Seewölfe Paket 27

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4.

Als am anderen Morgen die Sonne aufging und leuchtende Finger über das Wasser tasteten, waren die Mannen zum Weitersegeln bereit.

Die ersten Segel wurden gesetzt, dann der Anker gehievt.

Als die „Santa Barbara“ Kurs aufs offene Meer nahm, erschienen die beiden Helden vom Vortag.

Aldegonde trug wieder die Flagge und mußte sie hissen. Das Ritual war genau abgezirkelt und einstudiert. Dann salutierten beide, und schließlich wandten sie sich der absegelnden Galeone zu.

Die Seewölfe sahen den beiden Kerlen staunend zu. Sie hatten sich fein herausgeputzt, trugen glänzende Kupferhelme und hatten sich in ihren besten „Jubel-Kaftan“ gehüllt. Auch einen Zierdegen trug jeder.

Dann standen sie am Strand und salutierten. Danach rissen sie die Arme hoch und brüllten aus voller Lunge: „Bum – bum – bum!“

Sie schossen „Salut“ in Ermangelung von Kanonen.

In die ausbrechende Heiterkeit hinein sagte Hasard: „Vielleicht erwarten sie von uns auch einen Salut. Laß mal ein Geschütz abfeuern, Al.“

Der Stückmeister grinste und ging davon.

Am Strand ging das „bum-bum“ mittlerweile weiter. Die Dons feuerten insgesamt einundzwanzig „Schüsse“ ab.

Dann erfolgte die Antwort. Die eine Culverine spie einen langen Blitz aus, dem ein berstendes Krachen und Donnern folgte. Als sie auf der Lafette rumpelnd zurückfuhr, begannen die beiden Dons wie vom Affen gebissen loszurennen und verschwanden blitzartig in dem Tal.

„Oh, das hat sie wohl erschreckt“, meinte Hasard. „So einen Krach haben sie schon jahrelang nicht mehr gehört.“

„Das sind vielleicht zwei seltsame Molche“, sagte der Profos. „Die verstehen doch die Welt nicht mehr.“

„Kein Wunder bei dem Einsiedlerleben, das sie führen.“

Die beiden wunderlichen Kerle ließen sich nicht mehr blicken. Der gewaltige Donner hatte sie wohl verstört. Am Strand blieb nur die einsame Flagge zurück.

Als die Insel achteraus immer kleiner wurde, stand die Sonne als riesiger Ball über dem Wasser. Sogleich begann es heiß zu werden. Auch der Wind war warm, der die „Santa Barbara“ über das Wasser schob.

Hasard hielt auf die andere Insel zu, auf der jetzt ebenfalls die Spitze eines Berges zu erkennen war. Beim näheren Heransegeln sahen sie einsame helle Strände und Scharen von Vögeln, die sich erhoben und in den klaren Himmel stiegen. Alles war unheimlich still und ruhig, als die Vögel aufgestiegen waren.

Hasard musterte durch den Kieker das Land und ließ dann abdrehen.

„Das soll die Kannibalen-Insel sein“, sagte er. „Auf den ersten Blick scheint sie unbewohnt zu sein.“

„Vielleicht war das nur ein Ammenmärchen von den beiden“, meinte Ben Brighton. „Wer weiß, was die gesehen haben.“

In einer halben Meile Abstand wurde die Insel passiert. Nirgendwo ließ sich eine Menschenseele blicken.

Eine weitere Insel entdeckten sie schließlich im Süden. Nach ein paar Stunden wurde abermals ein dunstiger Strich im Süden entdeckt – ebenfalls Land, das zu den Marquesas gehörte.

Hasard entsann sich wieder des Schreibens, das er noch bei sich trug. Er nahm das Kuvert heraus und betrachtete es.

„Sollen wir es öffnen?“ fragte Don Juan augenzwinkernd.

„Uns wird wohl nichts anderes übrigbleiben. Ich sehe jedenfalls keine Möglichkeit, es dem König von Spanien persönlich zu übergeben. Und du selbst dürftest auch nicht scharf darauf sein.“

„Nicht unbedingt.“

„Nun, dann öffnen wir es.“

Hasard öffnete den Umschlag und zog einen gefalteten Bogen hervor. Krakelige Schriftzeichen wurden sichtbar. Die Buchstaben sahen aus, als sei ein lahmer Hahn über das Papier gelaufen. Das Blatt war mit königsblauer Tinte beschrieben, die mit Sand abgelöscht war.

Hasard las halblaut vor.

