Die böse Macht

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Nachdem Jane die Wohnung verlassen hatte, ging sie in die Innenstadt und kaufte sich einen Hut. Früher hatte sie abfällig von jener Sorte Frauen gesprochen, die sich zum Trost und als Anregung Hüte kauften, so wie Männer Alkohol tranken. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass sie jetzt das Gleiche tat. Sie bevorzugte ziemlich streng geschnittene Kleider in gedeckten Farben, wie sie einem ernsthaften Geschmack entsprachen, Kleider, die jedem deutlich machen sollten, dass sie eine intelligente Erwachsene war und nicht so ein aufgedonnertes Ding wie auf den Werbeplakaten. Auf Grund dieser Vorliebe war ihr gar nicht bewusst, dass sie sich überhaupt für Kleider interessierte, und so verdross es sie ein wenig, als sie beim Verlassen des Hutladens Mrs. Dimble begegnete und mit den Worten begrüßt wurde: »Hallo, meine Liebe! Haben Sie sich einen Hut gekauft? Kommen Sie zum Mittagessen zu uns, und lassen Sie sich damit anschauen. Cecil steht mit dem Wagen gleich um die Ecke.«

Cecil Dimble, Professor am Northumberland College, war während Janes letztem Studienjahr ihr Tutor gewesen, und seine Frau (man würde sie am liebsten Mutter Dimble nennen) war allen Mädchen ihres Jahrgangs eine Art Tante gewesen. Sympathie für die Studentinnen des eigenen Mannes ist unter Professorenfrauen vielleicht weniger verbreitet, als zu wünschen wäre; aber Mrs. Dimble schien alle Studenten beiderlei Geschlechts ihres Mannes zu mögen, und das Haus der Dimbles, etwas abseits auf der anderen Seite des Flusses gelegen, war während des Semesters immer eine Art geräuschvoller Salon. Mrs. Dimble hatte Jane besonders gern gemocht und ihr jene Art von Zuneigung entgegengebracht, wie sie eine humorvolle, unkomplizierte und kinderlose Frau zuweilen für ein Mädchen empfindet, das sie hübsch und ein wenig eigenartig findet. Im letzten Jahr hatte Jane die Dimbles etwas aus den Augen verloren und hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Sie nahm die Einladung zum Mittagessen an.

Sie fuhren nördlich vom Bracton College über die Brücke und dann am Ufer des Wynd entlang und an kleinen Häusern vorbei nach Süden. An der normannischen Kirche bogen sie links ab und folgten der geraden Landstraße mit den Pappeln auf der einen und der Mauer des Bragdon-Waldes auf der anderen Seite Richtung Osten bis vor die Haustür der Dimbles.

»Wie schön es hier ist!«, sagte Jane spontan, als sie aus dem Wagen stieg. Die Dimbles hatten einen prächtigen Garten.

»Dann sollten Sie sich alles gut ansehen«, sagte Professor Dimble.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Jane.

»Hast du es ihr noch nicht erzählt?«, fragte Professor Dimble seine Frau.

»Ich habe mich noch nicht dazu durchringen können«, sagte Mrs. Dimble. »Außerdem ist ihr Mann einer der Schurken in dem Stück. Armes Mädchen! Außerdem nehme ich an, dass sie es weiß.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Jane.

»Ihr College macht uns große Schwierigkeiten. Sie werfen uns hinaus. Sie wollen den Mietvertrag nicht verlängern.«

»Ach, Mrs. Dimble!«, rief Jane aus. »Und ich habe nicht einmal gewusst, dass dieses Haus dem College gehört.«

»Da haben wir es!«, sagte Mrs. Dimble. »Die eine Hälfte der Welt weiß nicht, wie die andere lebt. Und ich habe gedacht, Sie würden Ihren ganzen Einfluss aufbieten, um Ihren Mann dazu zu bewegen, uns zu helfen. In Wirklichkeit dagegen …«

»Mark spricht nie mit mir über Collegeangelegenheiten.«

»Das tun gute Ehemänner nie«, sagte Professor Dimble. »Höchstens über die Angelegenheiten anderer Colleges. Deshalb weiß Margaret alles über Bracton und nichts über Northumberland. Aber wollen wir nicht hineingehen?«

Dimble vermutete, dass Bracton den Wald und alles andere, was dem College auf dieser Seite des Flusses gehörte, verkaufen würde. Die ganze Gegend erschien ihm jetzt noch paradiesischer als bei seinem Einzug vor fünfundzwanzig Jahren, und er war über die jüngste Entwicklung viel zu bekümmert, um vor der Frau eines Bracton-Dozenten darüber zu sprechen.

