Die böse Macht

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Mark schwieg. Das Schwindel erregende Gefühl, plötzlich von einer Geheimnisebene auf eine andere gewirbelt zu werden, verbunden mit der zunehmenden Wirkung von Currys ausgezeichnetem Portwein, verschlug ihm die Sprache.

»Ich möchte, dass Sie zum Institut kommen«, sagte Feverstone.

»Sie meinen – ich soll Bracton verlassen?«

»Das wäre doch denkbar, oder? Jedenfalls denke ich, dass Sie hier nichts verloren haben. Wenn N. O. in den Ruhestand geht, machen wir Curry zum Rektor und …«

»Es wurde davon gesprochen, Sie zum Rektor zu wählen.«

»O Gott!« sagte Feverstone erstaunt. Mark begriff, dass der Vorschlag sich in Feverstones Augen ausnehmen musste wie die Anregung, er solle Rektor einer kleinen Hilfsschule werden, und er war froh, dass er seine Bemerkung in einem nicht allzu ernsten Ton vorgebracht hatte. Dann lachten sie wieder.

»Sie, Mark, zum Rektor zu machen«, sagte Feverstone, »wäre absolute Verschwendung. Das ist der richtige Job für Curry. Er wird ihn sehr gut machen. Wir brauchen jemanden, der die Tagesgeschäfte und das Drahtziehen als Selbstzweck betrachtet und nicht ernsthaft fragt, wozu das alles gut ist. Wenn er das täte, würde er anfangen, seine eigenen – nun, wahrscheinlich würde er sie ›Gedanken‹ nennen – einzubringen. Wie die Dinge liegen, brauchen wir ihm nur zu sagen, er halte Soundso für einen Mann, den das College braucht, und er wird ihn dafür halten. Er wird dann keine Ruhe geben, bis dieser Soundso einen Lehrstuhl bekommt. Und genau dafür brauchen wir das College: als ein Schleppnetz, ein Rekrutierungsbüro.«

»Als ein Rekrutierungsbüro für das Institut, meinen Sie?«

»Ja, in erster Linie. Aber das ist nur ein Teilaspekt.«

»Ich bin nicht sicher, dass ich Sie verstanden habe.«

»Bald werden Sie verstehen. Die richtige Seite und all das, Sie wissen schon. Typisch Busby, zu sagen, die Menschheit stehe am Scheideweg. Aber im Moment ist die entscheidende Frage, auf welcher Seite man steht – Obskurantismus oder Ordnung. Es sieht wirklich so aus, als könnten wir als Spezies jetzt endlich für recht lange Zeit eine feste Stellung beziehen und unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Wenn der Wissenschaft wirklich freie Hand gelassen wird, kann sie jetzt die menschliche Rasse beherrschen und umformen, den Menschen zu einem wirklich leistungsfähigen Tier machen. Wenn sie es nicht schafft – nun, dann sind wir erledigt.«

»Fahren Sie fort.«

»Es gibt drei Hauptprobleme. Erstens: das interplanetarische Problem.«

»Was in aller Welt wollen Sie damit sagen?«

»Nun, das tut nichts zur Sache. Hier können wir gegenwärtig nichts tun. Der einzige Mann, der uns da weiterhelfen konnte, war Weston.«

»Er kam bei einem Bombenangriff um, nicht wahr?«

»Er wurde ermordet.«

»Ermordet?«

»Ich bin ziemlich sicher, und ich denke, ich weiß sogar, wer der Mörder war.«

»Großer Gott! Und da kann man nichts machen?«

»Es gibt keine Beweise. Der Mörder ist ein angesehener Professor in Cambridge, hat schlechte Augen, ein lahmes Bein und einen blonden Bart. Er war schon hier bei uns zu Gast.«

»Und weshalb wurde Weston ermordet?«

»Weil er auf unserer Seite stand. Der Mörder ist einer von der feindlichen Seite.«