„Euer Majestät. Wie Euer Majestät sicherlich wissen, befinde ich mich mit Señor Aldegonde immer noch auf den Islas de Marquesas, die wir für die spanische Krone in Besitz genommen haben und wo wir unerschütterlich ausharren. Die zum Teil unbewohnten Inseln brauchen allerdringlichst einen Vizekönig, zumindest aber einen Gouverneur. Ich bin bereit, die Bürde dieses schweren Amtes auf mich zu nehmen, und bitte untertänigst um ein Anerkennungsschreiben. Gleichwohl fordere ich als künftiger Gouverneur auch eine vergoldete Badewanne an. In der Hoffnung, bald eine spanische Kriegsgaleone am Horizont auftauchen zu sehen, verbleibe ich alleruntertänigst Euer Don Ricardo de la Marcarena, vorläufig selbsternannter Gouverneur der Islas de Marquesas.

Nachschrift: Weiterhin schlage ich vor, Señor Aldegonde noch nicht in den Adelsstand zu erheben. Er soll mir weiterhin als Ordonnanz zur Verfügung stehen.“

Die Nachschrift war in winzig kleinen Buchstaben gehalten. Hasard hatte alle Mühe, sie zu entziffern.

Dann ließ er das Schreiben sinken und begann zu lachen. Die umstehenden Männer grinsten bis zu den Ohren und kriegten sich nicht mehr ein.

„Das sind vielleicht zwei armselige Irre“, sagte Dan lachend. „Der Geist dieses Don Ricardo scheint wirklich durcheinandergeraten zu sein. Am meisten amüsiert mich die vergoldete Badewanne, die der Kerl als künftiger Gouverneur anfordert.“

„Und dann erwartet er, am Horizont möglichst bald eine spanische Kriegsgaleone auftauchen zu sehen“, sagte Shane lachend.

Hasard betrachtete den Schrieb noch einmal kopfschüttelnd und steckte ihn dann wieder in den Umschlag zurück.

„Zwei völlig weltfremde Typen“, meinte er. „Die werden bis an ihr Lebensende auf der Insel bleiben und vergeblich darauf warten, daß ein Schiff auftaucht. Dann ist der Traum von der vergoldeten Badewanne ebenfalls ausgeträumt.“

Sie lachten immer noch, und der Profos stellte sich vor, wie der Kerl in seiner vergoldeten Badewanne am Strand hockte und sich von seiner Ordonnanz den Rücken schrubben ließ. Er sah den Seewolf an und grinste auf seine eigentümliche Art. Offenbar hatte er mal wieder eine seiner Ideen.

„Vermutlich segeln wir auf dem Rückweg hier doch wieder vorbei“, sagte er. „Oder irre ich mich da?“

„Durchaus möglich, daß wir hier vorbeisegeln“, gab Hasard zu.

„Hm, dann könnten wir doch das Kerlchen einfach zum Vizekönig oder Gouverneur befördern“, schlug Ed mit einem hinterhältigen Grinsen vor.

„Wie stellst du dir das vor?“

„Die beiden Spinner haben doch längst vergessen, daß wir mal hier waren. In der Zwischenzeit sind sie sicher noch wunderlicher geworden. Wir ankern ziemlich weit draußen und schicken dann eine königliche Abordnung an Land, die natürlich als Spanier auftreten, ganz feierlich und so. Dann überreichen wir das selbstverfaßte Empfehlungsschreiben und befördern die beiden Molche. Old Donegal könnte sich vielleicht als Seine Allerkatholischste Majestät verkleiden und den Kerl dann zum Vizekönig in einer feierlichen Prozession ernennen.“

„Du hast wirklich eigenartige Ideen“, sagte Hasard. Er konnte sich das Lachen nicht mehr verbeißen, als er sich Old O’Flynn in der Rolle des Königs von Spanien vorstellte. „Aber Old Donegal hat ein Holzbein, und der spanische König nicht“, wandte Hasard unter dem Gelächter der Kerle ein.

„Dann hat er eben mittlerweile eins“, sagte Carberry. „Das wissen die beiden Kerle in ihrer Weltabgeschiedenheit sowieso nicht.“

„Und zu was soll das alles gut sein?“

„Jeder hat seinen Spaß dabei, und den beiden ruhmsüchtigen Burschen ist geholfen. Die freuen sich bis an ihr Lebensende.“

„Wo nimmst du die vergoldete Badewanne her?“ Hasard begann sich mit der Idee bereits anzufreunden. Humor bringt schließlich immer etwas Schwung ins Leben.