»Du wirst auf dein Mittagessen warten müssen, bis ich Janes neuen Hut gesehen habe«, sagte Mutter Dimble und eilte mit Jane die Treppe hinauf. Es folgte ein im altmodischen Sinne sehr weibliches Gespräch. Doch obwohl Jane sich in gewisser Weise darüber erhaben fühlte, empfand sie es als wohltuend. Und obwohl Mrs. Dimble zu solchen Dingen wirklich eine falsche Einstellung hatte, war nicht zu leugnen, dass die eine kleine Änderung, die sie vorschlug, eine entscheidende Verbesserung war. Als der Hut wieder eingepackt war, sagte Mrs. Dimble unvermittelt: »Es ist doch nichts Unangenehmes passiert?«

»Wieso?«, sagte Jane. »Was sollte passiert sein?«

»Sie sehen so verändert aus.«

»Oh, mir fehlt nichts«, sagte Jane laut. Und in Gedanken fügte sie hinzu: »Sie platzt vor Neugierde, ob ich ein Baby erwarte. So sind Frauen wie sie nun einmal.«

»Mögen Sie nicht geküsst werden?«, fragte Mrs. Dimble unerwartet.

»Mag ich nicht geküsst werden?«, dachte Jane. »Das ist in der Tat die Frage. Mag ich nicht geküsst werden? Nicht auf Verstand bei Frauen hoffe …« Sie hatte erwidern wollen: »Natürlich nicht«, brach aber aus unerklärlichen Gründen und zu ihrem großen Verdruss stattdessen in Tränen aus. Und dann wurde Mrs. Dimble für einen Augenblick einfach eine Erwachsene, wie Erwachsene für ein sehr kleines Kind sind: große, warme, weiche Wesen, zu denen man mit aufgeschlagenen Knien oder zerbrochenem Spielzeug läuft. Wenn Jane an ihre Kindheit dachte, erinnerte sie sich gewöhnlich an Anlässe, wo die vereinnahmende Umarmung von Kindermädchen oder Mutter unerwünscht war und sie sich gegen diese Beleidigung der eigenen Reife gesträubt hatte. Nun aber dachte sie an jene vergessenen und seltenen Male, wo sie sich aus Angst oder Kummer der Umarmung willig überlassen und Trost gefunden hatte. Getätschelt und liebkost zu werden widersprach ihrer ganzen Lebensauffassung; doch als sie wieder hinuntergingen, hatte sie Mrs. Dimble erzählt, dass sie kein Kind erwarte und nur ein wenig niedergeschlagen sei, weil sie zu viel allein war und einen Albtraum gehabt hatte.

Beim Essen sprach Professor Dimble über die Artussage. »Es ist wirklich wundervoll«, sagte er, »wie alles zusammenhängt, selbst in einer späten Version wie der von Malory. Haben Sie bemerkt, dass es zwei Gruppen von Charakteren gibt? Im Mittelpunkt stehen Ginevra und Lanzelot und all diese Leute: sehr höfisch und ohne spezifisch britische Züge. Aber im Hintergrund – auf Artus’ anderer Seite sozusagen – gibt es all diese dunklen Gestalten wie Morgane und Morgause, sehr britisch und mehr oder weniger feindselig, obgleich sie seine eigenen Verwandten sind. Voller Magie. Sicherlich erinnern Sie sich an die wundervolle Wendung, wie die Königin Morgane ›mit ihren Zauberinnen das ganze Land in Brand setzte‹. Auch Merlin ist natürlich britisch, allerdings nicht feindselig. Sieht das nicht ganz nach einem Bild Britanniens aus, wie es kurz vor der Invasion gewesen sein muss?«

»Wie meinen Sie das, Mr. Dimble?«, fragte Jane.

»Nun, muss nicht ein Teil der Gesellschaft entweder römisch oder weitgehend romanisiert gewesen sein? Leute, die sich in Togen hüllten und ein keltisiertes Latein sprachen – etwas, das für uns etwa wie Spanisch klingen würde? Und die natürlich Christen waren. Aber im Landesinnern, in den abgelegenen Gegenden tief in den Wäldern wird es kleine Königshöfe gegeben haben, regiert von echten alten britischen Stammeskönigen, die eine Art Walisisch sprachen und sicherlich noch weitgehend dem alten Druidenglauben anhingen.«

»Und zu welcher Gruppe würde Artus selbst gehört haben?«, fragte Jane. Es war albern, dass ihr Herz bei den Worten »wie Spanisch« einen Schlag lang ausgesetzt hatte.

