Seewölfe Paket 8

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2.

Alvaro Monforte, der Kapitän der portugiesischen Kriegsgaleone „Sao Sirio“, hatte allen Grund, auf die Seefahrt, auf den Sturm und auf Lucio do Velho zu fluchen und den Auftrag, der ihn und seine Männer hierher geführt hatte, bis in die tiefsten Schlünde der Hölle zu verdammen.

Das Flaggschiff „Candia“ war seit einer halben Stunde nicht mehr zu sehen. Und die Galeone „Sao Joao“, die Karavellen „Extremadura“ und „Santa Angela“? Auch über ihr Schicksal war Monforte nichts bekannt, denn er hatte auch sie längst aus den Augen verloren.

Unaufhaltsam strebte die „Sao Sirio“ der portugiesischen Küste entgegen. Monforte hatte natürlich Sturmsegel setzen lassen, aber es gelang ihm nicht, den Nordkurs zu halten. Zu heftig orgelte der Westsüdwest-Wind.

Die „Sao Sirio“ taumelte als Nachzügler des Verbandes in den Wogen des Atlantiks allein, den Naturgewalten ausgeliefert.

Monforte wünschte dem Kommandanten Lucio do Velho die Pest an den Hals, denn seiner Meinung nach verhielt sich der Mann geradezu unmenschlich. Rechtzeitig beim Schlechterwerden des Wetters hätte der Comandante sich darum bemühen müssen, einen geschützten Platz an der Küste anzulaufen. Es war verantwortungslos, einen ganzen Verband dem Sturm preiszugeben.

Aber so war es immer gewesen, wenn do Velho Jagd auf den Seewolf gemacht hatte. Ohne Rücksicht auf Mann und Material ging er vor, und damit handelte er sich den Haß seiner Untergebenen ein. In der Tat war er der starrsinnigste, skrupelloseste Geschwaderführer, den die Armada je gesehen hatte. Bis zur Meuterei hatte do Velho seine Männer getrieben, ohne jedoch seine Fehler einzusehen. Der einzige Mann, der in unerklärlicher Treue und Ergebenheit zu ihm hielt, war Ignazio, der Bootsmann der „Candia“.

„Senor!“ rief der erste Offizier der „Sao Sirio“ von der Kuhl zum Achterdeck hinauf. „Der Fockmast hat eine Bruchstelle. Wir wissen nicht, wie lange er noch hält!“

„Bis zur Küste ist es nicht mehr weit!“ schrie Alvaro Monforte zurück. „Solange müssen wir durchhalten, um jeden Preis! Wir suchen einen geschützten Ankerplatz und warten das Ende des Sturms ab!“

Der Erste blickte ihn sekundenlang schweigend an.

„Sagen Sie das den Männern“, befahl Monforte gereizt.

„Si, Senor.“

Der Erste verschwand in den Gischt- und Regenschleiern, die die Kuhl überzogen. Er wußte so gut wie sein Kapitän, daß sie es nicht schaffen würden, irgendwo vor Anker zu gehen. Bei jedem Versuch, sich vor den weiteren Entwicklungen des Sturmes zu schützen, mußten sie mit ihrem Schiff an der Küste zerschellen, von der sie wußten, daß sie in dieser Gegend steil und felsig war.

Aber es war gut, sich an seine Hoffnung zu klammern. So vermessen es auch war, an einen glücklichen Ausgang des Abenteuers zu denken – die Männer der „Sao Sirio“ hielten mit aller Macht daran fest.

Ein neuer Brecher tobte über die Decks des Schiffes. Alvaro Monforte mußte seinen Platz auf dem Achterdeck räumen, wenn er nicht außenbords gespült werden wollte. In den Manntauen hangelte er auf die Kuhl hinunter und verständigte sich mit seinen Seeleuten und Soldaten, die in ungewohnter Einigkeit darum kämpften, die Masten und Rahen, das laufende und stehende Gut vor den Hieben des Wetters zu retten.

Monforte arbeitete sich mit seinem ersten Offizier, dem Schiffszimmermann und zwei Helfern bis zur Back vor. Sie versuchten, den Fockmast durch zusätzliche Laschungen zu sichern. Der Zimmermann klomm in den Luvwanten des Fockmastes hoch, um eine der Laschungen anzubringen.

Wild tanzte das Schiff in den Wogen. Es heulte und pfiff, knarrte und dröhnte, und das Rufen der Besatzung ging in dieser immer lauter werdenden Höllenmusik unter.