»Wollen Sie allen Ernstes behaupten, er habe ihn deshalb ermordet?«

»Jawohl!«, sagte Feverstone und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Das ist der springende Punkt. Leute wie Curry oder James plappern über den Kampf gegen die Reaktion. Dabei kommt ihnen nie in den Sinn, dass es ein wirklicher Kampf mit wirklichen Verlusten sein könnte. Sie denken, der gewaltsame Widerstand der anderen Seite habe mit der Verfolgung Galileis und alledem aufgehört. Glauben Sie das bloß nicht. Jetzt geht es überhaupt erst richtig los. Die andere Seite weiß, dass wir endlich über tatsächliche Kräfte verfügen; dass die Frage, welchen Weg die Menschheit gehen wird, in den nächsten sechzig Jahren entschieden wird. Sie werden um jeden Zollbreit kämpfen und vor nichts zurückschrecken.«

»Sie können nicht gewinnen«, sagte Mark.

»Hoffen wir es«, sagte Lord Feverstone. »Ich glaube es auch nicht. Aber gerade darum ist es von so immenser Bedeutung für jeden von uns, die richtige Seite zu wählen. Wenn Sie versuchen, neutral zu bleiben, werden Sie einfach zu einer Schachfigur.«

»Oh, ich habe nicht den leisesten Zweifel, auf welcher Seite ich stehe«, sagte Mark. »Zum Teufel – der Fortbestand der Menschheit ist eine verdammt grundsätzliche Verpflichtung.«

»Nun, ich persönlich teile Busbys Begeisterung nicht«, sagte Feverstone. »Es ist ein bisschen versponnen, sich in seinem Handeln leiten zu lassen von der angeblichen Sorge darum, was in ein paar Millionen Jahren geschehen wird; und Sie dürfen nicht vergessen, dass auch die andere Seite behauptet, das Wohl und den Fortbestand der Menschheit zu verteidigen. Beide Haltungen lassen sich psychologisch erklären. Der praktische Aspekt ist, dass Sie und ich nicht gern anderer Leute Schachfiguren sind und lieber kämpfen – besonders auf der Seite der Gewinner.«

»Und welches ist der erste praktische Schritt?«

»Ja, das ist die eigentliche Frage. Das interplanetarische Problem muss, wie gesagt, einstweilen beiseite gelassen werden. Das zweite Problem sind unsere Konkurrenten auf diesem Planeten. Ich meine damit nicht bloß Insekten und Bakterien. Es gibt viel zu viel Leben jeglicher Art, tierisches und pflanzliches. Wir haben noch nicht richtig aufgeräumt. Zuerst konnten wir nicht, und dann hatten wir ästhetische und humanitäre Skrupel. Und wir haben die Frage des Gleichgewichts in der Natur noch immer nicht gelöst. All das muss noch untersucht werden. Das dritte Problem ist der Mensch selbst.«

»Fahren Sie fort. Dies interessiert mich sehr.«

»Der Mensch muss sich des Menschen annehmen. Das bedeutet natürlich, dass einige Menschen sich des Restes annehmen müssen – und dies ist ein weiterer Grund, so bald wie möglich einzusteigen. Schließlich wollen Sie und ich zu denen gehören, die sich der anderen annehmen, nicht zu denen, derer man sich annimmt.«

»Und was haben Sie vor?«

»Am Anfang stehen ganz einfache und nahe liegende Dinge – Sterilisierung der Untauglichen, Liquidierung rückständiger Rassen (Ballast können wir nicht gebrauchen) und Zuchtwahl. Dann richtige Erziehung, einschließlich pränataler Erziehung. Unter richtiger Erziehung verstehe ich eine, die mit dem Prinzip der Freiwilligkeit und ähnlichem Unsinn aufräumt. Eine richtige Erziehung bringt den Schüler unfehlbar dorthin, wo sie ihn haben will, was immer er oder seine Eltern auch dagegen unternehmen mögen. Natürlich wird sie zuerst hauptsächlich psychologisch sein müssen; aber am Ende werden wir mit biochemischer Konditionierung und direkter Manipulation des Gehirns arbeiten.«