»Das ist der springende Punkt«, sagte Professor Dimble. »Man kann sich ihn als einen altbritischen Stammeskönig vorstellen, aber auch als einen christlichen und in römischer Kriegstechnik ausgebildeten Feldherrn, der diese ganze Gesellschaft zusammenzuhalten versucht, was ihm beinahe gelingt. Nun, aufseiten seiner eigenen britischen Sippe wird es Missgunst gegeben haben, und die romanisierte Schicht, die Lanzelots und Lyoneis sahen sicher auf die Briten herab. Das würde erklären, warum Key immer als ein grober, bäurischer Mensch dargestellt wird: er gehört dem bodenständigen Element an. Und immer diese unterschwellige Strömung, dieser Zug zurück zum Druidenglauben.«

»Und welchen Platz würde Merlin einnehmen?«

»Ja … er ist die eigentlich interessante Gestalt. Ist alles gescheitert, weil er so früh gestorben ist? Haben Sie sich einmal überlegt, was für ein seltsames Geschöpf Merlin ist? Er ist nicht böse, aber er ist ein Zauberer. Er ist offensichtlich ein Druide, dennoch weiß er alles über den Gral. Er ist ›des Teufels Sohn‹, aber Layamon macht sich die Mühe zu erklären, dass das Wesen, das Merlin gezeugt hat, nicht unbedingt böse gewesen sein muss. Bedenken Sie: ›Im Himmel wohnen Geschöpfe mancherlei Art. Einige sind gut, und andere tun Böses.‹«

»Ja, das ist ziemlich sonderbar. Es war mir noch nie aufgefallen.«

»Ich frage mich oft«, sagte Dimble, »ob Merlin nicht die letzte Spur von etwas darstellt, das die spätere Tradition völlig vergessen hat – etwas, das unmöglich wurde, als die einzigen Leute, die mit dem Übernatürlichen in Berührung kamen, entweder weiß oder schwarz, entweder Priester oder Hexenmeister waren.«

»Was für ein schrecklicher Gedanke«, sagte Mrs. Dimble, die bemerkt hatte, dass Jane nachdenklich schien. »Wie auch immer, Merlin hat, wenn überhaupt, vor langer Zeit gelebt, und wie jeder von uns weiß, ist er unwiderruflich tot und liegt unter dem Bragdon-Wald begraben.«

»Begraben ja, aber der Legende zufolge nicht tot«, verbesserte Professor Dimble.

 

»Oh!«, sagte Jane unwillkürlich, aber Professor Dimble dachte laut weiter.

»Ich frage mich, was sie wohl finden, wenn sie dort für die Fundamente ihres Instituts die Erde ausheben«, sagte er.

»Zuerst Lehm und dann Wasser«, sagte Mrs. Dimble. »Deshalb können sie dort eigentlich gar nicht bauen.«

»Sollte man meinen«, sagte ihr Mann. »Aber warum kommen sie überhaupt hierher? Ein Cockney wie Jules wird sich kaum von der poetischen Einbildung leiten lassen, Merlins Mantel habe sich um seine Schultern gelegt.«

»Was denn!«, sagte Mrs. Dimble. »Merlins Mantel!«

»Ja«, sagte der Professor. »Es ist eine Schnapsidee. Sicherlich würden manche von seinen Freunden den Umhang gern finden. Ob sie aber auch groß genug sind, ihn auszufüllen, ist eine andere Sache! Es würde ihnen wohl kaum gefallen, wenn mit dem Mantel auch der Alte selbst wieder lebendig würde.«

»Sie wird ohnmächtig!« sagte Mrs. Dimble plötzlich und sprang auf.

»Nanu, was ist mit Ihnen?«, fragte Professor Dimble und blickte verwundert in Janes blasses Gesicht. »Ist es Ihnen hier zu heiß?«

»Ach, es ist einfach lächerlich«, sagte Jane.

»Kommen Sie, wir gehen ins Wohnzimmer«, sagte der Professor. »Hier, stützen Sie sich auf meinen Arm.«

Kurz darauf saß Jane an einem Wohnzimmerfenster, das auf den mit leuchtend gelben Blättern übersäten Rasen hinausging, und versuchte ihr sonderbares Benehmen zu erklären, indem sie ihren Traum schilderte. »Wahrscheinlich habe ich mich schrecklich blamiert«, sagte sie abschließend. »Jetzt können Sie beide sich als Psychoanalytiker versuchen.«

In der Tat hätte Jane Professor Dimbles Gesicht ansehen können, dass Janes Traum ihn sehr schockiert hatte. »Höchst ungewöhnlich … höchst ungewöhnlich«, murmelte er immer wieder. »Zwei Köpfe. Und einer davon Alcasans. Könnte das eine falsche Fährte sein?« »Lass doch, Cecil«, sagte Mrs. Dimble.