Längst hatte der Ausguck der „Sao Sirio“ auf Monfortes Befehl hin den Großmars geräumt. Aber er hätte die geschützt liegende Felsenbucht an der nahen Küste auch dann nicht erkannt, wenn er sich noch auf seinem Posten befunden hätte. Zu dunkel war es geworden. Die Portugiesen konnten auf diese knappe Distanz nicht einmal die drohend aufragenden Klippfelsen sehen.

Plötzlich brach der Fockmast.

Mit ihm gingen auch die Wanten, die Pardunen, Schotten, Brassen und Fallen außenbords. In den Webeleinen der Luvwanten hing der Schiffszimmermann. Sein Gesicht war in Todesangst verzerrt, er versuchte, sich zu retten, indem er bis auf die Rüsten der Backbordseite hinabgelangte, doch es mißlang.

Ein einziger Aufschrei gellte über Deck, als der Zimmermann in den Fluten versank. Er tauchte nicht wieder auf. Alle hatten sein Ende mitverfolgt, und die Furcht vor einem ähnlich schrecklichen Tod wuchs ins Uferlose.

Monforte wußte, daß er die Panik nicht mehr bremsen konnte, wenn er nicht eisern blieb. Mit barscher Stimme erteilte er seine Befehle. Die Männer kappten das laufende und stehende Gut des Fockmastes und hieben schließlich mit Äxten auf den Stumpf ein, an dem er noch hing. Zu sehr krängte die „Sao Sirio“ jetzt nach Steuerbord, sie drohte wegen der Last des zerstörten Mastes querzuschlagen.

Wütend hackten die Männer auf das splitternde Holz ein. Der Fockmast war ihr Feind geworden, er führte ihren Untergang herbei. Je rascher sie sich seiner entledigten, desto größer wurde die Chance, das Unglück weiter hinauszuzögern.

Wie lange dauerte es aber noch, bis der Sturm sie endgültig vernichtete? Keiner dachte darüber nach, keiner äußerte die gräßliche Ahnung, die sie alle gepackt hatte.

Der Fockmast lag frei. Er löste sich von Bord der Galeone, rutschte ganz in die aufgewühlte See und war wenig später samt seiner Rahen und seinem übrigen Beiwerk in den Fluten untergetaucht.

Die Galeone richtete sich wieder ein wenig auf. Ein erlöster Ausdruck stand auf den Gesichtern der Männer zu lesen – jedoch nur für kurze Zeit.

Es war noch nicht vorbei. Das Inferno stand ihnen noch bevor. Fast zielstrebig jagte die „Sao Sirio“ auf ihr Verhängnis zu. Sie schien die Nähe der gefährlichen Unterwasserfelsen zu suchen, und doch, es war ein furchtbarer Zufall, daß das Schiff ausgerechnet in Richtung des Riffs gedrückt wurde.

Von der Existenz des Riffs erfuhren die Portugiesen erst, als sich das Schicksal nicht mehr abwenden ließ. Giganten und Dämonen der Tiefsee schienen jäh mit riesigen Hämmern auf den Kriegssegler einzuschlagen, so hörte es sich an. Da war ein Dröhnen und Krachen, das alles andere übertönte, und ein gewaltiger Ruck lief durch das ganze Schiff. Monforte spürte, wie seine Galeone hochgehoben wurde, und er wußte sofort, was das zu bedeuten hatte.

Dann schrie es auch der erste Offizier: „Wir laufen auf!“

Niemand konnte sich auf den Beinen halten. Alle fielen, als die „Sao Sirio“ ihren Rumpf auf das schartige Riff setzte, die Felsen die Planken wie lächerliches Weichholz knackten und Wasser rauschend durch die Lecks eindrang.

Das Schiff krängte mehr und mehr. Alvaro Monforte sah Männer über das Deck schießen und hörte sie brüllen, als sie im Strudel der Fluten übers Schanzkleid glitten und in der See verschwanden. Er klammerte sich an einem Manntau fest, schloß die Augen in ohnmächtigem Entsetzen und flüsterte: „Ave Maria, heilige Mutter Gottes, barmherzige Jungfrau Maria, steh uns bei.“

Urmächte richteten sich zu allen Seiten der Galeone auf, Klauen der Finsternis schienen sich nach den Männern auszustrecken. Die „Sao Sirio“ brach auf dem, Riff auseinander, neue Schläge trafen sie. Seeleute, Soldaten und Offiziere wurden wild durcheinandergewirbelt.