„Hm“, der Profos überlegte lange. „Das weiß ich noch nicht so genau. Aber eine vergoldete Waschbalje tut’s schließlich auch. Die werden wir schon irgendwo auftreiben.“

„Na, meinetwegen. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Aber ich befürchte, daß man unsere Gesichter erkennen wird. Vielleicht fallen die Burschen gar nicht darauf rein.“

„Oh, die haben sie längst wieder vergessen“, behauptete der Profos unerschütterlich. „Außerdem tragen wir Uniformen, und alle Gesichter haben sich die beiden ganz sicher nicht gemerkt.“

Also wurde beschlossen, die beiden einsamen Dons auf dem Rückweg kräftig zu veräppeln, wie der Profos sagte. Damit war das Thema dann vorläufig vom Tisch, jedenfalls für Hasard.

Für den Profos noch lange nicht, denn der spann seine Idee weiter und schmückte sie aus, weil die Sache so ganz nach seinem Geschmack war. Blumig schilderte er den feixenden Zuhörern, wie Old O’Flynn als König von Spanien auftreten würde. Er selbst würde sich dann als Zeremonienmeister verkleiden. Die Badewanne oder Waschbalje würden sie schön mit Goldfarbe anstreichen, damit alles seine Ordnung habe.

Old O’Flynn wurde natürlich gleich eingeweiht, und er versprach, die Rolle Seiner Allerkatholischsten Majestät auch zu übernehmen. Dabei grinste er über sein ganzes Granitgesicht.

„An den Auftritt werden sich die beiden Sonderlinge ihr ganzes Leben lang erinnern“, versprach er. „Aber das muß natürlich ganz genau geplant werden.“

„Selbstverständlich“, tönte Ed. „Ich werde mir das gut überlegen, und zwar mit allen Schikanen.“

Als schließlich auch der letzte Landstrich hinter der Kimm verschwunden war, begann wieder die Eintönigkeit.

Vor und hinter ihnen lag die riesige Fläche des Pazifischen Ozeans, die scheinbar kein Ende und keinen Anfang hatte.

Dan O’Flynn, der fleißig seine Koppel-Navigation betrieb, verkündete, daß sie sich jetzt genau südlich der Insel der sieben Augen befänden, wo sie vor langer Zeit schon einmal gewesen waren. Dort hatte ein rasender Tsunami ganze Landstriche verwüstet.

 

Anfangs hatten sie genügend zu essen, aber bald nahmen auch die Lebensmittelvorräte wieder ab, und das Trinkwasser hatte einen faden und üblen Geschmack.

„Ihr Kerle freßt einfach zuviel“, sagte der Kutscher. „Ganz besonders Paddy – den werden wir wohl bald auf halbe Rationen setzen müssen. Oder wir müssen bald wieder auf eine Insel stoßen.“

„Es gibt doch hier genug“, sagte Mac Pellew. „Aber wir haben auf dieser Reise immer das Pech, daran vorbeizusegeln. Dabei wimmelt es hier nur so von Inseln.“

„Wir werden schon eine finden“, tröstete ihn der Kutscher.

Sechs Tage später stießen sie tatsächlich auf eine Inselkette, die aus vielen winzigen Inseln bestand. Wie Perlen an der Schnur waren sie im türkisblauen Wasser aufgereiht.

Die Freude war wieder einmal riesengroß, als sie Palmen entdeckten, die Fruchtfleisch und köstliche Milch versprachen.

Noch während sie auf eine der kleinen Inseln zuhielten, ging ein Regenguß nieder, ein kurzer Schauer nur, aber er reichte aus, um das zur Neige gehende Trinkwasser aufzufüllen.

„Gott sei Dank“, sagte der Kutscher inbrünstig, als das Wasser in großen Leinentücher aufgefangen war. „Die Inselchen sehen nicht danach aus, als gäbe es dort Quellwasser.“

Die Jolle wurde abgefiert, als die „Santa Barbara“ vor Anker lag, und ein paar Arwenacks pullten zu dem ersten Inselchen hinüber.

Es war so klein, daß man es in zehn Minuten zu Fuß umgehen konnte. Die Insel bestand fast nur aus einem dichten Palmenwald. Trinkwasser gab es – wie erwartet – nicht.