»Meinen Sie, ich sollte mich analysieren lassen?«, sagte Jane.

»Analysieren?«, erwiderte Professor Dimble und blickte sie an, als habe er nicht ganz verstanden. »Oh, ich verstehe. Sie meinen, ob Sie zu Brizeacre oder so jemandem gehen sollen?« Jane merkte, dass ihre Frage ihn von einem völlig anderen Gedankengang abgebracht hatte, und es berührte sie ein wenig seltsam, dass das Problem ihrer eigenen Gesundheit ganz beiseite geschoben worden war. Die Darstellung ihres Traums hatte irgendein anderes Problem in den Vordergrund gerückt, aber sie hatte keine Ahnung, welcher Art dieses Problem war.

Professor Dimble blickte aus dem Fenster. »Da kommt mein dümmster Student«, sagte er. »Ich muss ins Arbeitszimmer und mir einen Aufsatz über Swift anhören, der mit den Worten beginnt ›Swift wurde geboren …‹ Und ich muss versuchen, bei der Sache zu bleiben; das wird nicht einfach sein.« Er stand auf, legte die Hand auf Janes Schulter und blieb einen Augenblick so stehen. »Wissen Sie«, sagte er, »ich möchte Ihnen keinen Rat geben. Sollten Sie sich aber entschließen, wegen dieses Traums jemanden aufzusuchen, so möchte ich Sie bitten, zuerst zu jemandem zu gehen, dessen Adresse Margaret oder ich Ihnen geben werden.«

»Sie halten nichts von Mr. Brizeacre?«, fragte Jane.

»Ich kann es nicht erklären«, antwortete Dimble. »Nicht jetzt. Es ist alles so kompliziert. Versuchen Sie, nicht darüber nachzudenken. Aber wenn Sie etwas unternehmen, lassen Sie es uns vorher wissen. Auf Wiedersehn.«

Kaum war er gegangen, kamen andere Besucher, sodass Jane und ihre Gastgeberin keine Gelegenheit mehr hatten, sich ungestört zu unterhalten. Etwa eine halbe Stunde später verließ Jane die Dimbles und ging nach Hause, nicht die Pappelallee entlang, sondern auf dem Fußweg über die Gemeindewiesen, vorbei an Eseln und Gänsen, mit den Türmen von Edgestow zur Linken und der alten Windmühle am Horizont zu ihrer Rechten.

2 Abendessen beim Vizerektor

So ein Mist!«, sagte Curry. Er stand vor dem Kamin in seinen prachtvollen Räumen am Newton-Hof. Er hatte die beste Wohnung im College.

»Etwas von N. O.?«, fragte James Busby. Er, Lord Feverstone und Mark tranken vor dem Abendessen bei Curry miteinander Sherry. N. O. stand für »Non Olet« und war der Spitzname des Rektors von Bracton, Charles Place. Seine Wahl auf diesen Posten, die schon etwa fünfzehn Jahre zurücklag, war einer der frühesten Triumphe des Progressiven Elementes gewesen. Mit dem Argument, das College brauche ›frisches Blut‹ und müsse die ›eingefahrenen akademischen Gleise‹ verlassen, war es ihnen gelungen, einen älteren Verwaltungsbeamten an die Spitze zu bringen, einen Mann, der sich gewiss von keiner akademischen Strömung hatte mitreißen lassen, seit er – noch im vorigen Jahrhundert – sein ziemlich obskures College an der Universität Cambridge absolviert hatte, der jedoch einen monumentalen Untersuchungsbericht über das staatliche Gesundheitswesen verfasst hatte. Das hatte ihn den Fortschrittlichen Kräften sogar eher empfohlen. Sie sahen darin einen Schlag ins Gesicht der Konservativen und Ästheten, die sich revanchierten, indem sie ihren neuen Rektor »Non Olet« tauften. Aber nach und nach hatten auch Places Anhänger den Spitznamen übernommen. Denn Place hatte ihre Erwartungen nicht erfüllt und sich als ein Eigenbrötler mit Hang zur Philatelie erwiesen, dessen Stimme man so selten hörte, dass einige der jüngeren Kollegen nicht wussten, wie sie klang.