„Die Beiboote abfieren!“ rief der Kapitän noch. Aber er selbst war sich im klaren darüber, wie unsinnig diese Order war. Auch die Boote zerschellten. Alles ging im Brüllen und Tosen des Sturmes unter.

Die Männer bekreuzigten sich und bekannten ihre Sünden, flehten um Gnade und Erbarmen. Einige sprangen freiwillig ins Wasser, denn die „Sao Sirio“ war jetzt eine tödliche Falle, die jeden Augenblick alle noch Lebenden unter ihren Trümmern begraben konnte.

Monforte stieß sich den Hinterkopf an einem über Deck trudelnden Balken des zerfetzten Schanzkleides. Es dröhnte in seinem Schädel, fast schwanden ihm die Sinne. Er wußte nicht mehr, wo der erste Offizier war, wo die anderen Offiziere, wer noch lebte, wen es erwischt hatte – er sah nur eine düstere, wogende Masse aus Leibern vor sich. Er hörte das Geschrei und das Heulen aller Dämonen der Hölle, das Orgeln von Feuerstürmen. Und er glaubte, gleichzeitig bronzene Glocken tönen zu hören und die Apokalyptischen Reiter herangaloppieren zu sehen.

Alles brach in sich zusammen, alles versank in erlösender Finsternis.

Alvaro Monforte befand sich auf einer schwarzen Rutschbahn geradewegs in den Höllenschlund. Ein letzter Gedanke gab ihm ein, daß dieses Abtreten von der Weltbühne doch letztlich genauso war, wie er es sich in seinen finstersten Träumen immer vorgestellt hatte.

Monforte tauchte in das Fegefeuer ein, aber es war erstaunlicherweise nicht heiß, sondern kalt, ernüchternd. Er drehte sich um die Körperachse und arbeitete verzweifelt mit Händen und Füßen wie ein in den Fluß geworfener Hund. Etwas schnürte seine Kehle zu, etwas drückte heftig auf seine Brust, aber er hatte dann doch das Gefühl, Auftrieb zu haben und nach oben zu schießen.

Konturen glitten an ihm vorbei, er sah wieder, gewahrte Düsteres, Undefinierbares – Felsen? Wrackteile? Menschen?

Er geriet endlich mit dem Kopf über Wasser, schnappte japsend nach Luft und griff instinktiv nach dem ersten Gegenstand, der ihm zwischen die Finger geriet. Es war ein Stück Schiffsbalken, ein letztes trauriges Andenken der „Sao Sirio“. Monforte erschien der Balken in diesem Augenblick wie ein Geschenk des Himmels. Er klammerte sich daran fest, bewegte die Beine und trieb durch die Sturmsee.

 

Wohin? Er wußte es nicht.

Ein Kopf tauchte neben ihm aus dem Wasser auf. Monforte erkannte seinen ersten Offizier und streckte eine Hand nach ihm aus. Er packte den Haarschopf des Mannes und zerrte ihn zu sich heran. Mit letzter Kraft hielt sich auch der Erste an dem Schiffsbalken fest.

Zwischen Wogenhängen und brüllenden Schlünden schossen sie dahin und stammelten ihre Gebete.

„Es ist aus, Capitán!“ stieß der erste Offizier aus.

„Nein, Reto!“ Zum erstenmal nannte der Kapitän seinen Untergebenen bei dessen Vornamen. „Wir schaffen es! Wir schwimmen – bis zum Ufer!“

„Si, Senor.“

„Es kann nicht mehr weit sein.“

„Si, Senor. Ich glaube aber, die Entfernung ist immer noch groß genug!“ schrie Reto, der Erste, verzweifelt. „Wir saufen trotzdem ab.“

„Sind Sie wahnsinnig?“

„Ich sage nur, wie es ist!“

„Reißen Sie sich zusammen!“

„Jawohl, Kapitän“, würgte Reto hervor. „Ersaufen wir zusammen.“

„Land!“ schrie Monforte plötzlich. „Ich sehe es – das Land! Die Küste!“

„Strand“, stammelte Reto.

„Nein, es sind Felsen. Wir müssen aufpassen, daß wir nicht darauf zerschmettert werden.“

Alvaro Monforte blickte über die Schulter zurück und sah zu seinem Entsetzen einen riesigen Brecher, der grollend und gischtend auf sie zurollte. Zweifellos würde er sie hochheben und bis zu den Klippfelsen befördern – wenn er sie nicht schon auf halbem Weg ertränkte.

3.

