widerwillig folgte er ihrem Beispiel und ging auf die Knie. Mit gesenktem Blick sah er nur noch den Schatten seines Meisters, der sich diffus im Licht eines hinter ihm grasenden Minenkrebses abzeichnete. Er breitete die Arme aus und verkündete feierlich: »Der dunkle Spiegel hat dich, Rattle, und dich, Cat, dazu auserkoren, uns vor einer nahenden Bedrohung zu schützen. Ein Mann, den selbst der Tod fürchtet, wird kommen. Man verbannte ihn einst in die Unterwelt, doch kehrte er als ihr König daraus zurück. Der Einzige, der ihm Angst einflößt, ist er selbst. Er ist ein kaltblütiger Kämpfer, der nie zögert, ein Krieger, der keine Waffen zum Töten braucht, weil seine bloßen Hände keine minder gefährlichen Werkzeuge sind. Er wird zur Onslow Mine kommen und versuchen, zum dunklen Spiegel vorzudringen. Und mit ihm kommt unser aller Ende. Ihr müsst es verhindern. Der Spiegel erwählte euch beide, nicht weil er nicht in eure Fähigkeiten vertraut, sondern weil er unseren Feind respektiert. Nun erhebt euch und bereitet euch auf eure Aufgabe vor.« Rattle und Cat kamen auf die Beine. Hinter ihnen raschelten zwei Dutzend Hosen aus schlichtem Stoff, als sich auch die restlichen Schüler – allesamt kahlköpfig und tätowiert – erhoben.

»Ich werde diesen Kerl alleine erledigen«, sagte Rattle so leise, dass nur Cat ihn hören konnte, während alle zum Ausgang der Höhle strömten.

»Wir werden sehen«, erwiderte sie mit einem provokativen Lächeln, das Rattles Selbstbeherrschung auf eine harte Probe stellte.

End

Das Ticken einer Schrankuhr weckte mich. Meine Orientierung kehrte mit einigen Sekunden Verzögerung zu mir zurück: Ich war auf dem Sofa in Waterstones Wohnzimmer eingeschlafen, als ich die nächste Seite von Williams Tagebuch hatte lesen wollen.

Die Tagebuchseite!

Ich öffnete die Augen und setzte mich auf. Tastete meinen Oberkörper ab und blickte mich hektisch um. Die Seite war nirgends zu sehen. Ich stand auf und riss die Sofapolster herunter. Nichts. Jemand musste sie mir abgenommen haben; Waterstone oder vielleicht Rocío. Gerade wollte ich nach ihnen rufen, da bemerkte ich die Stille. Keine Schritte tönten vom oberen Stockwerk. Keine gedämpften Stimmen sickerten durch die Wände. Nur das Ticken der Schrankuhr war zu hören. War ich allein? Unmöglich. Rocío und Jasper durften das Haus nicht verlassen. Sie waren ungebetene Gäste im Universitätsviertel und würden im Fall Professor Keens, der von Nikandros ermordet worden war, vermutlich verdächtigt werden. Vielleicht waren sie mit Waterstone durch den Zugang im Keller des Professors in die Kanalisation hinabgestiegen, um die Bibliothek von Ad Etupiae zu erkunden.

Dennoch … diese Stille war unheimlich. Auch von draußen hörte ich nichts; weder das Geklapper eines vorbeifahrenden Fuhrwerks, noch das Lachen der Kinder, die auf der Straße spielten – eine Klangszene, die so selbstverständlich war, dass man sich ihrer erst bewusst wird, wenn sie verstummt.

Mit steifen Schritten ging ich zu einem der Fenster. Die Sonne stand tief. Ihr Licht fiel rotgolden ins Zimmer, als stünde ein verfrühter Herbsttag an. Oder endete er? Noch orientierungslos vom Schlaf konnte ich nicht sagen, ob die Sonne auf- oder unterging.