»Aber das ist ja umwerfend, Feverstone.«

»Es ist das einzig Wahre: ein neuer Menschentyp. Und Leute wie Sie müssen den Anfang machen.«

»Da liegt ein Problem für mich. Bitte halten Sie es nicht für falsche Bescheidenheit, aber ich weiß nicht, was ich dazu beitragen könnte.«

»Nein, aber wir wissen es. Sie sind genau, was wir brauchen: ein ausgebildeter Soziologe mit radikal realistischen Ansichten, der sich nicht scheut, Verantwortung zu übernehmen. Außerdem ein Soziologe, der schreiben kann.«

»Sie wollen doch nicht, dass ich dies alles niederschreibe?«

»Nein. Wir wollen, dass Sie es umschreiben – es verschleiern. Natürlich nur für den Anfang. Ist die Sache erst einmal in Gang gekommen, werden wir uns um die Großherzigkeit der britischen Öffentlichkeit nicht weiter kümmern brauchen. Wir werden daraus machen, was wir wollen. Aber bis es soweit ist, kann uns nicht gleichgültig sein, wie die Dinge dargestellt werden. Würde zum Beispiel nur andeutungsweise bekannt, dass das Institut Vollmachten für Experimente an Kriminellen will, so hätten wir sofort alle alten Weiber beiderlei Geschlechts mit ihrem Gezeter über Humanität am Hals. Nennen Sie es dagegen Umerziehung der Nichtangepassten, und schon geifern sie vor Freude, dass die Zeit des vergeltenden Strafrechts endlich zu Ende ist. Ein seltsames Phänomen: Das Wort ›experimentieren‹ zum Beispiel ist unpopulär, nicht aber das Wort ›experimentell‹. Mit Kindern darf man nicht experimentieren: aber bieten Sie den lieben Kleinen kostenlose Erziehung in einer experimentellen Schule, die dem Institut angeschlossen ist, und alles ist in bester Ordnung.«

»Wollen Sie damit sagen, dass diese — hm – journalistische Tätigkeit meine Hauptaufgabe sein würde?«

»Es hat nichts mit Journalismus zu tun. Ihre Leser wären in erster Linie die Ausschüsse des Unterhauses, nicht die Öffentlichkeit. Aber das wäre in jedem Falle nur ein Nebenaspekt. Was die Stelle selbst angeht – nun, es ist unmöglich vorauszusagen, wie sich das entwickeln wird. Bei einem Mann wie Ihnen brauche ich die finanzielle Seite nicht eigens zu betonen. Sie würden in einem relativ bescheidenen Rahmen anfangen, vielleicht fünfzehnhundert Pfund im Jahr.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Mark, der dennoch vor Aufregung ganz rot wurde.

»Natürlich muss ich Sie warnen«, sagte Feverstone. »Die Sache ist gefährlich. Vielleicht jetzt noch nicht, aber wenn die Dinge wirklich ins Rollen kommen, dann ist es durchaus möglich, dass man versuchen wird, Sie um die Ecke zu bringen, wie den armen alten Weston.«

»Ich glaube, daran habe ich auch nicht gedacht«, sagte Mark.

»Hören Sie zu«, sagte Feverstone. »Ich fahre Sie morgen zu John Wither. Er hat mir gesagt, ich solle Sie am Wochenende mitbringen, wenn Sie interessiert wären. Sie werden dort alle wichtigen Leute kennen lernen, und es wird Ihnen helfen, Ihre Entscheidung zu treffen.«

 

»Was hat Wither damit zu tun? Ich dachte, Jules stehe an der Spitze des N.I.C.E.« Horace Jules war ein bekannter Schriftsteller und Autor populärwissenschaftlicher Bücher, dessen Name in der Öffentlichkeit fast immer in Verbindung mit dem neuen Institut genannt wurde.