Der Seewolf hatte an Land drei Doppelposten aufziehen lassen, die nach jeweils acht Glasen abgelöst wurden. Er wollte in jeder Hinsicht die Gewißheit haben, daß die Portugiesen oder die Spanier ihn nicht von Land her überraschen konnten. Nach dem Überfall auf Cadiz mußten die Dons geradezu versessen darauf sein, Drake und dessen Mitstreiter zu jagen. Und auch sonst war es klug, keine Vorsichtsmaßnahme auszulassen. Während ihrer Fahrten um den Erdball hatten die Seewölfe immer wieder erleben müssen, welch unglaubliche Überraschungen in unbekannten Gegenden auftreten konnten.

Matt Davies und Dan O’Flynn hatten freiwillig den ersten Doppelposten übernommen, der den nördlichen Bereich des Buchtufers kontrollierte. Sie hockten in einer Felsennische knapp unterhalb des höchsten Punktes der Klippen und unterhielten sich gedämpft, während die Brandung gegen die Küste donnerte und das Seewasser in der Bucht gischtete und rauschte.

Dan O’Flynn hob plötzlich den Kopf. „Matt, da war etwas.“

„Wie meinst du das? Kriegen wir jetzt etwa auch noch ein Gewitter aufs Haupt?“ fragte der Mann mit der Hakenhand verdutzt.

„Nein, glaube ich nicht. Ich habe ein Krachen gehört, als ob Holz zerbricht.“

„Was denn, mitten im Sturm?“

„Matt, wer gute Augen hat, hat auch gute Ohren.“

„Meistens ja, und es ist bekannt, daß deine fünf Sinne geschärft sind“, entgegnete Matt Davies. „Aber wie du diesen – diesen Laut durch dieses elende Getöse hindurch mitgekriegt haben willst, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel.“

„Und da war noch etwas anderes – ein Schrei.“

„Teufel, und das soll mir entgangen sein?“

„Matt“, sagte der junge O’Flynn. „Du warst eben doch wohl mehr auf unser Gespräch konzentriert.“

Der Hakenmann holte tief Luft. „Und ich sage, du täuschst dich, Dan. Weißt du was? Im Sturm glauben manche Leute, die Meersirenen singen und den Wassermann grölen zu hören – angefangen bei deinem Alten.“

„Jetzt hör aber auf“, entrüstete sich Dan.

Sie waren drauf und dran, sich in die Haare zu kriegen, aber Dan O’Flynn bog den Streit auf seine Art ab, indem er sagte: „Hör zu, Matt, ich steige jetzt kurz auf die Klippfelsen und sehe oben nach dem Rechten, klar?“

„Einverstanden. Du hast ja selber schuld, wenn du naß wirst.“

Dan beachtete Matts griesgrämige Miene nicht weiter. Er grinste sich eins, als er die Nische verlassen hatte und Matt ihn nicht mehr sehen konnte.

Beim Aufstieg in die höhergelegene Felsenregion mußte Dan darauf achtgeben, nicht auszurutschen und schneller auf den schmalen Streifen Kiesstrand zurückzukehren, der rund zwanzig Yards unter ihm lag, als ihm dies zu Fuß möglich gewesen wäre. Wind und Regen erschwerten das Klettern, der rauhe Untergrund war naß und glitschig.

Dans Haare waren durchnäßt, als er auf dem kleinen Plateau anlangte, das gleichsam einen natürlichen Aussichtspunkt auf den Klippfelsen darstellte. Matt und Dan hatten diesen Platz entdeckt, als sie das Terrain inspiziert hatten. Etwas später hatten sie sich dann in die trockene Nische zurückgezogen, von wo aus sie immer wieder Erkundungsgänge in die nähere Umgebung unternehmen wollten.

Dan richtete sich auf. Zu seinen Füßen erstreckte sich die Bucht, in der er mit Mühe die „Isabella VIII.“ liegen sehen konnte. Das Beiboot, mit dem Matt, er und die anderen Wachen auf dem Kiesstrand gelandet waren, war von hier aus schon nicht mehr zu erkennen.

Dan drehte sich im heulenden Wind und blickte nach Nordwesten auf die offene See hinaus. Er versuchte zu ergründen, welche Ursache die Geräusche gehabt haben mochten. Sie schienen aus jener Richtung herübergedrungen zu sein, aber er erspähte nichts. Eine Wand aus Gischt und Regen baute sich vor ihm auf.

Unvermittelt erstarrte seine Gestalt. Wieder hatte ihn etwas stutzig gemacht – ein Laut hinter seinem Rücken.

