Seewölfe Paket 27

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

„Diese Seegurken werden an der Luft getrocknet, in dicke Scheiben geschnitten und dann geräuchert. Auf diese Weise halten sie sich sehr lange und schmecken auch gut. Wenn wir auf dem weiteren Törn mal nichts mehr zu beißen haben, greifen wir auf die Notreserve zurück und müssen nicht verhungern.“

„Dann verhungere ich lieber“, sagte Carberry prompt.

„Eine sehr gute Idee, Kutscher“, meinte Hasard. „Du läßt dir wirklich immer wieder etwas Neues einfallen. Ich stelle mir vor, daß sie ganz gut schmecken. Vor allem garantiert uns ein derartiger Notproviant das Überleben in einer ausweglosen Situation. Oder denkst du darüber anders, Mister Carberry?“

„Ich, Sir?“ Der Profos gab sich sehr erstaunt. „Aber ich doch nicht. Seegurken sind was Feines – äh – geräuchert natürlich. Davon kann man gar nicht genug kriegen. Sie sehen zwar ein bißchen komisch aus – so wie ’ne Nudelrolle mit Borsten, aber sonst sind sie gut. Nur roh mag ich sie nicht.“

„Brauchst du auch nicht“, tröstete ihn der Kutscher. „Und weil du sagtest, davon könne man gar nicht genug kriegen, werden wir für dich noch ein paar mehr mitnehmen. Vielleicht magst du auch lieber Seegurken in Himbeersoße oder mit Apfelmus.“

Aber mit Himbeersoße und Apfelmus mochte sie der Profos auch nicht, wie er glaubhaft versicherte. Dann lieber doch geräuchert.

Eine halbe Stunde lang gingen sie weiter, und dann entdeckten sie auch die ersten Seevögel, die hoch über dem Wasser ihre Runden drehten.

Hasard blieb stehen und deutete voraus, wo eine dicht mit Palmen bewachsene Landzunge ins Meer ragte.

„Bis dorthin gehen wir noch, dann kehren wir um. Später können wir mit dem Schiff die Insel erkunden oder zumindest einen Teil, denn sie scheint wesentlich größer zu sein, als ich angenommen hatte. Hinter der Landzunge werden wir vermutlich auf eine weitere Bucht stoßen, die so ähnlich aussieht wie diese hier.“

Sie gingen weiter, immer noch mit der nötigen Vorsicht, denn die Insel konnte bewohnt sein, auch wenn sie keine Hütten sahen. Auf vielen Inseln hatten sich Eingeborene ins Landesinnere verzogen.

Aber etwas später fanden sie etwas anderes.

9.

Sie erreichten den Punkt, wo sie umkehren wollten. Die Palmen wuchsen bis dicht ans Wasser, und vor ihnen lag die dichtbewachsene Landzunge, die einen Halbkreis bildete.

Aber da war die Neugier des Profos’, und die war so ausgeprägt, daß er es sich nicht verkneifen konnte, wenigstens einen kurzen Blick auf den anderen Strand zu werfen. Möglicherweise wäre ihm sonst noch etwas entgangen.

Als Hasard stehenblieb, stiefelte Carberry zwischen den Palmen der Landzunge hindurch und schob sich durch das Gestrüpp.

„Wir kehren um“, sagte Hasard. „Den weiteren Abschnitt können wir uns später ansehen.“

„Aye, aye, Sir, aber ich will nur noch einen Blick tun. Das ist so eine Angewohnheit von mir, damit ich weiß, wie es weitergeht.“

„Deine Angewohnheiten kenne ich, aber meinetwegen.“

Ed tat also einen Blick, und als er sich durch den Verhau gekämpft hatte, da traf ihn fast der Schlag.

Er schluckte, stierte, blies dann die Wangen auf und stemmte beide Arme in die Hüften. Er glotzte wie ein Mondkalb.

„Ich glaub’, ich seh’ nicht richtig“, sagte er ächzend.

„Was ist denn mit dem los?“ fragte Dan O’Flynn. „Der wird doch nicht ein Faß Rum entdeckt haben.“

„Er glaubt, er sieht nicht richtig“, meinte Hasard.