»Jules! Er ist das Aushängeschild«, sagte Feverstone. »Sie glauben doch nicht, dass dieses kleine Maskottchen im Ernst etwas zu sagen hätte! Er ist der richtige Mann, um dem britischen Publikum in den Wochenendzeitungen das Institut nahe zu bringen, und dafür bezieht er ein üppiges Gehalt. Für die eigentliche Arbeit taugt er nicht. In seinem Kopf hat er nichts als sozialistische Ideen des neunzehnten Jahrhunderts und dummes Zeug über die Menschenrechte. Er ist ungefähr so weit wie Darwin gekommen!«

»Kann ich mir denken«, sagte Mark. »Ich habe mich immer gewundert, dass er überhaupt mit von der Partie ist. Nun, da Sie so freundlich sind, werde ich Ihr Angebot annehmen und das Wochenende mit zu Wither fahren. Wann wollen Sie los?«

»Gegen Viertel vor elf. Sie wohnen draußen in Sandawn, nicht wahr? Ich könnte vorbeikommen und Sie abholen.«

»Vielen Dank. Nun erzählen Sie mir von Wither.«

»John Wither«, begann Feverstone, brach aber plötzlich ab. »Mist!«, sagte er. »Da kommt Curry. Jetzt müssen wir uns alles anhören, was N. O. gesagt hat und wie geschickt unser Obertaktiker ihn eingewickelt hat. Laufen Sie nicht weg. Ich werde Ihre moralische Unterstützung brauchen.«

2 _______

Der letzte Bus war längst fort, als Mark das College verließ, und er ging im hellen Mondlicht zu Fuß nach Hause. Sobald er die Wohnung betreten hatte, geschah etwas sehr Ungewöhnliches. Noch auf der Fußmatte hatte er plötzlich eine verängstigte, halb schluchzende Jane in den Armen – wie ein Häuflein Elend. Sie sagte: »Oh, Mark, ich habe mich so gefürchtet.«

Irgendwie fühlte sich der Körper seiner Frau ungewohnt an; eine gewisse unbestimmte Abwehrhaltung war vorübergehend von ihr gewichen. Er hatte solche Augenblicke schon früher erlebt, aber sie waren selten und wurden immer seltener. Aus Erfahrung wusste er, dass ihnen am nächsten Morgen meist unerklärliche Streitereien folgten. Das verwirrte ihn sehr, aber er hatte diese Verwirrung nie in Worte gefasst.