Tick … tack …

Ich warf der Schrankuhr einen wütenden Blick zu. Wie sie die Stille in gleichgroße Scheiben schnitt, machte sie mich noch nervöser als die Lautlosigkeit selbst. Ich verließ Waterstones Wohnzimmer, eilte durch den Flur und trat hinaus auf die Straße. Die Stille rührte nicht von Waterstones vier Wänden her, wie ich gehofft hatte. Sie schwebte auch über den Häusern der Stadt wie die Präsenz einer unsichtbaren, gottähnlichen Wesenheit. Kein Vogel zwitscherte, kein Windhauch rührte sich. Dafür hörte ich nach wie vor das Ticken der Schrankuhr.

 

Ich schickte den Blick die Straße hinauf und hinab. Niemand. Das Licht der tiefstehenden Sonne zeichnete lange Schatten auf das Pflaster. Am Ende der Straße bemerkte ich einen Gegenstand, der aus dem Boden ragte. Ich ging darauf zu und erkannte, dass es ein Schwert war, das in den Fugen des Straßenpflasters steckte. Ich zog es heraus und betrachtete es. Es war eine brutale Waffe aus schwarzglänzendem Stahl. Im goldenen Licht der Sonne wirkte das Material beinahe durchsichtig. Der Knauf des Schwertes war der Totenschädel irgendeines kleinen, menschenähnlichen Lebewesens, seine Schneide gezackt und seine Klinge spitz zulaufend und so breit und lang, dass es die Waffe unhandlich machte; zum Kämpfen ungeeignet. Sie schien eher dafür geschaffen worden zu sein, auf möglichst schmerzhafte und blutige Weise zu töten. Ich drehte sie im Licht der Sonne und bemerkte entlang der Hohlkehle qualvoll verzogene Gesichter knapp unterhalb der dunklen Oberfläche der Klinge; fast so, als banne die Waffe die Seelen ihrer Opfer in den Stahl, aus dem sie geschmiedet worden war.

Tick … tack …

Ich schüttelte den Kopf, wie um das Ticken zu verscheuchen, als wäre es eine lästige Mücke, die um mein Ohr herumschwirrte.

Tick … tack …

Ich schlug mir aufs Ohr …

Tick … tack …

Schlug mir gegen die Schläfe, als hoffte ich, dass Ticken aus meinem Kopf werfen zu können.

Tick … tack …

Wutentbrannt hob ich das Schwert und ließ es senkrecht herabfahren, wie um einen unsichtbaren Feind der Länge nach zu spalten. Die Klinge traf auf die Straße und zerschmetterte das Pflaster. Ein Riss tat sich im Boden auf. Schnell wie ein Blitz weitete er sich aus und verschwand unter der nächsten Hauswand. Eine Sekunde lang schien die Welt den Atem anzuhalten. Dann brach das Haus knirschend entzwei. Die beiden Hälften drifteten voneinander ab, und Gesteinsbrocken regneten in den Riss im Boden, während er immer breiter wurde und meine Beine spreizte. Ich rettete mich auf die rechte Seite, unfähig, den Blick von dem gespaltenen Gebäude abzuwenden. Trümmer und Möbelstücke fielen aus den aufklaffenden Haushälften in die Tiefe.

Weitere Häuser brachen entzwei, während der Riss sich verzweigte. Das Donnern einstürzender Gebäude und ein Chor panischer Schreie aus den Kehlen der Menschen in ganz Treedsgow lösten die Stille ab.

Die Welt zerbrach!

Plötzlich waren die Straßen voller rennender Gestalten. Einige der Segmente, die einst der sichere Boden unter unseren Füßen gewesen waren, sackten herab. Menschen fielen schreiend in die Tiefe. Weitere Gebäude entlang des ersten und größten Risses stürzten ein und gaben den Blick aufs Meer frei. Ein gewaltiger länglicher Strudel ließ ahnen, dass auch der Meeresboden auseinanderbrach.

»Godric? Godric!«

Ich fuhr aus dem Schlaf. Meine Hand fand den Griff der Machete. Ein Traum! Es war bloß ein Traum gewesen! Ich war zurück in Waterstones Wohnzimmer. Der Professor, Rocío und Jasper standen vor mir. Die Alchemistin musterte mich besorgt, der ehemalige Honor aus Izzian belustigt, Waterstone mit gemischten Gefühlen.