Sie sahen den Profos nur von der Seite, aber wie er so dastand und Löcher durch die Luft stierte, erinnerte er an eine Salzsäule.

„Wieder so ein Trick von ihm, die Neugier der anderen zu wecken“, meinte der Kutscher, „damit er weiterlatschen kann. Vielleicht sieht er ’ne Ameise mit Krampfadern.“

Die anderen grinsten erst einmal und stellten sich das bildlich vor.

Aber als der Profos immer noch stierte, wurde Hasard ungeduldig.

„Was ist los, Ed?“ rief er.

Carberry erwachte aus seiner Erstarrung. Er drehte sich um, winkelte den riesigen Daumen ab und deutete auf das, was er sah.

„Da liegt ein Wrack“, sagte er tonlos. „Da liegt wahrhaftig ein alter Eimer am Strand.“

Einen Augenblick lang sahen sich die Mannen verdutzt an.

„Ein Wrack – hier?“ fragte Hasard ungläubig.

Der Kutscher flitzte nur so durch den Verhau. Die anderen folgten in auffallender Eile. Als sie auf der anderen Seite der Landzunge standen, bot sich ihnen ein ganz anderes Bild.

Der Strand war noch breiter. Wie ein weißer Halbkreis zierte er eine malerische Bucht. Auch hier standen überall Kokospalmen.

Fast in der Mitte der Bucht lag ein Wrack. Ein zersplitterter Mast stand noch, die beiden anderen fehlten. Da waren nur noch pinselartige Gebilde zu sehen.

Einsam und verlassen lag das Wrack in der Mittagshitze auf dem Strand. Niemand war zu sehen. Die Entfernung betrug von der Landzunge aus etwa drei Kabellängen.

Eine ganze Weile starrten sie zu dem Schiff. Außer der „Santa Barbara“ hatten sie lange kein Schiff mehr gesehen, und jetzt waren sie auf ein einsames Wrack an einem ebenso einsamen Strand gestoßen. Eine Überraschung war das schon.

„Eine spanische Galeone“, flüsterte Dan O’Flynn, als könne ihn jemand anderer hören.

„Ja, der Bauart nach eine spanische“, erwiderte Hasard, der ebenfalls den Blick aufmerksam auf das Wrack gerichtet hatte.

„Meine Neugier“, sagte der Profos stolz. „Ohne mich wäre das heute ein langweiliger Tag geworden.“

„Jaja, du bist eben der wahre Entdecker“, sagte der Kutscher. „Sehen wir uns das einmal aus der Nähe an?“

Die Zwillinge, Hasard und Philip begannen ebenfalls zu drängen. Das geheimnisvolle Wrack zog sie magisch an, und sie wären am liebsten gleich losgerannt, um es zu erkunden. Aber Vater Hasard hielt die beiden noch zurück.

„Natürlich sehen wir es uns an“, sagte er, „aber zuerst beobachten wir das Umfeld. Wenn hier ein Schiff gestrandet ist, dann gibt es vermutlich auch Überlebende, und die könnten vielleicht ganz versessen darauf sein, uns zu überrumpeln, unser Schiffchen zu kassieren und damit zu verschwinden. Seht euch also aufmerksam nach allen Seiten um und achtet auf mögliche Fußspuren. Wenn uns Gefahr droht, dann nur aus dem Dickicht.“

Sie gingen langsam weiter, dicht am Wasser entlang, und näherten sich dem Wrack, das auf dem Trockenen lag und etwas zur Backbordseite geneigt war.

Besonders genau musterten sie dabei den Regenwald. Aber wenn sich dort jemand versteckt hatte, dann war er so gut getarnt, daß sie ihn doch nicht gesehen hätten.

Es war ein unbehagliches Gefühl, nicht zu wissen, was in den nächsten Minuten geschah. Aber sie befanden sich so dicht am Wasser, daß jeder mögliche Gegner erst den breiten Strand überwinden mußte, wenn er sie überrennen wollte – vorausgesetzt, dieser Gegner feuerte nicht aus dem Hinterhalt.