Es ist zweifelhaft, ob er ihre Gefühle verstanden hätte, selbst wenn man sie ihm erklärt hätte; und Jane konnte sowieso nichts erklären. Sie war völlig verwirrt. Doch die Gründe für ihr ungewöhnliches Verhalten gerade an diesem Abend waren sehr einfach. Um halb fünf war sie von den Dimbles zurückgekehrt, erfrischt und hungrig von ihrem Spaziergang und fest überzeugt, dass ihre Erlebnisse der vergangenen Nacht und beim Mittagessen ein für alle Mal vorbei wären. Bevor sie ihren Tee getrunken hatte, musste sie Licht machen und die Vorhänge zuziehen, denn die Tage wurden bereits kürzer. Während sie das tat, ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass ihr Entsetzen vor dem Traum und bei der bloßen Erwähnung eines Mantels, eines alten Mannes, eines begrabenen, aber nicht toten alten Mannes und einer Sprache wie Spanisch wirklich so unvernünftig war wie die Angst eines Kindes vor der Dunkelheit. Dies rief ihr die Augenblicke ihrer Kindheit in Erinnerung, als sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet hatte. Vielleicht verweilte sie zu lange bei diesen Erinnerungen. Wie auch immer, als sie sich setzte, um ihre letzte Tasse Tee zu trinken, war der Abend irgendwie verdorben. Und es ließ sich auch nichts mehr aus ihm machen. Zuerst fand sie es ziemlich schwierig, sich auf ihr Buch zu konzentrieren; dann, als sie diese Schwierigkeit erkannt hatte, fand sie es schwierig, sich überhaupt auf irgendein Buch zu konzentrieren. Sie merkte, dass sie unruhig war. Und das Bewusstsein, unruhig zu sein, machte sie nervös. Danach hatte sie eine lange Zeit zwar nicht direkt Angst, wusste aber, dass sie sofort Angst bekommen würde, wenn sie sich nicht zusammennahm. Dann überkam sie eine merkwürdige Abneigung, in die Küche zu gehen und das Abendessen zu bereiten, und als sie sich überwunden und es doch getan hatte, konnte sie nichts essen. Es war nicht länger zu leugnen, dass sie sich fürchtete. Verzweifelt rief sie bei den Dimbles an. »Ich glaube, ich sollte vielleicht doch die Person aufsuchen, die Sie vorgeschlagen haben«, sagte sie. Nach einer seltsamen kleinen Pause antwortete Mrs. Dimbles Stimme und gab ihr die Adresse. Ironwood war der Name, anscheinend Miss Ironwood. Jane hatte angenommen, es werde ein Mann sein, und fühlte sich etwas abgestoßen. Miss Ironwood wohnte draußen in St. Anne’s on the Hill. Jane fragte, ob sie sich anmelden solle. »Nein«, sagte Mrs. Dimble, »Sie werden … Sie brauchen sich nicht anzumelden.« Jane versuchte, das Gespräch nach Kräften in die Länge zu ziehen. Sie hatte im Grunde nicht angerufen, um die Adresse zu erfahren, sondern um Mutter Dimbles Stimme zu hören. Insgeheim hatte sie darauf gehofft, dass Mutter Dimble ihre Not spüren und sagen würde: »Ich setze mich gleich in den Wagen und komme zu Ihnen.« Stattdessen bekam Jane nur schnell die gewünschte Information und ein hastiges »Gute Nacht«. Mrs. Dimbles Stimme war ihr etwas seltsam vorgekommen. Sie hatte das Gefühl, mit ihrem Anruf ein Gespräch unterbrochen zu haben, dessen Gegenstand sie selbst gewesen war – nein, nicht sie selbst, sondern etwas anderes. Wichtigeres, das in irgendeinem Zusammenhang mit ihr stand. Und was hatte Mrs. Dimble mit »Sie werden …« gemeint? »Sie werden dort erwartet?« Schreckliche, kindisch-albtraumhafte Vorstellungen von denen, die sie erwarten mochten, gingen ihr durch den Kopf. Sie sah Miss Ironwood ganz in Schwarz gekleidet dasitzen, die gefalteten Hände auf den Knien; dann führte jemand sie vor Miss Ironwood, sagte »Sie ist gekommen« und ließ sie dort allein.

»Zum Teufel mit den Dimbles!« murmelte Jane vor sich hin, und dann machte sie es in Gedanken schnell rückgängig, mehr aus Angst als aus Reue. Und nun, da der rettende Telefondraht in Anspruch genommen worden war und keinen Trost gebracht hatte, brach der Schrecken, wie ergrimmt über ihren vergeblichen Versuch, ihm zu entfliehen, mit voller Macht wieder über sie herein. Sie konnte sich später nicht erinnern, ob der grässliche alte Mann und der Mantel ihr tatsächlich in einem Traum erschienen waren oder ob sie bloß zusammengekauert dagesessen hatte, ängstliche Blicke um sich warf und inständig hoffte, ja sogar betete (obwohl sie an niemanden glaubte, zu dem sie hätte beten können), dieser schreckliche Greis möge sie verschonen.

Und so kam es, dass Mark Jane völlig unerwartet auf der Türschwelle vorfand. Äußerst schade, dachte er, dass dies ausgerechnet an einem Abend passieren musste, an dem er so spät kam und so müde und – um die Wahrheit zu sagen – nicht mehr ganz nüchtern war.

3 _______

»Fühlst du dich heute Morgen besser?«, fragte Mark. »Ja, danke«, sagte Jane kurz angebunden.