»Bist du in Ordnung?«, fragte Rocío.

Ich setzte mich auf, stützte die Ellbogen auf die Knie und fuhr mir durchs Haar, während ich darauf wartete, dass sich mein Herzschlag beruhigte. Nach einer Weile tastete ich meine Kleidung ab und fand in der Brusttasche meines Hemdes, wonach ich gesucht hatte: eine halb aufgerauchte Schachtel Zigaretten.

»Ich wette, er hat von mir geträumt«, sagte Jasper. In seinen blauen Augen blitzte der Schalk. »So, wie der um sich geschlagen hat …«

»Ich habe es eigentlich nicht so gerne, wenn hier geraucht wird«, bemerkte Waterstone spitz, als ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Ich überhörte ihn, zog ein Streichholz über die Tischplatte seines schicken Wohnzimmertischchens aus Akazienholz und steckte die Zigarette an. Waterstone rümpfte die Nase, während ich mein Gesicht in den Rauch des ersten Zuges hüllte. Erst jetzt schlug mein Herz in normalem Tempo weiter.

»Hat jemand …«, setzte ich an, als ich die nächste Seite von Williams Tagebuch im Spalt zwischen den Sofapolstern entdeckte. Ich zog sie heraus und fing an zu lesen:

35. Blätterfall 1713, Lohntag …

»Ich bin eigentlich hier, um mich mit euch zu unterhalten«, sagte Waterstone bissig. Ich hob den Blick und nahm die Zigarette aus dem Mund.

»Was gibt’s?«

»Wir müssen ein paar Regeln klarstellen«, sagte der Professor händeringend. »Ihr seid erst seit zwei Nächten hier und habt schon die Hälfte der Vorräte aufgebraucht.« Seit zwei Nächten? Ich musste über vierundzwanzig Stunden geschlafen haben.

»Die Hälfte der Vorräte?«, fragte ich und sah zu Jasper. Ich hatte nichts davon gegessen, wie mein knurrender Magen mich in diesem Moment erinnerte, und ich glaubte kaum, dass Rocío die Übeltäterin war.

Der Izzianer hob abwehrend die Hände. »Sieh mich nicht so an. Ich esse normal viel.« Ich hob die Brauen. »Na schön, vielleicht ein bisschen mehr als gewöhnlich. Verzeiht mir, wenn mich der Genuss des Essens etwas überwältigt, nachdem ich viertellang auf der anderen Seite ohne habe durchstehen müssen. Um dich zu retten, wohlgemerkt«, fügte er hinzu. Wenn er glaubte, dass ich mich ihm gegenüber deshalb verpflichtet fühlte, irrte er sich gründlich.

»Aber musst du dich unbedingt an meinem guten Wein vergreifen?«, fuhr Waterstone ihn an. Sein perfekt gerader Schnurrbart erzitterte vor Wut. »Wenn du dich unbedingt be­saufen musst, dann schicke ich June los, damit sie dir Fusel aus dem Hafen besorgt.«

»Meinetwegen«, erwiderte Jasper gelangweilt.

»Und das hier«, fuhr Waterstone, dem der Zorn offenbar Mut verlieh, an mich gewandt fort und pflückte mir die Zigarette aus den Fingern, »… ist ebenfalls nicht erwünscht.« Kurz schien es, als wolle er sie auf seinem Akazientischchen ausdrücken. Dann besann er sich eines Besseren und ging zum Fenster, riss es auf und schnippte sie auf die Straße.

Ich unterdrückte den Impuls, mir die nächste Zigarette anzustecken, und hob in beschwichtigender Geste die Hände. »Einverstanden«, sagte ich mit ruhiger Stimme. »Ich rauche nicht hier drin, und Jasper hält sich zurück.«

»Sagt wer?«, fragte der Izzianer. Ich erwiderte seinen he­rausfordernden Blick mit kühler Miene. Es war offensichtlich, wo­rauf er hinauswollte: Er hatte seine Schuld mir gegenüber beglichen. Ich hatte ihm nichts mehr zu sagen.