»Ja, der Henker soll ihn holen«, sagte Curry. »Will mich gleich nach dem Abendessen in einer äußerst wichtigen Angelegenheit sprechen.«

»Das bedeutet«, sagte der Schatzmeister, »dass Jewel und Co. bei ihm gewesen sind und nach Möglichkeiten suchen, die ganze Sache rückgängig zu machen.«

»Das kümmert mich verdammt wenig«, erklärte Curry. »Wie kann man einen Mehrheitsbeschluss rückgängig machen? Nein, das ist es nicht. Aber es reicht aus, einem den ganzen Abend zu verderben.«

»Nur Ihren Abend«, erwiderte Feverstone. »Vergessen Sie nicht, uns Ihren speziellen Kognak herauszustellen, bevor Sie gehen.«

»Jewel! Lieber Himmel!«, sagte Busby und vergrub die linke Hand in seinem Bart.

»Eigentlich hat mir der alte Jewel Leid getan«, sagte Mark. Er hatte ganz unterschiedliche Beweggründe für diese Bemerkung. Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass die völlig unerwartete und offensichtlich unnötige Brutalität, mit der Feverstone dem alten Mann begegnet war, ihn abgestoßen hatte. Außerdem verdross ihn die Vorstellung, seinen Lehrstuhl Feverstones Fürsprache zu verdanken und in seiner Schuld zu stehen. Wer war dieser Feverstone? Er meinte, es sei Zeit, seine Unabhängigkeit herauszustellen und zu zeigen, dass seine Zustimmung zu den Methoden des Progressiven Elements nicht als selbstverständlich angesehen werden konnte. Ein gewisses Maß an Unabhängigkeit würde ihm sogar innerhalb dieses Elements zu einer höheren Position verhelfen. Wäre der Gedanke, Feverstone werde eine umso höhere Meinung von ihm haben, wenn er ein wenig die Zähne zeige, ihm in dieser Deutlichkeit gekommen, hätte er ihn wohl als unterwürfig abgetan; aber das war nicht der Fall.

»Mitleid mit Jewel?«, fragte Curry und wandte sich um. »Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie wüssten, wie er in seiner Glanzzeit war.«

»Ich stimme Ihnen zu«, sagte Feverstone zu Mark, »aber ich halte es mit Clausewitz. Auf lange Sicht ist der totale Krieg am menschlichsten. Ich habe ihn sofort zum Schweigen gebracht. Wenn er den Schock überwunden hat, wird er seine Freude an der Sache haben, denn ich habe ihn in all dem bestätigt, was er seit vierzig Jahren über die jüngere Generation sagt. Welche Alternative hätten wir denn gehabt? Ihn weiterfaseln zu lassen, bis er sich in einen Hustenanfall oder gar in einen Herzinfarkt hineingesteigert hätte, und ihm dazu noch die Enttäuschung einer höflichen Behandlung zu bereiten.«

»So kann man es natürlich auch sehen«, sagte Mark.

»Verdammt noch mal«, fuhr Feverstone fort, »niemand lässt sich gern sein Kapital nehmen. Was würde der arme Curry hier tun, wenn die Reaktionäre eines Tages aufhörten, reaktionär zu sein? Othello hätte nichts mehr zu tun.«

»Es ist angerichtet, Sir«, sagte Currys ›Schütze‹ – wie man in Bracton die Collegediener nannte.

»Das ist alles Unfug, Dick«, sagte Curry, als sie sich zu Tisch setzten. »Nichts wäre mir lieber, als all diese Reaktionäre und Obstruktionisten loszuwerden und mit der Arbeit voranzukommen. Sie glauben doch nicht etwa, dass es mir Spaß macht, meine ganze Zeit bloß darauf zu verwenden, den Weg freizumachen?« Mark merkte, dass sein Gastgeber über Lord Feverstones Spöttelei ein wenig verärgert war. Letzterer hatte ein männliches und sehr ansteckendes Lachen. Mark fand ihn allmählich sympathisch.

»Und die Arbeit wäre …?«, fragte Feverstone. Ohne Mark direkt anzusehen oder ihm gar zuzuzwinkern, bezog er ihn irgendwie in den Scherz mit ein.

»Nun, manche von uns haben auch noch eine eigene Arbeit«, erwiderte Curry und senkte seine Stimme, um ihr einen ernsteren Ton zu verleihen – etwa so wie manche Menschen ihre Stimmen senken, wenn sie von medizinischen oder religiösen Dingen sprechen.