Mark lag im Bett und trank eine Tasse Tee. Jane saß halb angekleidet vor der Frisierkommode und bürstete ihr Haar. Marks Blick ruhte mit trägem, morgendlichem Vergnügen auf ihr. Wenn er von der mangelnden Übereinstimmung zwischen ihnen nur sehr wenig spürte, dann lag dies zum Teil an unserer unverbesserlichen Gewohnheit zu projizieren. Wir halten das Lamm für sanft, weil seine Wolle sich weich anfühlt. Männer nennen eine Frau sinnlich, wenn sie sinnliche Gefühle in ihnen weckt. Janes Körper, weich und doch fest, schlank und doch rund, war so sehr nach Marks Geschmack, dass es ihm nahezu unmöglich war, ihr nicht die gleichen Empfindungen zuzuschreiben, die sie in ihm erregte. »Bist du ganz sicher, dass dir nichts fehlt?«, fragte er wieder. »Absolut«, sagte Jane wortkarg.

Sie dachte, sie sei ärgerlich, weil ihr Haar so widerspenstig wäre und weil Mark so ein Getue machte. Natürlich ärgerte sie sich wegen ihres Anfalls von Schwäche am Vorabend auch über sich selbst. Er hatte sie zu dem gemacht, was sie am meisten verabscheute – zu dem zitternden, tränenreichen Frauchen sentimentaler Romane, das sich Trost suchend in männliche Arme flüchtet. Aber sie glaubte, dieser Ärger existiere nur irgendwo hinten in ihrem Kopf, und ahnte nicht, dass er durch jede Ader pulsierte und die Ungeschicklichkeit in ihren Fingern bewirkte, die ihr Haar so widerspenstig erscheinen ließ.

»Denn wenn du dich auch nur im Geringsten unwohl fühlst«, fuhr Mark fort, »könnte ich den Besuch bei diesem Wither verschieben.« Jane sagte nichts.

»Wenn ich fahre«, sagte Mark, »werde ich sicher eine Nacht fortbleiben müssen; vielleicht auch zwei.«

Jane presste die Lippen ein wenig fester zusammen und sagte noch immer nichts.

»Angenommen, ich fahre«, sagte Mark. »Willst du nicht Myrtle bitten herüberzukommen?«

»Nein, danke«, sagte Jane mit Nachdruck und fügte hinzu: »Ich bin es gewohnt, allein zu sein.«

»Ich weiß«, sagte Mark abwehrend. »Zurzeit ist im College der Teufel los. Hauptsächlich aus diesem Grund überlege ich auch, eine neue Stelle anzunehmen.«

Jane schwieg.

»Hör zu«, sagte Mark, richtete sich mit einem Ruck auf und schwang seine Beine aus dem Bett. »Es hat keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Ich gehe nicht gern fort, wenn du in diesem Zustand bist …«

»In welchem Zustand?« fragte Jane, die sich nun umwandte und ihn zum ersten Mal ansah.

»Nun – ich meine … ein bisschen nervös, wie es jeder manchmal ist.«

»Weil ich zufällig einen Albtraum hatte, als du gestern Abend – oder, besser gesagt, heute Morgen nach Haus kamst, brauchst du noch nicht so zu tun, als ob ich eine Neurasthenikerin wäre.« Das war ganz und gar nicht, was Jane hatte sagen wollen.

»Es hat doch keinen Sinn, gleich loszulegen, als ob …«, begann Mark.

»Als ob was?« fragte Jane eisig, und bevor er etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: »Wenn du meinst, ich werde verrückt, kannst du ja Brizeacre kommen und mich einweisen lassen. Es wäre günstig, es während deiner Abwesenheit zu erledigen. Sie könnten mich ohne großes Aufhebens abtransportieren, während du bei Mr. Wither bist. Ich werde mich jetzt um das Frühstück kümmern. Wenn du dich nicht schnell rasierst und anziehst, bist du nicht fertig, wenn Lord Feverstone kommt.«