„Keine Fußspuren zu sehen“, sagte Dan. „Von dieser Seite aus jedenfalls nicht. Wie es dahinter aussieht, kann ich nicht erkennen. Aber Fußspuren kann man ja auch verwischen.“

„Allerdings“, räumte Hasard ein, wobei er wieder zu dem dunklen Teil des Regenwaldes blickte.

Einmal war da ein Knacken zu hören. Sofort blieben sie stehen und richteten die Pistolen auf jene Stelle, wo das Geräusch zu hören war. Es wiederholte sich jedoch nicht, trotzdem hatten sie ständig das unangenehme Gefühl, von unsichtbaren Augen belauert zu werden.

„Wir hätten Plymmie mitnehmen sollen“, sagte Philip, „aber es ging alles so schnell, weil jeder an Land wollte, und so ist sie eben an Bord geblieben.“

„Ja, die Hündin hätte nur einmal geschnüffelt, und dann wüßten wir genau, wie wir dran wären“, sagte der Kutscher.

Sie blickten immer noch zu der Stelle, wo das Knacken zu hören gewesen war. Da rührte sich nichts.

„Kann auch ein Ast gewesen sein“, meinte Carberry achselzuckend. „Wenn uns wirklich jemand an den Hals will, dann hätte er es längst getan.“

„Oder er wartet unsere Neugier ab und nutzt die Gelegenheit, wenn wir uns das Wrack ansehen“, sagte Hasard junior.

Sie hatten sich dem Schiff jetzt bis auf knapp hundert Yards genähert. Immer noch rührte sich nichts. Das Wrack schien schon seit undenklichen Zeiten hier am Strand zu liegen.

„Der Rumpf ist an einigen Stellen aufgerissen“, stellte Dan fest. „Vielleicht hat es mit dem Riff Bekanntschaft geschlossen, vor dem wir liegen, und ist später abgetrieben. Sonst sind eigentlich keine nennenswerten Schäden zu erkennen, bis auf die beiden fehlenden Masten. Und der Kahn ist ziemlich brüchig.“

Der Seewolf hatte seinen Radschloßdrehling in der Hand und ging weiter. Dabei spähte er immer noch aufmerksam zum Regenwald.

„Das Wrack liegt schon lange hier“, sagte er, „das beweist schon der Zustand der Decks und der verrotteten Takelage. Es gibt kein einziges Segel mehr, aber die kann man abgenommen und anderweitig verwendet haben.“

Auch der Kutscher dachte über das Wrack nach.

„Ich nehme an, daß es auch keine Überlebenden mehr gibt“, sagte er nach einer Weile.

„Woraus willst du das schließen?“

„Eben an dem Zustand“, sagte der Kutscher grinsend. „Was hätten wir denn getan, wenn wir Schiffbruch erlitten hätten und auf dieser Insel gestrandet wären?“

Hasard zog die Augenbrauen hoch und warf dem Kutscher einen Blick zu.

„Eine gute Überlegung. Wir hätten es zuerst mit einer gründlichen Reparatur versucht, und wenn das nicht ging, dann hätten wir uns aus dem Holz Flöße gebaut, falls die Jollen zertrümmert wären. Aus dem restlichen Holz hätten wir Hütten gebaut.“

 

„Eben. Aber das haben sie nicht getan. Wie ich sehe, hängt da nur ein morsches und kaputtes Beiboot herum.“

„Vielleicht hatten sie zwei“, meinte Carberry. „Die meisten Dons haben zwei Jollen an Bord.“

„Wir werden es gleich genauer wissen“, sagte Dan.

Das Wrack war jetzt nur noch ein paar Schritte entfernt. So sehr Dan auch den Sand ringsum absuchte, es fanden sich keine Fußspuren. Schon seit langer Zeit schien niemand hiergewesen zu sein. Es gab auch keine Andeutung von Schleifspuren, wie sie beim Verwischen von anderen Spuren meist entstehen.