»Der Mann, dessen Gastfreundschaft du in Anspruch nimmst«, erwiderte ich. »Andernfalls geh und erkläre dem Konstabler, was du im Universitätsviertel zu suchen hast. Wenn sie dich nicht einbuchten, schmeißen sie dich raus. Damon wird sich freuen, dich wiederzusehen.« Bevor ich Jaspers Leben verschont hatte, war er einer von Damons Gardisten gewesen. Der Banditenanführer war einer der wenigen, die sein Gesicht kannten, das er zu vermummen gepflegt hatte.

Jasper lächelte breit. »War nur Spaß, Mann.«

Ich musterte ihn aufmerksam. Die Zeit hinter den Spiegeln hatte ihn verändert. Das war ein anderer Jasper, der die Ideen von Ehre, die ihm ein Orden aus Izzian – die Honoren – einst beigebracht hatte, in den schwarzen Nebeln der Spiegelwelt zurückgelassen zu haben schien. Wunderte mich das? Auch ich hatte eine Menge von meinem früheren Ich im Unterrumpf zurückgelassen.

»Wäre damit alles geklärt?«, fragte ich an Waterstone gewandt.

»Nicht ganz«, sagte Waterstone und rückte seine Brille zurecht. »Als du da auf dem Sofa gelegen und um dich geschlagen hast, hat Rocío dich Godric genannt. Was hat das zu bedeuten?« Ich warf der Alchemistin einen Blick zu, die ihn mit schuldbewusster Miene erwiderte.

»Na, was schon: Albert Walker ist nicht mein richtiger Name«, sagte ich geradeheraus.

»Wozu der Deckname? Wer bist du wirklich?«

»Kannst du es dir nicht denken?« Waterstone erwiderte meinen Blick mit ratloser Miene. »Du hast von der Swimming Island gehört, oder?«

»Godric«, murmelte Waterstone und seine Augen weiteten sich. »Du … du bist … Godric End.« Er wurde bleich und wich zurück. »Bei Zuris, ich gewähre einem der meist gesuchten Verbrecher Dustriens in meinem Haus Zuflucht. Dem Mörder von Baron Ashbee!«

»Wusstest du, dass manche mich deswegen einen Helden nennen?«, fragte ich, erhob mich und ging an Watestone vorbei aus dem Zimmer, nicht ohne ihm einen Klaps auf die Schulter zu geben. »Gewöhn dich lieber dran. Ich geh kurz vor die Tür.«

Draußen steckte ich mir zunächst eine neue Zigarette an. An die Hauswand neben der Eingangstür zu Waterstones Wohnung gelehnt, Lungen und Rachen erfüllt mit dem Qualm der herbsten Tabaksorte, die Treedsgow zu bieten hatte, fand ich endlich die Ruhe, Williams nächste Tagebuchseite zu lesen.

Das Tagebuch

35. Blätterfall 1713, Lohntag

Knapp drei Viertel sind vergangen, seit mir ein Junge im Hafen von Treedsgow den Brief von M-Punkt mitsamt Emilys Schleife gab. Ohne dieses blaue Stück Stoff hätte ich mich vermutlich längst in Sankt Laplace eingewiesen. Ich nehme es jeden Abend aus dem Umschlag und halte es in der Faust wie einen Rettungsring, der mich davor bewahrt, in dem Wahnsinn zu versinken, zu dem mein Leben geworden ist.

Ich verbringe viele Stunden im Kellerraum 21. Ich schlafe wenig und schwänze Vorlesungen. Meide meine Freunde und Professoren – sogar Ed. Die einzigen Menschen, die mir derzeit Gesellschaft leisten, sind die tote Emily in der Gefrierkammer und die jüngste Marionette von M-Punkt. Sie mochte einst ein Hilfsprofessor gewesen sein. Ich glaube, ich habe ihn einmal auf den Fluren der Universität gesehen. Nun dient er als Medium für meinen unbekannten Helfer.