Das Zusammenschlagen zweier Steine mochte es gewesen sein, vielleicht durch den Sturmwind hervorgerufen. Aber Dan war auf der Hut. Plötzlich fuhr er herum. Er strauchelte fast, weil der Wind ihn aus dem Gleichgewicht warf, fing sich aber wieder und zog die Pistole aus dem Ledergurt seiner Hose.

Zwischen den Felsen, die etwas weiter landeinwärts lagen, erkannte er die Umrisse einer menschlichen Gestalt.

Nein, Matt Davies war das nicht, und auch keiner der anderen beiden Doppelposten, soviel war Dan sofort klar. Erstens kroch kein Seewolf einem Kameraden hinter dem Rücken herum, ohne sich zu erkennen zu geben. Und zweitens handelte es sich bei dieser Gestalt – Dan sah es ganz deutlich – um eine ausgesprochen schlanke, fast schmächtige Person.

Ähnlichkeit damit hätte allenfalls der Kutscher aufweisen können. Oder Bill, der Schiffsjunge. Aber die befanden sich an Bord der „Isabella“ und rührten sich garantiert nicht von dort fort.

Dan hob die Pistole und spannte den Hahn.

„Halt, stehenbleiben!“ rief er.

Die Gestalt war zwischen den Felsen verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Dan war nicht nur neugierig geworden, mit wem er es wohl zu tun haben konnte, er witterte jetzt auch Gefahr und nahm die Verfolgung auf. Mit einem Satz war er zwischen den Felsen, die das kleine Plateau säumten, und hetzte geduckt auf nassem Geröll dahin.

Er stolperte und fiel, hatte sich aber schnell wieder aufgerappelt. Fluchend hastete er weiter.

Mit einemmal hatte er die mysteriöse Gestalt wieder vor sich, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Schlagartig tauchte sie wieder hinter mächtigen Steinquadern unter. Da nutzte es nichts, daß er seine Aufforderung wiederholte, der Wind trug seine Worte fort und zerstreute sie, mit seinem Heulen schien er sich über den jungen Mann lustig zu machen.

Dan beschloß, dem Fremden einen Warnschuß über den Kopf zu jagen, sobald dieser sich wieder zeigte. Im Sturm konnte das Krachen nur ein paar Yards weit zu hören sein. Dan wollte ein gewisses Risiko, weiter im Landesinneren vernommen zu werden, eingehen. Hauptsache, er konnte diesen rätselhaften Beobachter einschüchtern und stoppen.

Doch es kam anders.

Die Bewegung über seinem Kopf registrierte er etwas zu spät. Von einem der Quader schwebte die Gestalt plötzlich auf ihn nieder, und ehe er die Pistole auf sie richten konnte, hatte sie ihn erreicht, warf ihn mit ihrem Gewicht nieder und begrub ihn unter sich.

Sie lagen auf dem Gestein ineinander verkeilt und balgten sich. Dan hatte die Pistole aus der Hand verloren. Er hätte sich für seinen Leichtsinn und für seine Unachtsamkeit selbst ohrfeigen können.

Durch den Regen, der in sein Gesicht prasselte, konnte er erkennen, daß sein Gegner ein Junge war. Vielleicht war er ein oder zwei Jahre älter als Bill, der Moses. Seine Züge waren jedoch erheblich weicher als die von Bill, der im Laufe der Zeit schon ein richtig harter Seemann geworden war.

Was, und von so einem Milchgesicht läßt du dich unterkriegen? schoß es dem jungen O’Flynn durch den Kopf. Er fühlte es heiß in sich aufsteigen, seine Ohren schienen plötzlich zu glühen. Er war in seiner Ehre berührt – das ließ er nicht auf sich sitzen.

Mit einem Ruck befreite er sich, als der Knabe ihm gerade einen Fausthieb verpassen wollte. Dan setzte nach, packte zu und erwischte die Handgelenke des Gegners. Er warf die schlanke Gestalt von sich ab, richtete sich halb auf und preßte den Gegner mit dem Rücken gegen die nächste Felswand, ehe dieser noch irgend etwas unternehmen konnte.

„So, jetzt ist das Spiel aus“, sagte Dan grimmig. „Hast du dir eingebildet, du könntest mich niederschlagen? Da mußt du früher aufstehen, Freundchen.“

Der Junge musterte ihn aus großen, dunklen Augen. Angst flackerte in diesen ausdrucksvollen Pupillen auf.

„Ich verstehe nicht“, antwortete er auf portugiesisch.