Wie ein geducktes Ungetüm lag das Schiff auf dem weißen Sand. Es verströmte einen seltsamen Geruch, eine Mischung aus Seetang, Holz, Teer und Salzwasser. Gleichzeitig strahlte Hitze von dem Wrack nach allen Seiten ab.

Dort, wo das Wrack lag, war der Strand fast hundert Yards breit. Dann stand an seinem Ende eine Palmengruppe, hinter der dichter, urwaldähnlicher Wald begann. Auch von hier aus war wieder der Berg sowie ein kurzer Einschnitt in ein buntblühendes Tal zu sehen.

Sie gingen erst einmal um das Wrack herum, das die See so hoch auf den Strand geschoben hatte.

Der Anstrich aus Teer und Harpüse war abgeblättert, das Holz an vielen Stellen ausgebleicht und gerissen. Manche Risse waren so breit, daß man den Finger durchschieben konnte.

„Kein Name, kein Heimathafen, nichts mehr zu erkennen“, sagte Hasard. „Aber es muß eine spanische Galeone sein, die hier vor langer Zeit strandete oder auf ein Riff lief. Vielleicht gibt uns das Innere etwas mehr Aufschluß.“

Es rührte sich immer noch nichts. Sie hatten wieder einmal das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein. Es war warm, die Wellen plätscherten leise an den Strand, und über ihnen wölbte sich ein blauer Himmel.

Von der Backbordseite hingen zwei Tampen herab, direkt einladend, wie der Profos feststellte.

„Na, dann wollen wir mal“, sagte er, griff nach dem Tampen und wollte an Bord hangeln.

Der Tampen war aber schon sehr alt, sehr morsch und sehr brüchig. Einen Koloß wie den Profos hielt er nicht mehr aus. Als er hochschwingen wollte, brach der Tampen. Carberry landete fluchend im Sand.

„Lausiger Torfkahn!“ schimpfte er. „Bei den Dons ist aber auch wirklich alles vergammelt.“

Hasard lachte leise und half Carberry wieder auf die Beine.

„Mit der Zeit vergammelt eben alles. Versuch du es mal, Philip“, wandte er sich dann an seinen Sohn.

Philip angelte nach dem anderen Tampen. Der Profos half ein bißchen nach, und gleich darauf befand sich der Junior an Bord.

„Vorsicht an Deck“, warnte Hasard, „die Planken sind morsch. Paß auf, daß du nicht durchbrichst.“

„Die sind noch ganz in Ordnung!“ rief Philip. „Einen Augenblick, ich sehe da ein paar Taue liegen.“

Hasard junior, der es ebenfalls nicht mehr erwarten konnte, enterte bereits mit Hilfestellung auf.

Dann warfen sie Tauzeug über Bord und befestigten es. Auch dieses Tauwerk war brüchig und zu lange der Sonne ausgesetzt gewesen. Erst als sie es doppelt nahmen, konnten auch die anderen vorsichtig aufentern.

Etwas später standen sie alle an Deck und sahen sich neugierig um.

Der Geruch nach Holz und Teer wurde noch intensiver. Das brüchige Deck warf die Hitze zurück. Zwischen den Planken gab es daumendicke Risse, aber sie hielten.

Wo die beiden Masten geblieben waren, ließ sich nicht mehr feststellen. Wahrscheinlich hatte sie die See geschluckt und an einer anderen Stelle angetrieben.

Ein Beiboot befand sich an Bord, eine Jolle mit angeknacksten und geborstenen Planken. Sie war noch verzurrt, hing aber so schief wie das Wrack selbst.

Die Schotten hingen gleichfalls schief in den Scharnieren. Jeder leise Luftzug bewegte sie, und dann gab es ein leises knarrendes Geräusch, das den Profos ruckartig herumfahren ließ.

Das Schanzkleid an der Steuerbordseite war eingedrückt, vermutlich durch die über Bord gegangenen Masten. Überall hatte die Sonne das Holz gebleicht.