Rankine und Glenn – beide ehemalige Marionetten von M-Punkt – sind nun in Sankt Laplace. Das gibt mir eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was der Zugriff in den Köpfen der Menschen anstellt. Ich komme aber nicht umhin zu bemerken, dass M-Punkts jüngste Marionette tot zu sein scheint. Sie stinkt. Seit einiger Zeit sammeln sich Fliegen in ihren Augen- und Mundwinkeln, und sie hat eine Schürfwunde auf dem Handrücken, die nicht verheilt.

Das hält sie aber nicht davon ab, sich zu bewegen. Wie an unsichtbaren Fäden schwebt sie neben mir, während ich arbeite. Sagt mir, was ich tun muss, um Emily ins Leben zurückzuholen. Offenbar ist dazu irgendein alchemistisches Zauberwerk nötig, das ich bis vor Kurzem noch belächelt hätte. Ich habe eine Menge Kram aus den Laboren der Universität entwendet. Außerdem besorge ich ganz spezielle Zutaten: Käfer von unter der Rinde eines Baumes, Moos von einem Grabstein eines bestimmten Jahres oder bei Mondlicht gefangene Feenwürmchen. Eine der wohl wichtigsten Zutaten, die mir die Marionette überreicht hatte, ist ein Fläschchen, das einige wenige Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit enthält.

»Emilys Körper verdirbt«, sagte die Marionette heute zu mir. Ihre Miene war wie immer ausdruckslos, doch ich hatte das Gefühl, dass M-Punkt nicht zufrieden mit meiner Arbeit war.

»Aber sie ist eingefroren«, entgegnete ich erschrocken und warf einen flüchtigen Blick zur Gefrierkammer.

»Die Temperatur ist nicht niedrig genug. Wir müssen sie mit Leben füllen.«

»Mit Leben füllen?«, wiederholte ich atemlos. »Dann ist es schon so weit?« Ich wagte nicht, zu hoffen.

»Wir lassen vorläufig einen Enafagen in ihren Leib einziehen.« Ich runzelte die Stirn und nahm mir vor, das Wort nachzuschlagen. Die Marionette schwebte zu dem Schrank, den ich in den vergangenen Vierteln mit Zutaten gefüllt hatte, und öffnete ungelenk die Türen. Ich vermied es, dem Blick meines Ebenbildes in den Spiegeln an der Innenseite der Schranktüren zu begegnen. Seit ich Emilys tränenförmige Edelsteine in meinen Besitz gebracht habe, werde ich das Gefühl nicht los, dass die Spiegelbilder mich beobachten.

Die Marionette wies mich an, ein bestimmtes Zeichen auf den Boden zu malen. Währenddessen erklärte sie mir, dass sie einen Folkloren mit einer Dunklen-Mana-Aktivität von knapp zweihundert Leukipp beschwören würde – fast schon ein Alb. Keine Ahnung, was sie damit meinte. Anschließend sagte sie etwas in einer fremden Sprache – vielleicht eine Zauberformel? Schwarzer Rauch trat aus dem Spiegel und sammelte sich wabernd unter der Decke.

 

»Öffne die Gefrierkammer«, wies die Marionette mich an. Widerwillig gehorchte ich. Als hätte der Rauch nur darauf gewartet, zog er in die Kammer ein und verschwand in den Poren von Emilys gefrorener Haut. Ich hielt den Atem an, während ich ihr in die starren Augen sah. Würde sie gleich nach Luft japsen wie jemand, der beinahe ertrunken wäre? Würde sich ihr Blick mit Leben füllen, und sie meinen Namen rufen?

Nichts dergleichen geschah. Emilys Iriden, leblos und kalt, richteten sich auf mich. Ihre Bewegungen waren eckig, als blockierten Eiskristalle ihre Gelenke, als sie eine Hand hob. Von Panik ergriffen, schlug ich den Deckel zu und verriegelte ihn.

W. D. Walker