»Ich wusste nicht, dass Sie so einer sind«, sagte Feverstone.

»Das ist das Schlimme an der Sache«, erwiderte Curry. »Entweder gibt man sich damit zufrieden, dass alles vor die Hunde geht – ich meine: stagniert –, oder man opfert die eigene wissenschaftliche Karriere dieser verfluchten Collegepolitik. Eines Tages werde ich den ganzen Krempel hinwer-fen und mich an mein Buch machen. Das Material habe ich alles beisammen, wissen Sie. Eine lange und ungestörte Ferienzeit, und ich glaube, ich könnte wirklich etwas daraus machen.«

Mark, der Curry noch nie in Bedrängnis gesehen hatte, begann, sich zu amüsieren.

»Verstehe«, sagte Feverstone. »Um den Betrieb des Colleges als Bildungsstätte aufrechtzuerhalten, müssen die besten Köpfe jede Beschäftigung mit ihrem eigenen Fach aufgeben.«

»Genau!«, sagte Curry. »Das ist…« Dann brach er ab, unsicher, ob er nun ernst genommen wurde oder nicht. Feverstone lachte laut los. Der Schatzmeister, der sich bisher ausschließlich dem Essen gewidmet hatte, wischte sich sorgfältig den Bart und ergriff das Wort.

»In der Theorie klingt das alles schön und gut«, sagte er, »aber ich glaube, Curry hat ganz Recht. Angenommen, er gäbe sein Amt als Vizerektor auf und zöge sich in seine Studierstube zurück. Er wäre im Stande, uns mit einem verteufelt guten Buch über Volkswirtschaft zu überraschen …«

»Volkswirtschaft?«, fragte Feverstone mit hochgezogenen Brauen.

»Ich bin zufällig Militärhistoriker, James«, sagte Curry. Er ärgerte sich häufig darüber, dass seine Kollegen anscheinend immer Schwierigkeiten hatten zu behalten, in welchem Fachgebiet er eigentlich arbeitete.

»Ich meine natürlich Militärgeschichte«, sagte Busby. »Aber wie gesagt: er wäre im Stande, uns mit einem verteufelt guten Buch über Militärgeschichte zu überraschen. Das wäre in zwanzig Jahren allerdings überholt. Dagegen wird das College für Jahrhunderte von der Arbeit profitieren, die er jetzt tut. Diese ganze Mühe, das N.I.C.E. nach Edgestow zu holen. Was ist damit, Feverstone? Ich spreche nicht nur von der finanziellen Seite, obwohl ich sie als Quästor natürlich für sehr wichtig halte. Aber denken Sie an das neue Leben, die neuen Perspektiven, die Impulse, die von so etwas ausgehen. Was würde irgendein Buch über Volkswirtschaft …«

»Militärgeschichte«, sagte Feverstone sanft, doch diesmal hörte Busby ihn nicht.

»Was würde irgendein Buch über Volkswirtschaft bewirken, verglichen mit einer solchen Sache?«, fuhr er fort. »Ich betrachte sie als den bisher größten Triumph des angewandten Idealismus in diesem Jahrhundert.«

Der gute Wein tat langsam seine Wirkung. Wir alle kennen die Art von Geistlichen, die nach dem dritten Glas dazu neigen, ihre Amtswürde zu vergessen. Bei Busby war es umgekehrt; nach dem dritten Glas begann er sich seiner geistlichen Würde zu entsinnen. Als Wein und Kerzenlicht seine Zunge lösten, gab der nach dreißig Jahren Abtrünnigkeit noch immer latent in ihm vorhandene Pfarrer seltsame Lebenszeichen von sich.

»Wie Sie wissen«, sagte er, »bin ich keineswegs strenggläubig. Aber ich würde, ohne zu zögern, sagen, dass Curry dadurch, dass er das Institut nach Edgestow gebracht hat, für die Religion in einem weiteren Sinne mehr getan hat als ein Theologe wie Jewel in seinem ganzen Leben.«

»Nun«, erwiderte Curry bescheiden, »das ist natürlich, was man sich erhofft. Ich würde es vielleicht nicht so ausdrücken wie Sie, James …«

 

»Nein, nein«, sagte der Schatzmeister. »Natürlich nicht. Jeder hat seine eigene Sprache, aber wir meinen wirklich alle das Gleiche.«

»Hat eigentlich schon jemand herausgefunden«, fragte Feverstone, »was das N.I.C.E. eigentlich ist und was es tun will?«

Curry sah ihn überrascht an. »Aus Ihrem Mund, Dick, klingt das merkwürdig«, sagte er. »Ich dachte, Sie gehören selbst dazu.«

»Ist es nicht ein wenig naiv«, sagte Feverstone, »anzunehmen, dass man, wenn man irgendwo dazugehört, auch das offizielle Programm genau kennt?«

»Na schön, wenn Sie Einzelheiten meinen«, sagte Curry und brach dann ab.