„Richtig, in meiner Wut habe ich englisch gesprochen“, sagte Dan nun auf spanisch. Portugiesisch konnte er nicht, zwischen beiden Sprachen bestanden doch ganz erhebliche Unterschiede. Er fixierte sein Gegenüber. „Kapierst du jetzt, was ich sage?“

„Sir. Du bist – ein Inglés?“

„Ire“, behauptete Dan der Vorsicht halber. Er konnte nicht wissen, was sich aus dieser Begegnung noch ergab, bestimmt war es besser, sich von vornherein nicht als Feind zu erkennen zu geben. Irland, auch ein erbitterter Gegner Englands, unterhielt beste Beziehungen zu dem Vereinigten Königreich Spanien-Portugal.

„Ich habe Angst vor dir“, sagte der Jüngling mit erstaunlich heller Stimme. Er sprach jetzt ein nicht akzentfreies Spanisch.“

„Warum hast du mich angegriffen?“ wollte Dan wissen.

„Ich dachte, du würdest auf mich schießen.“

„Du hättest dich von Anfang an anders verhalten können“, erwiderte Dan. „Warum hast du mich bespitzelt? Warum bist du davongelaufen? Ich mußte ja mißtrauisch werden. Was hast du hier überhaupt verloren, noch dazu bei einem solchen Wetter?“

„Es ist Zufall, daß ich hier bin.“

Dan lächelte spöttisch. „Hör mal, das mußt du jemandem erzählen, der sich die Hose mit der Kneifzange anzieht. Junge, ich glaube, ich nehme dich mit auf unser Schiff. Da kannst du unserem Kapitän deine Lügen auftischen.“

„Ich bin kein Junge …“

Was dann? wollte Dan O’Flynn aufgebracht fragen, aber er verkniff es sich, denn plötzlich war es ja offensichtlich. Mit einemmal fiel ihm auf, daß sich die Brustpartie des „Knaben“ erstaunlich hervorwölbte und daß „der Portugiese“ erheblich mehr Haar unter seiner Mütze tragen mußte, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.

Sie standen sich im Regen gegenüber, zwei triefend nasse Gestalten, und ihre Blicke verfingen sich ineinander.

Dan räusperte sich, dann meinte er: „Das wird ja immer schöner. Was hat denn ein Mädchen in einer Sturmnacht wie dieser auf den Klippfelsen zu suchen?“

„Ich werde es dir sagen, ganz bestimmt.“

„Weißt du was? Du scheinst ein hübsch ausgekochter Satansbraten zu sein, Querida.“

„Ich heiße Segura.“

„Also schön, Segura. Mein Name ist Dan. Wollen wir jetzt mit offenen Karten spielen oder nicht?“

„Du bist kein Pirat?“ fragte sie zaghaft.

„Nein. Soll ich es dir schwören?“

„Nicht nötig“, erwiderte sie in kindlich wirkender Weise. „Laß mich jetzt meine Schwester rufen. Ich glaube, sie kommt um vor Angst.“

„Was? Deine Schwester?“

„Franca – sie hat sich zwischen den Felsen versteckt.“

„Meinetwegen“, sagte Dan O’Flynn, der plötzlich doch daran glaubte, zuviel von dem von Hasard spendierten Whisky in sich hineingegossen zu haben. „Ich hoffe, dein Schwesterlein schießt mich nicht über den Haufen und sticht mir auch kein Messer in den Leib“, fügte er hinzu.

Segura steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen grellen Pfiff aus. Keine halbe Minute verstrich, und eine noch zierlichere Gestalt löste sich aus der Dunkelheit und aus dem Grauschwarz der häßlichen Felsen.

Eine kindliche Schönheit, die Segura stark ähnelte, aber noch nicht ihre weiblichen Reize hatte. Franca trat neben ihre Schwester, richtete ihren feindseligen Blick auf den jungen Mann und hielt sich an Seguras Arm fest.

 

„Das wird ja immer besser“, stammelte Dan O’Flynn. Verdammt, warum stammelst du eigentlich? fragte er sich ärgerlich. Er leckte sich die Lippen, um das trockene Gefühl loszuwerden, das plötzlich in seinem Mund spürbar wurde. Er suchte nach Worten, aber Segura und Franca wichen jetzt einen Schritt zurück. Sie hatten sein hastiges Zungenspiel völlig falsch ausgelegt.