„Wenigstens etwas“, sagte Ferris Tucker, als sie mit dem Sammeln der großen Nüsse begannen. „Fische und Langusten gibt es ebenfalls in rauhen Mengen. Damit sind fürs erste unsere Sorgen los.“

Die Jolle kehrte zurück, voll mit Kokosnüssen beladen. Ein paar weitere Männer enterten in das Beiboot, um von der Insel aus Langusten zu jagen.

Als das Boot ablegte, brüllten zwei Schüsse auf. Der Knall kam so überraschend, daß Smoky fast über Bord gekippt wäre. Er blickte verständnislos vom Boot aus auf zwei feine Rauchwölkchen. Dann sah er Blacky und Bob Grey grinsen. Sie lehnten gerade ihre Musketen ans Schanzkleid und starrten dann ins Wasser.

„Was ist denn los?“ fragte Smoky verdattert.

„Wir angeln“, erklärte Bob trocken. „Diesmal haben wir einen Prachtburschen erwischt, der einiges hergibt. Seht euch mal auf der Backbordseite genauer um.“

Sie pullten zur Backbordseite hinüber und blickten ins Wasser, das sich hellrot gefärbt hatte. Im Wasser zappelte etwas wie wild, schoß hin und her und legte sich schließlich auf die Seite.

Oben standen grinsende Kerle an Deck.

„Ein Hai“, sagte Carberry, „die haben wahrhaftig einen Hai abgeknallt, die Burschen.“

„Ihr braucht ihn nur noch anzuleinen, dann hieven wir ihn hoch!“ rief Blacky.

Tampen und Leinen flogen ihnen entgegen, aber der Profos war vorsichtig. Mit Haien hatten sie schon recht üble Erfahrungen gesammelt.

Er pullte näher heran und vergewisserte sich, daß der Hai wirklich tot war und sich auch nicht mehr bewegte. Er war etwa drei Yards lang.

„Beeilt euch“, rief Blacky ungeduldig, „sonst geht der Bursche auf Tiefe und verschwindet!“

Das Boot wurde noch näher herangepullt. Carberry nahm einen langen Tampen und ließ die Schlinge ins Wasser gleiten. Eine zweite Leine wurde am Schwanz des Haies befestigt und straff gezogen.

Oben begannen sie mit aller Kraft, den Burschen aufzuhieven. Sie mußten kräftig zulangen, bis sie ihn an Deck hatten.

„Noch ein Hai!“ brüllte der Ire Higgy. „Da, nicht weit von euch entfernt!“

Anscheinend von dem Zappeln und dem Blutgeruch angelockt, näherte sich ein zweiter Hai der Blutwolke im Wasser. Er war etwa gleich lang wie der andere. Er raste in die Wolke hinein, begann dann wie wild darin zu kreisen und wurde immer aufgeregter und aggressiver.

Am Schanzkleid standen sie wieder mit Musketen in den Fäusten und zielten ins Wasser. Aber der Hai tobte völlig unberechenbar herum und war vorerst nicht zu treffen.

Der Profos pullte mit seinen Mannen vorsichtshalber außerhalb der Reichweite des tobenden Fisches, der fast das Boot rammte in seiner grenzenlosen Freßgier.

Etwas später knallten mehrere Schüsse hintereinander. Diesmal wurde der Hai erwischt, und als Batuti ihm einen Pulverpfeil in den Schädel schoß, riß es dem Hai fast den halben Schädel weg.

Kurz danach befand auch er sich an Deck, wo die Arwenacks jetzt mit Entermessern bereit standen.

Der Kutscher und Mac Pellew waren ebenfalls eifrig bei der Sache, als die Haie in Stücke zerlegt wurden.

„Das reicht für eine Weile“, stellte der Kutscher zufrieden fest. „Das Fleisch wird auch nicht verderben. Wir trocknen es einfach nach Art des Kabeljaus. Wir müssen es nur in dünnere Streifen schneiden.“

„Und einen Teil legen wir in Salz ein“, sagte Mac. „Dann haben wir auf der Reise immer einen Notvorrat.“

„Wir könnten auch ein paar Stücke räuchern“, schlug Big Old Shane vor. „Was bei Heringen geht, müßte auch bei Haien möglich sein. Auf diese Art haben wir wenigstens Abwechslung.“

„Versuchen sollten wir es jedenfalls“, meinte der Kutscher.

Nach knapp zwei Stunden, während das Beiboot hin und her fuhr, um Kokosnüsse an Bord zu bringen, waren die Haie restlos zerlegt. Ein Teil des Fleisches war in faustgroße Stücke geschnitten worden.

Jetzt waren sie dabei, einiges von dem Fleisch in Fässern einzulegen. Die anderen schnitten Fischfleisch in hauchdünne Streifen.