»Sie machen ein großes Geheimnis um nichts, Feverstone«, sagte Busby. »Ich dachte, die Zielsetzungen des N.I.C.E. wären völlig klar. Es ist der erste Versuch, die angewandte Wissenschaft auf nationaler Ebene ernst zu nehmen. Der Größenunterschied zwischen dem geplanten Institut und allem, was wir bisher hatten, ist beinahe schon ein qualitativer Unterschied. Allein die Gebäude, allein der Apparat – bedenken Sie, was das für die Industrie bedeutet. Bedenken Sie, in welchem Umfang es die Talente des Landes mobilisieren wird; und nicht nur die wissenschaftlichen Talente im engeren Sinn. Fünfzehn Abteilungsdirektoren, jeder mit einem Jahresgehalt von fünfzehntausend Pfund! Eine eigene Rechtsabteilung, eine eigene Polizei, wie ich höre! Ein eigener ständiger Stab von Architekten, Sachverständigen und Ingenieuren! Die Sache ist kolossal!«

»Karrieren für unsere Söhne«, sagte Feverstone. »Ich verstehe.«

»Was wollen Sie damit sagen, Lord Feverstone?«, fragte Busby und setzte sein Glas ab.

»Ach Gott!«, sagte Feverstone, und seine Augen lachten. »Wie taktlos von mir. Ich hatte ganz vergessen, dass Sie Familie haben, James.«

»Ich stimme James zu«, sagte Curry, der ungeduldig auf eine Gelegenheit gewartet hatte, wieder das Wort zu ergreifen. »Das Institut steht für den Beginn eines neuen Zeitalters – des wirklich wissenschaftlichen Zeitalters. Bisher war alles mehr oder weniger zufällig. Von nun an wird die Wissenschaft selbst auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt. Es wird vierzig ständige Ausschüsse geben, die jeden Tag zusammentreten und über ein großartiges Gerät verfügen – das Modell habe ich gesehen, als ich das letzte Mal in der Stadt war. Es ist ein Gerät, das die Arbeitsergebnisse eines jeden Ausschusses fortlaufend und selbsttätig auf eine analytische Anzeigetafel projiziert. Jeder einlaufende Bericht stellt sich selbst in seinen sachlichen Zusammenhang und weist durch kleine Pfeile auf die entsprechenden Teile der anderen Berichte hin. Ein Blick auf die Tafel, und die Arbeit des gesamten Instituts nimmt vor unseren Augen Gestalt an. Im obersten Geschoss wird ein Stab von mindestens zwanzig Fachleuten an der Anzeigetafel arbeiten – in einem Raum etwa wie die Kontrollräume der Untergrundbahn. Es ist ein großartiges Gerät. Jeder Arbeitsbereich erscheint in einer anderen farbigen Leuchtschrift. Das Gerät muss eine halbe Million gekostet haben. Sie nennen es ein Pragmatometer.«

»Und daran können Sie sehen«, sagte Busby, »was das Institut bereits für das Land tut. Die Pragmatometrie wird eine große Zukunft haben. Hunderte von Leuten spezialisieren sich darauf. Wahrscheinlich wird diese analytische Anzeigetafel schon veraltet sein, bevor das Gebäude überhaupt fertig ist!«

»Ja, bei Gott«, sagte Feverstone. »Und N. O. selbst hat mir heute Morgen erzählt, dass die sanitären Einrichtungen des Institutsgebäudes ganz außergewöhnlich sein würden.«

»Das stimmt«, sagte Busby mit Nachdruck. »Ich sehe nicht, warum man das für unwichtig halten sollte.«

»Und was halten Sie davon, Studdock?«, fragte Feverstone.