„Du gieriger Hund“, stieß die halbwüchsige Franca aus. „Bilde dir ja nicht ein, du könntest uns mißbrauchen. Zu zweit sind wir stark, verstanden?“

Sie sprach reines Protugiesisch, aber Dan hatte trotzdem keine Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Er holte tief Luft, fuhr sich mit der Hand übers Kinn und rief dann: „Ihr habt sie wohl nicht mehr alle! Glaubt ihr, ich sei derart heruntergekommen und verwildert, daß ich mich an – an zwei Bohnenstangen wie euch vergreife?“

Bohnenstangen, das Wort beleidigte die hübsche schwarzhaarige Segura zutiefst. Sie blickte zu Boden, während ihre kleine Schwester den Fremdling weiterhin zornig anfunkelte.

„Wie alt seid ihr eigentlich?“ erkundigte sich Dan.

„Dreizehn und siebzehn“, gab Franca zurück. „Aber das geht dich einen Dreck an.“

„Warum verrätst du es mir dann?“ Dans Mundwinkel zuckten amüsiert.

„Ich könnte mir auf die Zunge beißen, daß ich es getan habe“, zischte die kleine Amazone. „Aber mehr erfährst du nicht, du Hundesohn. Komm her und kämpfe, wenn du Mut hast. Wir verteidigen unsere Ehre, nicht wahr, Segura, unsere Ehre …“

„Hör auf“, sagte Segura.

Dan wollte energisch werden, aber in diesem Moment ertönte hinter ihm Matt Davies’ Stimme.

„Dan, wo steckst du Himmelhund denn bloß? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Hölle und Teufel, wie kannst du so ganz allein durch den Sturm krauchen und dich so weit von unserem Stützpunkt entfernen? Weißt du, was ich glaube, Dan O’Flynn?“

Dan drehte sich um und sagte: „Sag’s mir, Matt.“

Matt Davies blieb wie vom Donner gerührt zwischen zwei Felsblöcken stehen. Er hatte jetzt die Sicht frei auf Dan und die beiden Mädchen. „Ich, äh – ich bin der Meinung, du hast zuviel Whisky gesoffen“, stieß er verblüfft hervor.

„Ja, ich fühle mich auch so richtig betrunken, Matt.“

„Das da – ist das eine Hallu … eine Hallu …“

„Nein, es ist keine Halluzination“, entgegnete Dan. Er sah sich wieder zu den Mädchen um und stellte fest, daß Segura sich jetzt ihrer Mütze entledigt hatte – trotz des Regens. Langes schwarzes Haar fiel in lockiger Pracht auf ihre Schultern hinab.

„Ich verstehe nicht, was ihr auf englisch redet“, sagte sie mit verkniffener Miene. „Aber ich bin bereit, dir zu zeigen, was die ‚Bohnenstange‘ zu bieten hat, Fremder. Ich lasse mich von dir nicht beleidigen.“

„Allmächtiger“, stotterte Matt, der wie jeder Seewolf des Spanischen mächtig war. „Himmel, nein, bei allem, äh – Wohlwollen, laß deine Bluse auf dem Leib, Senorita.“

„Also, das wird ja immer verzwickter“, sagte Dan. „Segura und Franca, wollt ihr jetzt endlich mit der Wahrheit rausrücken, was ihr hier tut, oder müssen wir tatsächlich zu drastischeren Mitteln greifen?“

Segura sah zu Matt. „Ihr seid keine Piraten, Ire?“

Matt schaute Dan an, verstand dessen Zeichen und schüttelte den Kopf. „Kauffahrer aus Dublin, die zwar dem Teufel ein Ohr absegeln, sonst aber nichts Arges tun.“

„Bringt uns zu eurem Kapitän“, sagte das Mädchen.

Alvaro Monforte hatte wieder das Bewußtsein verloren. Innerlich hatte er mit seinem Dasein abgeschlossen, als er sich der neuen Situation bewußt wurde, in der er sich befand.

Die Nässe umgab ihn, hüllte ihn ein, ließ ihn zittern. Irgendwo weiter unten war das Donnergrollen der Brandung. Als der Kapitän den Kopf hob und Augen und Mund öffnete, stob Gischt in seinen Mund. Er spuckte aus, schüttelte sich, klammerte sich dann aber entsetzt fest, weil er abzurutschen drohte.

Verzweifelt schaute er sich um.

Er lag bäuchlings auf einem gewaltigen Felsen, einem Brocken mitten in der Sturmbrandung unweit des eigentlichen Ufers. Mächtig und drohend ragten die Klippen in die Nacht auf. Sie waren stumme Riesen, die sich jeden Augenblick auf den Schiffbrüchigen stürzen konnten.