Der Abfall wurde über Bord geworfen. Gleich darauf war wieder die Hölle los.

Im relativ flachen Wasser erschienen weitere Haie, und es gab einen verbissenen Kampf um die blutigen Überreste.

Inzwischen sah es auf der „Santa Barbara“ lustig aus. Die Galeone hatte sich verwandelt. An allen nur möglichen Plätzen und Stellen hatten sie Kabelgarn gespannt und daran dünne Fleischscheiben gehängt, die sich bei jedem Luftzug bewegten.

Sie hatten über die Toppen geflaggt, wie Carberry das ausdrückte.

An diesem Tag erlegten sie insgesamt fünf Haie, nahmen sie aus und schnitten sie in handliche Portionen. Unter der anfallenden Arbeit begannen alle zu schwitzen.

Außenbords hingen mittlerweile zwei größere Netze, in denen es wimmelte und krabbelte. Darin befanden sich Krebse, Langusten und ein paar Seegurken – Notreserve, die im Wasser lange Zeit frisch blieb.

Am Abend wurde dann kräftig zugelangt. Der Kutscher, Mac und die Zwillinge hatten stundenlang in der Kombüse geschuftet, aber was jetzt auf die Back kam, ließ allen das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Stark gewürzte Haifischsteaks gab es mit den Resten vom Gemüse und eingekochter Tomatensoße. Kokosnüsse wurden aufgeschlagen, die Milch in Humpen gegossen.

„So’n Hai hat doch auch was Gutes“, meinte der Profos mampfend. „Er schmeckt vorzüglich. Außerdem ist es viel gesünder, wenn wir über ihn herfallen, statt umgekehrt. Obwohl wir ihm natürlich auch gut schmecken würden.“

Zur Krönung des Tages gab es wieder Rum für alle, aber für jeden nur eine Muck voll, denn auch der Rum nahm langsam ab.

Am Morgen darauf wurden noch weitere der Inselchen besucht und erneut Unmengen an Kokosnüssen herangeschafft und in den Laderaum verfrachtet.

„Damit können wir in China lebhaften Handel treiben“, sagte Batuti. „Das reicht aus, um das ganze Land zu versorgen.“

„Abwarten“, meinte der Kutscher. „Die sind schneller verputzt als wir uns vorstellen. Wir können gar nicht genug davon haben.“

Auch die eine Jolle wurde zweckentfremdet. Sie war an Deck festgezurrt und halb mit Wasser gefüllt worden. Darin tummelten sich große Langusten und ein paar Hummer. Allerdings passierte es in der nächsten Nacht, daß die Viecher über die Planken krochen und die Männer unsanft zwackten, die an Deck schliefen.

Ferris Tucker spannte kurzerhand ein Netz über die Jolle, und von da an herrschte Ruhe.

Nach zwei Tagen nahm die „Santa Barbara“ erneut Kurs auf das Land des Großen Chan. Vor ihnen lag noch eine sehr weite Strecke.

5.

Wasser, Wasser, Wasser, soweit das Auge blickte.

Sie segelten, hart über Steuerbordbug liegend, mit Backbordhalsen. Der Wind stand nicht mehr so günstig wie noch vor ein paar Tagen, aber sie liefen trotzdem gute Fahrt.

An Backbord wurde Tage später wieder ein feiner Landstrich gesichtet aber da sie noch alles hatten, was sie brauchten, ließ Hasard auf demselben Kurs weitersegeln. Er rechnete damit, noch auf viele andere Inseln zu stoßen, aber die Rechnung ging nicht so glatt auf, wie er gehofft hatte.

Ein Tag nach dem anderen verging, ohne daß sie erneut Land sichteten. Auch Schiffe waren ihnen nicht begegnet.

Die „Santa Barbara“ bewegte sich auf westnordwestlichem Kurs nördlich des Äquators. Das war gleichzeitig der Generalkurs, der sie ins Reich der Mitte bringen sollte. Auf dieser Route, so hoffte Hasard, würden sie auch auf weitere Inseln stoßen.

„Zeit wird es ja wieder mal“, meinte der Kutscher. „Wir haben zwar noch eine Menge Kokosnüsse und das eingelegte und teilweise geräucherte Fischfleisch, aber die leidigste Angelegenheit ist und bleibt nun mal das Trinkwasser. Es regnet hier einfach zu wenig.“

„Das wird sich bald ändern“, versprach der Seewolf. „Wir geraten in die Zonen des Nordostpassates. Dort ist das Klima milder und nicht mehr so heiß. Es regnet dort auch öfter. Außerdem werden wir da auf einige Inselgruppen stoßen.“

Schon ein paar Tage später trat das ein, was Hasard gesagt hatte. Das Klima wurde unmerklich milder, und der Nordostpassat begann sanft zu wehen.