Auf irgendeine geheimnisvolle Weise schien das Wrack von Leben erfüllt zu sein, denn jetzt aus allernächster Nähe waren von überall her leise Laute zu vernehmen. Mal war da ein leises Ächzen, dann knarzte ein Schott, oder es knackte in einer Planke.

„Fangen wir vorn an“, sagte Hasard. Er stand auf dem schräggeneigten Deck und warf wieder einen prüfenden Blick zu den Palmen hinüber.

„Ich glaube nicht, daß uns noch irgendeine Gefahr droht. Aber haltet trotzdem die Augen offen und laßt euch nicht ablenken.“

Sie gingen nach vorn. Unter ihren Schritten drückten sich mitunter ganz leicht die Planken durch. Manche knarrten auch bei der leisesten Berührung entsetzlich.

Das Schott vom Mannschaftslogis war aus den Scharnieren gebrochen und lag neben dem Eingang.

Als Hasard vorangehen wollte, hielt er noch einmal inne und sah über die sonnenüberfluteten Decks.

„Der Don hat nur zwei kleine Kanonen“, sagte er. „Folglich war es ein Handelsfahrer – oder ein Schiff, das die Dons zur Erkundung und Entdeckung ausgeschickt hatten.“

Den anderen fiel das auch erst jetzt auf. Da standen auf dem Quarterdeck tatsächlich nur zwei armselige und vergammelte Kanönchen.

„Die langen bestenfalls zum Spatzenschießen“, meinte Carberry. „Damit konnten sie wirklich nicht viel ausrichten.“

Hasard war inzwischen schon die morschen Stufen hinuntergestiegen, die in einen dunklen und fensterlosen Raum führten.

Sie gewöhnten sich jedoch sehr schnell an das Halbdunkel und sahen sich um.

In dem Raum waren eingebaute Kojen, flache Mulden, die blankgescheuert waren. Sonst gab es nichts.

„Keinerlei Klamotten, kein Geschirr, absolut nichts“, staunte der Kutscher. „Das ist ja nicht sehr ergiebig.“

„Sehr eigenartig“, meinte auch Hasard. „Das sieht so aus, als sei das ganz bewußt alles ausgeräumt worden.“

Der Profos, der im Geist schon wieder Knochenmänner vermutet hatte, war’s zufrieden, denn Totenschiffe waren ihm unheimlich, und für Knochenmänner hatte er noch nie was übrig gehabt.

Sehr erleichtert stieg er wieder nach oben.

Als nächstes nahmen sie sich die Kombüse vor, deren Schott ebenfalls nur angelehnt war. Der gemauerte Herd stand noch drin, sonst war da nur gähnende Leere.

Diesmal kratzte sich der Kutscher verblüfft den Schädel.

„Absolut nichts“, sagte er wieder. „Nicht mal ein lausiger Topf oder eine schmierige Pfanne.“

Er riß ein Schapp auf und starrte hinein. Zwei vertrocknete Kakerlaken hatten darin ihr Leben ausgehaucht. Das war alles.

Die Verblüffung der Arwenacks wuchs immer mehr.

„Vielleicht haben sie alles in die Laderäume geschafft“, sagte Dan. „Die sind noch verschalkt und geschlossen.“

Die Zwillinge dachten wieder an Schätze, die sie irgendwo an Bord vermuteten, doch auch sie wurden enttäuscht.

„Wozu sollten sie das getan haben?“ fragte Hasard. „Außerdem würde das beweisen, daß sie dann noch am Leben waren.“

„Ein anderes Schiff kann sie gefunden und mitgenommen haben. Das wäre auch noch eine Möglichkeit. Dann hat man den ganzen Kram eben umgeladen.“

Aber auch mit der Theorie konnte sich der Seewolf nicht so recht befreunden. Irgend etwas Mysteriöses lag über diesem Wrack. Die Verschalkung des Laderaumes war zwar noch intakt, doch an einer Stelle, dicht bei dem zerfetzten Mast, war er geöffnet worden. Dort fehlten ein paar Bohlen.

Carberry war wieder mal als erster Mann vor Ort. Neugierig spähte er in den Laderaum, erwartungsvoll grinsend, weil vermutlich wieder eine Entdeckung bevorstand.