»Ich denke«, sagte Mark, »James hat bereits den wichtigsten Punkt erwähnt, dass nämlich das Institut seine eigene Rechtsabteilung und seine eigene Polizei haben wird. Ich gebe keinen Pfifferling auf Pragmatometer und Luxustoiletten. Das Wesentliche ist, dass wir diesmal wissenschaftlich an die großen sozialen Aufgaben herangehen und dabei von der ganzen Macht des Staates unterstützt werden, ebenso wie in der Vergangenheit Kriege von der ganzen Macht des Staates unterstützt wurden. Es ist natürlich zu hoffen, dass man mit diesen Mitteln weiter kommt als die alte ungebundene Wissenschaft. Auf jeden Fall wird es mehr Möglichkeiten geben.«

»Verdammt«, sagte Curry mit einem Blick auf seine Uhr. »Ich muss jetzt gehen und mit N. O. reden. Wenn Sie nach dem Wein noch Kognak möchten, die Flasche steht in diesem Schrank. Schwenker sind in dem Fach darüber. Ich werde so bald wie möglich zurückkommen. Sie wollen doch nicht schon gehen, James?«

»Doch«, erwiderte der Quästor. »Ich will früh zu Bett. Aber lasst ihr beiden euch nicht stören. Ich bin schon den ganzen Tag auf den Beinen, müssen Sie wissen. Wer an diesem College ein Amt bekleidet, ist ein Dummkopf. Ständige Sorgen. Erdrückende Verantwortung. Und dann gibt es Leute, die einem erzählen wollen, dass all die kleinen Bücherwürmer, die ihre Nasen bloß in die Bibliotheken und Labors stecken, die eigentliche Arbeit tun! Ich wüsste gern, wie Glossop und seine Freunde ein Tagespensum bewältigen würden, wie ich es heute hinter mir habe. Auch Sie, Curry, hätten ein leichteres Leben, wenn Sie bei der Volkswirtschaft geblieben wären.«

»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt …«, begann Curry, doch der Schatzmeister hatte sich bereits erhoben, beugte sich über Lord Feverstone und erzählte ihm irgendeine lustige Anekdote.

Als die beiden Männer den Raum verlassen hatten, sah Lord Feverstone Mark einige Sekunden lang mit einem rätselhaften Ausdruck an. Dann schmunzelte er, und aus dem Schmunzeln wurde ein Lachen. Er warf seinen schlanken, kräftigen Körper in den Sessel zurück und lachte lauter und immer lauter. Sein Lachen war sehr ansteckend, und auch Mark lachte unwillkürlich – ganz aufrichtig und sogar hilflos, wie ein Kind. »Pragmatometer – Luxustoiletten – angewandter Idealismus!«, keuchte Feverstone. Außerordentliche Erleichterung überkam Mark. Alle möglichen Eigenheiten an Curry und Busby, die er in seiner Ehrfurcht vor dem Progressiven Element zuvor gar nicht oder nur flüchtig wahrgenommen hatte, fielen ihm jetzt ein. Er fragte sich, wie er die komischen Seiten an ihnen nicht hatte sehen können.

»Es ist wirklich ziemlich verheerend«, sagte Feverstone, als er sich halbwegs erholt hatte, »dass die Leute, auf die man zur Erledigung der Arbeit angewiesen ist, solchen Blödsinn reden, sobald man sie über die Arbeit selbst ausfragt.«

»Und doch sind sie in gewisser Weise das Hirn von Bracton«, sagte Mark.

»Großer Gott, nein! Glossop und Bill der Blizzard und selbst der alte Jewel sind zehnmal klüger.«

»Ich wusste nicht, dass Sie das so sehen.«

»Ich denke, dass Glossop und seine Freunde im Irrtum sind. Ich halte ihre Vorstellungen von Kultur und Wissen und so weiter für unrealistisch. Sie passen nicht mehr in die Welt, in der wir leben. Es sind reine Hirngespinste. Aber es sind immerhin klare Vorstellungen, und sie versuchen, konsequent danach zu handeln. Sie wissen, was sie wollen. Unsere beiden armen Freunde dagegen kann man zwar überreden, den richtigen Zug zu nehmen und ihn sogar zu lenken, doch sie haben nicht die leiseste Ahnung, wohin der Zug fährt oder warum. Sie werden Blut und Wasser schwitzen, um das N.I.C.E. nach Edgestow zu holen: darum sind sie unentbehrlich. Aber worum es dem Institut geht, worum es bei irgendetwas geht – fragen Sie sie besser nicht danach. Pragmatometrie! Fünfzehn Abteilungsdirektoren!«

»Nun, vielleicht bin ich genauso.«

»Ganz und gar nicht. Sie haben den entscheidenden Punkt sofort erkannt. Ich hatte es auch nicht anders von Ihnen erwartet. Ich habe alles gelesen, was Sie seit Ihrer Bewerbung um den Lehrstuhl hier geschrieben haben. Darüber wollte ich mit Ihnen reden.«