Trugbilder gaukelten an Monfortes geistigem Auge vorbei. Sie zehrten an den Nerven des zerschundenen Mannes und ließen ihn aufstöhnen. Aber dann besann er sich darauf, daß er der Capitán eines portugiesischen Kriegsschiffes war, ein Mann der Armada, ein Seemann ohne Furcht und Tadel – solange er noch lebte, konnte ihn nichts in die Knie zwingen.

Der Balken seines zerstörten Schiffes war fort, er konnte sich an nichts mehr festklammern. Wo Reto, der erste Offizier, steckte, wußte Monforte nicht, er wagte nicht, über das Schicksal des Mannes weiter nachzudenken.

Wie ein Wunder mutete es an, daß der gewaltige Brecher Monforte auf den Felsen gespült hatte, ohne ihm sämtliche Knochen im Leib zu brechen und seinem Leben ein Ende zu bereiten. Nein, er sollte noch nicht sterben. Seine Stunde war noch nicht gekommen.

Mit dieser Erkenntnis vollzog Monforte seine nächsten Handlungen. Die Gewißheit, ein Wunder erfahren zu haben, verlieh ihm Kraft und seelischen Auftrieb.

Er wagte es, sich von dem Felsen ins Wasser gleiten zu lassen, und brachte es fertig, die restliche Distanz zum Ufer durch Schwimmen zu überbrücken. Er blieb auf grobem grauen Kies liegen und atmete heftig. Wogen leckten über seinen Rükken, umspülten seinen ganzen Körper und schienen ihn noch jetzt ertränken zu wollen.

Endlich richtete Monforte sich wieder auf. Er taumelte in Gischt und Schaum an den steil aufragenden Klippfelsen entlang und suchte nach einem Einstieg, nach einem Weg ins Landesinnere. Immer wieder blickte er auch zudem Platz, an dem sich seiner Überzeugung nach das Riff befinden mußte. Aber er konnte weder die tückische Felsenbarriere noch die Reste seiner Galeone entdecken.

Er verharrte, als er eine Männerstimme hörte.

„Capitán!“

„Reto!“ stieß Monforte aus. „Heilige Mutter Gottes, er lebt …“

„Capitán, hierher!“

Alvaro Monforte strebte auf den Klang der Stimme zu. Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und stieß ein trockenes Schluchzen aus, bevor er den ersten Offizier der „Sao Sirio“ erreichte. So fühlte er sich freier, etwas von der Tonnenlast, die auf seinen Schultern und auf seinem Gemüt zu liegen schien, löste sich auf.

Die Gestalt des Ersten schälte sich jetzt aus der Dunkelheit. Mitten im Fels stand Reto, und erst beim Näherkommen stellte der Kapitän fest, daß der Mann in eine Art Bresche getreten war, die in das zerklüftete Gestein hinaufführte.

„Zu Ihren Diensten, Kapitän“, sagte Reto. „Bei mir sind noch drei Männer, die etwas weiter oben auf dem Pfad stehen.“

Monforte blieb dicht vor ihm stehen. „Dios – wir können also noch hoffen. Vielleicht – vielleicht haben sich alle retten können. Ich meine, die – die noch lebten, als wir über Bord gingen.“

„Begraben Sie diese Hoffnung, Kapitän“, sagte der Erste.

„Wir sind die einzigen Überlebenden“, fügte der hinter ihm stehende Mann hinzu. Er war ein einfacher Soldado, der, um nicht in die Tiefe der See gezogen zu werden, seinen Eisenhelm und seinen Brustpanzer aufgegeben hatte. Noch bevor er das auseinanderbrechende Schiff verlassen hatte, hatte er sich dieser schweren Teile seiner Montur entledigt, und nur so war er dem schrecklichen Schicksal entgangen, das seine Kameraden getroffen hatte.

Etwas weiter oben in der Felsenpassage befanden sich die anderen beiden Männer der Galeone. Einer von ihnen stieg jetzt zwei, drei Schritte nach unten in die unmittelbare Nähe des Ersten und des Soldados. Monforte erkannte das Gesicht des Decksältesten der „Sao Sirio“. Der vierte Überlebende des Unglücks war einer der einfachen Decksleute, wie der Kapitän nun ebenfalls feststellte.

„Senor“, sagte der Decksälteste. „Wir haben wie die Besessenen gesucht, als wir hier ans Ufer gespült worden sind. Aber wir haben nur angetriebene Leichen gefunden. Die Leichen unserer Kameraden. Es werden immer mehr, Senor, nach und nach finden sie sich an dieser elenden Küste ein. Alle.“