Er entdeckte auch etwas, dann begann er zu schielen und wurde ganz biestig im Gesicht. Mit einem wilden Satz sprang er zurück.

„Knochenmänner!“ ächzte er.

Hasard trat an den offenen Teil und blickte nach unten. Was er sah, ließ auch ihn für einen Augenblick erschauern.

Im Laderaum des Schiffes lagen, hockten oder saßen in verrenkten Stellungen menschliche Gerippe. Manche hatten keinen Schädel mehr, aber der lag dann meist in unmittelbarer Nähe. Einige Skelette trugen noch Fetzen modriger und faulender Kleidung und Uniformen. Fast der gesamte Laderaum war mit Gebeinen übersät.

Dem Profos stand immer noch der Schrecken im Gesicht. Er fühlte sich in seiner Haut nicht mehr wohl, und auf diesem Wrack erst recht nicht, weil er die Knochenmänner nahe wußte.

„Offenbar sind die armen Kerle ertrunken“, sagte der Kutscher. „Oder sie haben es nicht mehr rechtzeitig geschafft, nach oben zu gelangen.“

Hasard schüttelte ernst den Kopf.

„Ich weiß nicht, was sich hier abgespielt hat, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die Männer im Laderaum ertrunken sind. Was hat eine ganze Mannschaft ausgerechnet im Laderaum zu suchen? Nein, Kutscher, daran glaube ich nicht. Das paßt nicht zusammen.“

„Hast du eine andere Erklärung, Sir?“

„Leider nicht. Ich weiß nur, daß dies eine geheimnisvolle und reichlich mysteriöse Angelegenheit ist. Ich bin mir auch nicht sicher, ob wir das Rätsel lösen werden. Ich habe gezählt und bin dabei auf fast zwanzig Totenschädel gekommen, folglich zwanzig Männer.“

„Es kann sich um Gefangene gehandelt haben“, erwiderte der Kutscher.

„Das wäre möglich, obgleich es auch dafür keine Anzeichen gibt. Wenn man zwanzig Gefangene an Bord hat, dann schließt man sie in Ketten, wie die Dons das grundsätzlich tun, um kein Risiko einzugehen. Aber da unten liegen keine Ketten, da liegen nur die Gerippe.“

„Dann weiß ich nicht mehr weiter.“

Er blickte noch einmal hinunter und sah auf die Gebeine. Dann trat er kopfschüttelnd zurück.

„Sehr, sehr merkwürdig“, hörten sie ihn murmeln.

Hasard ging weiter nach achtern und grübelte über die Toten nach. Aber auf alle seine Fragen fand er keine vernünftige Antwort.

Sie öffneten ein weiteres Schott und blickten in den Raum. Es gab keinerlei Einrichtungsgegenstände, keinen Fetzen Kleidung, keine leeren Flaschen, nichts. Alles schien sorgfältig ausgeräumt worden zu sein. Dazu brauchte man aber wiederum Zeit, und die hatten sie bei einem plötzlichen Schiffbruch ganz sicher nicht gehabt.

Die anderen Kammern waren ebenfalls leer und total ausgeräumt bis auf die eingebauten Schapps.

Die Kapitänskammer hatte sich der Seewolf bis zum Schluß aufgehoben, in der Hoffnung, daß sich hier ein Hinweis finden würde.

Carberry ging nicht mit hinein. Ihn plagte die Vorstellung, daß der Kapitän als Skelett und in einer vermoderten Uniform auf der Koje liegen würde, und so hielt er sich lieber neben dem Schott auf.

Hasard erlebte allerdings gleich wieder eine Enttäuschung.

In der Kapitänskammer waren die Bleiglasfenster zerbrochen. Auf den Dielen lag feiner Sand, den der Wind hereingetrieben hatte. Es gab noch ein in den Boden verankertes Schreibpult, eine Koje und zwei eingebaute ebenfalls leere Schapps.

Auch hier fand sich absolut nichts – weder der Fetzen einer Seekarte noch eine Flagge oder irgendein anderer Hinweis.