Mitte Juli 1596 ertönte die erlösende Meldung aus dem Großmars.

„Nebelbänke voraus! Vermutlich ein kleiner Landstrich!“

Im Nu war alles auf den Beinen.

„Wie vor ein paar Wochen“, sagte Matt Davies. „Das sieht fast genauso aus, als wir die Marquesas erreichten.“

Sie blickten zu einem in noch weiter Ferne wabernden Gebilde, das wie Watte an der Kimm hing. Was es war, ließ sich noch nicht einwandfrei erkennen.

„Möglich, daß sich dahinter Land verbirgt“, meinte der Seewolf. „Wir halten Kurs darauf.“

Dan O’Flynn beschäftigte sich ausgiebig mit der Beobachtung durch das Spektiv. Er hatte es auf den Handlauf der Balustrade aufgelegt, damit das Bild nicht verwackelte, und blickte lange hindurch.

„Da ist tatsächlich Land zu erkennen“, meldete er. „Es befindet sich an Backbord von dem Nebel. Vor dem Nebel scheint sich auch etwas zu bewegen, doch das kann ich nicht genau erkennen.“

Auf seinem Gesicht lag ein nachdenklicher Zug, als er für Augenblicke das Spektiv absetzte.

„Du siehst so nachdenklich aus“, meinte Hasard.

„Sieht irgendwie merkwürdig aus, das Land oder die Insel. Ich habe so etwas noch nie gesehen.“

„Was soll denn an einer Insel merkwürdig sein?“

Dan O’Flynn reichte dem Seewolf schweigend den Kieker.

Als Hasard ihn absetzte, war sein Gesicht genauso nachdenklich. Die anderen blickten ihn neugierig an.

„Die Insel sieht tatsächlich sehr eigenartig aus“, gab er zu. „Wie ein, nun – ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll. Wir lassen uns überraschen. Konzentriere dich bitte mal auf den winzigen schwarzen Punkt etwas genauer, Dan.“

„Du meinst den, der vor dem Nebel liegt?“

„Ja, er läßt sich nur schwer erkennen, scheint sich aber ganz langsam zu bewegen.“

Eine merkwürdige Spannung lag plötzlich in der Luft. Ein paar der Arwenacks enterten auf, um aus luftiger Höhe einen besseren Überblick zu haben.

Aber erst nach einer weiteren halben Stunde ließ sich Näheres erkennen. Fasziniert starrten sie hinüber. Dan O’Flynn konzentrierte sich immer noch auf den schwarzen Punkt.

„Das ist ein Auslegerboot“, sagte er. „Ein Auslegerboot mit einem kleinen Segel. Es hält genau auf die Nebelbank zu und wird gleich darin verschwinden. Soviel ich erkennen kann, sitzen zwei Männer in dem Boot.“

„Also eine bewohnte Insel“, sagte Hasard. „Wir laufen sie an und sehen sie uns einmal aus der Nähe an. Immerhin sind es die ersten Eingeborenen, auf die wir seit unserer Abfahrt treffen.“

Das Auslegerboot war immer deutlicher zu erkennen. Es hielt immer noch mitten in den wabernden Nebel hinein. Die Eingeborenen mußten das große Schiff zweifelsfrei ebenfalls gesehen haben, aber sie kümmerten sich nicht darum, oder sie hatten mit großen Schiffen schlechte Erfahrungen hinter sich und wollten von den Fremden nichts wissen.

 

„Die hauen ab“, verkündete der Profos, „aber sonderliche Eile haben sie keine, obwohl sie uns gesehen haben. Vielleicht wollen sie aber auch nur zum Fischen rausfahren.“

„Mitten in den Nebel?“ fragte Luke Morgan. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“

Das kleine Boot mit den beiden Männern hatte jetzt die Nebelzone erreicht und verschwand darin. Die Eingeborenen hatten sich nur ein einziges Mal nach der „Santa Barbara“ umgedreht, als seien Schiffe dieser Größe ganz alltäglich.

Der Nebel schluckte das Boot. Es verschwand übergangslos darin und tauchte auch nicht mehr auf. Was hinter der Nebelwand lag, ließ sich nicht einmal erahnen.