Das Ergebnis war, dass Mark sich beim Rasieren einen sehr bösen Schnitt zuzog (und sich sofort vorstellte, wie er, einen großen Wattebausch auf der Oberlippe, mit dem überaus bedeutenden Mr. Wither sprach), während Jane aus verschiedenen Gründen beschloss, Mark ein ungewöhnlich reichhaltiges Frühstück zu bereiten – lieber wäre sie gestorben, als selbst davon zu essen. Sie tat das mit den schnellen, geschickten Bewegungen einer zornigen Frau, nur um im letzten Moment alles über dem neuen Herd zu verschütten. Sie saßen noch am Frühstückstisch und taten beide so, als läsen sie Zeitung, als Lord Feverstone kam. Bedauerlicherweise traf Mrs. Maggs gleichzeitig mit ihm ein. Mrs. Maggs war jenes Element in Janes Haushalt, das sie mit der Redewendung zu umschrei-ben pflegte: »Ich habe eine Frau, die zweimal in der Woche kommt.« Zwanzig Jahre früher hätte Janes Mutter eine solche Frau einfach mit »Maggs« angeredet und wäre ihrerseits als »Madam« tituliert worden. Aber Jane und ihre Zugehfrau nannten einander Mrs. Maggs und Mrs. Studdock. Sie waren ungefähr gleichaltrig, und das Auge eines Junggesellen hätte in der Art, sich zu kleiden, keinen großen Unterschied gesehen. So war es vielleicht nicht unentschuldbar, dass Feverstone, als Mark ihn seiner Frau vorstellen wollte, Mrs. Maggs die Hand schüttelte; aber es machte die letzten Minuten, bevor die beiden Männer wegfuhren, nicht gerade angenehmer.

Unter dem Vorwand, einkaufen zu gehen, verließ Jane gleich darauf ebenfalls die Wohnung. »Ich könnte Mrs. Maggs heute wirklich nicht ertragen«, sagte sie zu sich selbst. »Sie ist furchtbar geschwätzig.« Das war auch Lord Feverstone – dieser Mann mit dem lauten, unnatürlichen Lachen, dessen Mund an einen Hai erinnerte, der offensichtlich keine Manieren hatte und zudem anscheinend ein ziemlicher Dummkopf war. Was konnte es Mark nützen, mit einem solchen Mann zu verkehren? Sein Gesicht hatte Janes Misstrauen geweckt. Sie hatte einen Blick dafür – er wirkte irgendwie verschlagen. Wahrscheinlich hielt er Mark zum Narren. Mark war so leicht hereinzulegen. Wäre er bloß nicht in Bracton! Es war ein grässliches College. Was fand Mark nur an Leuten wie Mr. Curry und dem abscheulichen alten Geistlichen mit dem Bart? Und was war mit dem Tag, der ihr bevorstand, und der Nacht, und so weiter – denn wenn Männer sagen, dass sie möglicherweise zwei Nächte ausbleiben, dann bedeutet das mindestens zwei Nächte und wahrscheinlich eine ganze Woche. Ein Telegramm (niemals ein Ferngespräch) brachte das für sie in Ordnung. Sie musste etwas tun. Sie dachte sogar daran, Marks Rat zu befolgen und Myrtle einzuladen. Aber Myrtle war ihre Schwägerin, Marks Zwillingsschwester, und sie blickte viel zu ehrfürchtig zu ihrem erfolgreichen Bruder auf. Sie würde über Marks Gesundheit und seine Hemden und Socken reden, und in allem würde eine unausgesprochene, aber unverkennbare Verwunderung über Janes Glück mitschwingen, einen solchen Mann geheiratet zu haben. Nein, bestimmt nicht Myrtle. Dann dachte sie daran, als Patientin Dr. Brizeacre aufzusuchen. Er war ein Bracton-Mann und würde ihr deshalb wahrscheinlich nichts berechnen. Aber als sie sich vorstellte, wie sie ausgerechnet Brizeacre die Art von Fragen beantworten sollte, die er mit Gewissheit stellen würde, erwies sich dieses Unterfangen als unmöglich. Aber sie musste etwas tun. Schließlich entdeckte sie gewissermaßen zu ihrer eigenen Überraschung, dass sie beschlossen hatte, nach St. Anne’s hinauszufahren und Miss Ironwood aufzusuchen. Sie kam sich ziemlich töricht vor.