Kopfschüttelnd sahen die Männer sich an. Hasard zuckte mit den Schultern.

„Auch nichts, keinerlei Hinweise. Es kann aber sein, daß diese Insel bewohnt ist und Eingeborene alles ausgeräumt haben. Die Mannschaft hat man umgebracht und in den Laderaum geworfen. Das ist die einzige Erklärung, die ich habe. Seitdem haben sich die Eingeborenen nicht mehr um das Wrack mit den Leichen gekümmert.“

„Das ist durchaus annehmbar“, stimmte der Kutscher zu. „Das bedeutet für uns also größte Vorsicht. Kann ja sein, daß diese Leutchen in den fruchtbaren Seitentälern des Berges hausen und besonders aggressiv sind.“

„Ja, mit der Möglichkeit müssen wir rechnen. Möglicherweise hat man uns längst entdeckt und wartet auf eine günstige Gelegenheit.“

Dan O’Flynn ging noch einmal nach oben auf das Achterdeck. Dann schlug er sich auf die Schenkel, daß der Profos verstört herumfuhr.

„Was ist los?“

„Ein Kompaß, ich habe einen Kompaß gefunden“, sagte Dan. „Was sagt ihr dazu?“

Der Seewolf war mit einem Satz auf dem Achterdeck.

Dort stand ein Kompaßgehäuse samt funkelndem Inhalt. Es war mit Nägeln in den Planken befestigt und mit Kupferblech verkleidet.

„Das ist besser als jeder Schatz“, sagte Hasard. „Und er funktioniert prächtig. Damit haben die Kerle wohl nichts anfangen können.“

Er rüttelte an dem Gehäuse, erst schwach, dann stärker. Als Dan und der Profos auch noch mithalfen, konnten sie das Kompaßgehäuse aus den lockeren Planken reißen.

 

„Dann haben wir doch noch einen Schatz gefunden“, sagte Hasard.

„Den nehmen wir gleich mit.“

„Haben wir alles meiner Neugier zu verdanken“, erklärte Carberry stolz.

„Er nun wieder“, sagte der Kutscher, „aber es stimmt.“

Der „Schatz“ wurde vorsichtig über die Decks gebracht und mit einem Tampen nach unten gefiert. Der Kompaß funktionierte tatsächlich, und damit waren sie eine weitere Sorge los, denn jetzt hatten sie mit der Navigation keine Probleme mehr.

„Die anderen werden staunen, wenn sie das hören“, sagte der Kutscher. „Aber vielleicht glauben sie es gar nicht.“

„Der Kompaß ist Beweis genug. Kehren wir wieder zurück.“

Carberry lud sich das Monstrum auf den Rücken, warf noch einen schaudernden Blick auf das Wrack mit den Knochenmännern und marschierte los. Er hatte es ziemlich eilig.

Die anderen folgten und suchten wieder die Waldzone ab. Aber sie gelangten unbehelligt weiter und sahen niemanden.

Hasard vermutete, daß es in der Nähe noch weitere Inseln gab. Es bestand ja auch die Möglichkeit, daß Eingeborene von einer anderen Insel gelandet waren und das Schiff entdeckt hatten. Dann hatten sie die Mannschaft umgebracht und das Schiff geplündert.

„Das kann schon ein Jahr oder noch länger her sein“, sagte er. „Aber wir werden uns trotzdem vorsehen und doppelte Wachen aufstellen, um nicht nachts überrascht zu werden. Wir bleiben noch ein oder zwei Tage, versorgen uns mit Proviant und segeln dann weiter. Wenn die Insel nicht zu groß ist, können wir sie vielleicht noch runden.“

Nach einer knappen Stunde Fußmarsch waren sie wieder zurück. Die anderen staunten sehr, als sie den Profos sahen, und ihre Augen wurden noch größer, als sich das Gebilde als Kompaß entpuppte.

Jetzt stand der Weiterfahrt ins Land des Großen Chans nichts mehr entgegen. Sie hatten fast alles, was sie brauchten …

ENDE