Hasard warf einen schnellen Blick über das Deck und konzentrierte sein Augenmerk erneut auf die Insel. Auch sie war jetzt immer deutlicher zu erkennen.

Die Luvseite der Insel war von üppig wachsendem tropischen Mangrovendickicht überzogen. Das Dickicht schien absolut undurchdringlich zu sein. Erst ein paar hundert Yards weiter hörte es auf. Aber dort sah alles auch gleich ganz anders aus.

Sie starrten sich fast die Augen aus, denn eine solche Insel hatten sie wirklich noch nicht gesehen.

Gleichzeitig wurden aber noch weitere winzige Inseln gesichtet. Auch sie wirkten ganz anders als die normalen Eilande der Südsee.

Künstliche Inseln, wollte Hasard fast sagen, unterließ es dann aber, weil ihm diese Vorstellung reichlich weithergeholt schien. Warum sollte man künstliche Inseln anlegen, wenn es im Pazifik doch Tausende anderer Inseln gab!

Das Wasser wurde immer flacher, je näher sie der Insel kamen. Als die Tiefe noch vier Yards betrug, ließ der Seewolf Anker werfen. Die Segel wurden aufgegeit, dann lag die „Santa Barbara“ fast bewegungslos vor der Insel.

„Das ist nicht nur eine Insel“, sagte Hasard staunend, „das ist ein ganzes Labyrinth von Inseln, das von Kanälen durchzogen, aber offenbar miteinander verbunden ist. Das dort vorn wirkt wie ein riesiger Wellenbrecher und weiter dahinten …“

Er sprach nicht weiter, starrte nur auf das Wunder, das sich seinen Blicken bot.

Links von ihnen wuchs undurchdringliches Dickicht. Dort standen die Mangroven so dicht, daß man nicht hindurchkonnte. Es war das Stück einer Halbinsel, das sich nahtlos an größeres Gelände anschloß. Direkt vor ihnen befand sich eine quadratische Insel. An ihr führte ein schmaler Kanal weiter. In einer verlockend breiten Einfahrt lagen weitere kleine Inseln, Zwei davon hatten wieder quadratische Formen und waren durch einen wie künstlich geschaffenen Kanal voneinander getrennt. Rechts ragte eine weite Landzunge ins Meer, die ebenfalls dicht mit Regenwald bewachsen war.

Das Wasser war so kristallklar, daß auf dem Grund jede Bewegung zu erkennen war. Vor kleinen grottenähnlichen Höhlen tummelten sich farbenprächtige Fische. Sie waren von rötlicher Farbe, weißgestreift und hatten armlange weiße Stacheln, die vom Körper weit abstanden.

Staunend hielten die Mannen Ausschau nach Eingeborenen. Nirgendwo war eine Hütte zu sehen, nicht die Andeutung einer Behausung. Zudem lag eine eigentümliche Stille über diesem Insellabyrinth.

„Diese Insel muß doch bewohnt sein“, sagte Ben Brighton. „Das Auslegerboot hat von hier aus Kurs auf die Nebelbank genommen. Aber wo sind dann die Hütten?“

„Möglicherweise auf der anderen Seite“, erwiderte Hasard. „Wir sehen nur einen Teil der Insel. Wer weiß, wie es auf den anderen Seiten aussieht.“

Die Insel schlug alle in ihren Bann. Eine seltsame Faszination ging von ihr aus, der sich niemand entziehen konnte. Gleichzeitig wirkte alles wie eine gigantische und bedrohliche Kulisse.

Hasard lauschte angestrengt. Die Stille, die über allem lag, war nur scheinbar. Da war aber leises Flüstern und Raunen zu hören, wenn der Wind leise durch die Mangroven harfte. Hin und wieder war auch ein leises Knacken zu hören, als würden Zweige unter leichten Tritten brechen. Einmal glaubte Hasard auch ganz deutlich ein Stöhnen oder Wehklagen zu hören.

Auf dieser Insel gab es auch keine Strände. Sie war aus Gestein und wies zahlreiche Hügel auf. Immer wieder gab es schmale Durchfahrten, Passagen oder Kanäle, von denen aus man ein Inselchen nach dem anderen erreichen konnte.

„Das muß ich mir mal aus der Höhe ansehen“, sagte Hasard beeindruckt. Ohne ein weiteres Wort enterte er auf. Etliche andere folgten ihm sofort neugierig.

Vom Großmars aus hatte er einen Überblick über die Insel. Der Seewolf hielt überrascht die Luft an. Was er sah, war einfach atemberaubend. Seinen Mannen, die wie riesige Spinnen in den Webeleinen hingen, erging es ebenso. Auch sie blickten lange Zeit sprachlos über das gewaltige Labyrinth.

„Offener Basalt“, sagte Hasard und wies mit der Hand auf ein Bollwerk, das aus riesigen, hochaufragenden dunklen Säulen bestand. Eine Ringmauer war zu erkennen, ein weiterer Zyklopenwall aus riesigen Basaltsäulen hob sich in den Himmel. Das alles erinnerte an eine gigantische Festung, die von zahlreichen Kanälen durchzogen war. Hinter den Ringmauern gab es offenbar einen großen Innenhof, aber alles Weitere war durch Wildnis den Blicken verborgen.

Hasard schätzte die Ringmauern auf etwa hundert Yards Länge, die Höhe der fünf- und sechskantigen Basaltsäulen auf fast zehn Yards. Die Breite mochte etwa drei Yards betragen.

Auf der nördlichen Seite war ein hafenähnliches Becken zu erkennen.

Keine Menschenseele zeigte sich. Hasard enterte wieder ab und blieb nachdenklich auf der Kuhl stehen.

„Das sieht wahrhaftig aus, als sei es künstlich angelegt“, sagte er. „Vermutlich dient es heute den Eingeborenen als Kultstätte, die sie in regelmäßigen Abständen aufsuchen.“

„Kann sein, daß diese Insel wirklich ein Heiligtum darstellt“, meinte Don Juan. „Dann ist sie allerdings tabu, und wir begehen einen Frevel, wenn wir sie betreten.“

„Die Möglichkeit besteht durchaus. Dennoch werden wir die Insel einmal runden und uns die Nordseite ansehen. Ich möchte gern herausfinden, was es damit auf sich hat.“

Die anderen waren ebenfalls, dafür, und sie plagte ganz beträchtlich die Neugier. Also wurde beschlossen, die Insel einmal zu runden, um sich einen genaueren Überblick zu verschaffen.

An dem porösen Korallenschutt, der zwischen aufgetürmte Basaltsäulen gefüllt war, erkannte Hasard den Tidenunterschied. Augenblicklich herrschte Ebbe, aber bei Flut waren die Kanäle sicher gut mit dem Beiboot zu durchfahren.

Unmerklich ging das Wasser zurück. Seichte Priele waren zu sehen, in denen sich quaddelige Seegurken tummelten. Kleine Fische flitzten hin und her und versuchten, tieferes Wasser zu erreichen.

„Das sieht wie eine sehr alte Verteidigungsanlage aus“, meinte Dan O’Flynn. „Aber wer oder was sollte hier mitten im Meer verteidigt werden? War es vielleicht mal ein Häuptling, ein Stammesfürst oder ein Papalagi, der hier hauste?“

Er war der Lösung des Rätsels ziemlich nahe. Doch das erfuhren sie erst viel später. Fest stand lediglich, daß diese Insel einstmals künstlich angelegt worden war und ihre Erbauer mit unglaublicher Präzision gearbeitet haben mußten, um dieses Labyrinth zu erschaffen. Der Ursprung dieser Insel mochte sich im Laufe der Jahrhunderte irgendwo im mythischen Nebel verloren haben.

Sie zuckten unmerklich zusammen, als ein seltsam klagender Ton zu hören war. Es hörte sich an, als würde auf einer Muscheltrompete geblasen, ein leises fernes Klagen, das sich sofort darauf verlor.

„Geister“, sagte Old O’Flynn prompt, denn derartige Klänge waren für ihn der Beweis, daß sie von Geistern stammten. „Wir sind in einer Geisterstadt gelandet und werden verflucht sein.“

„Hör bloß mit deinen Geistern auf!“ fuhr Hasard ihn an. „Noch sind wir in keiner Geisterstadt gelandet und auch noch nicht verflucht. Es gibt für alles eine natürliche Erklärung.“

„Für alles nicht“, behauptete Donegal störrisch. „Es gibt auch Dinge, die unerklärbar sind. Da stecken dann immer irgendwelche überirdischen Mächte …“

„Jaja, schon gut“, wehrte Hasard ab. Er konnte sich den seltsam klagenden Ton auch nicht erklären, aber deshalb mußte er noch lange nicht von „irgendwelchen Geistern“ stammen, oder von „überirdischen Mächten“, die auch zum Lieblingsthema des Alten gehörten.