Seewölfe Paket 27

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An Deck wurde jetzt vor Begeisterung gejohlt, doch dann war der Spuk zu Ende. Er verschwand so schnell, wie er begonnen hatte.

Nur in weiter Ferne zeigte sich noch einmal ein Fisch, dann war alles vorbei.

„Fünf Fische“, sagte der Kutscher, „immerhin fünf Fische. Aber leider werden davon nicht einmal zwei Männer satt.“ Er sah bedeutungsvoll in die Runde und erkannte den Hunger in den Gesichtern. Sie hatten wahrhaftig nicht mehr viel zu essen als das ekelhafte und immer schmieriger werdende Pökelfleisch, ein paar Kastanien und Mais. An den Schiffszwieback mochte er schon gar nicht denken. Der war nur bei Dunkelheit einigermaßen genießbar. Dann sah man die schwarzköpfigen Maden nicht, die sich darin tummelten.

„Na sicher sind es fünf Fische“, sagte Ferris Tucker, „fünf kleine, lausige Fische. Zu mehr hat es nicht gereicht, leider. Aber sollen wir sie wieder ins Meer zurückwerfen, nur, weil keiner davon satt wird?“

Der Kutscher schüttelte den Kopf und sah bedrückt auf die Fische.

„In gewisser Weise ja, Ferris. Wir sollten sie als Köder benutzen, um damit größere Burschen zu fangen. Mit diesen Fischen haben wir einen wirklich guten Köder, das hat die Jagd eben bewiesen.“

„Ein salomonischer Gedanke“, sagte Hasard. „So werden wir es auch halten. Wir nehmen sie als Köder, oder hat jemand Einwände?“

Niemand hatte Einwände, aber angesichts dieser zappelnden Fische glaubte jeder, seinen Magen überlaut knurren zu hören. Sie alle stellten sie sich gebraten oder gebacken vor.

„Also dann – auf zum Angeln!“ sagte Hasard.

Der Profos grinste ein bißchen schief.

„Wir könnten es mal so versuchen wie bei der Bergpredigt“, meinte er.

„Ich glaube jedenfalls, daß es da war, wie Pater David mal gesagt hatte. Da wurden auch viele Leute von ein paar Fischlein satt. Äh – ich meine nur so, Sir, man kann ja nie wissen.“

Der Seewolf sah seinen Profos lange an, der gottergeben und mit frommen Blicken in den wolkenlosen Himmel schaute.

„Ich glaube, wir haben niemanden, der so überzeugend reden kann, daß die anderen ihren Hunger vergessen“, meinte er. „Oder würden deine Argumente eine ganze Crew sättigen?“

„Wahrscheinlich nicht“, gab Carberry zu. „Obwohl ich immer ein sehr frommer Pilger war.“

„Deine Frömmigkeit wird dir sicher später einmal hoch angerechnet werden, wenn das Himmelreich nahe ist, mein Sohn. Und nun geh und wandele und bete zum Herrn, auf daß diese fünf Fischlein in einen sehr großen verwandelt würden. Das ist dann sehr überzeugend.“

Der Profos grinste bis an die Ohren. Er verstand sich wieder einmal prächtig mit seinem Kapitän.

Erneut wurden die Leinen ausgeworfen, diesmal mit einem Köder bestückt, bei dem die Hoffnung bestand, daß er nicht mit Verachtung gestraft wurde.

An diesem Tag schien der Herr wahrhaftig ein Einsehen zu haben, denn am späten Nachmittag fingen sie einen Brocken, den sie nur mit Hilfe von fünf starken Männern bändigen konnten. Der Fisch war groß und schwer und tobte wie besessen herum. Er zog und zerrte, bis die „Santa Barbara“ ganz langsam in Fahrt geriet.

Aber dann hatten sie ihn endlich geschafft. Batuti gab ihm den Rest, als er an der Oberfläche erschien. Er schoß ihm einen Pfeil in den Schädel, und dann hievten sie ihn an Bord.

Der Jubel über diesen unerwarteten Fang war groß. Mit Feuereifer wurde der riesige Fisch zerlegt und in handliche Portionen geschnitten.

„Das wird ein Festessen“, versprach der Kutscher freudestrahlend. „An diesen Tag werden wir uns noch lange mit Dankbarkeit erinnern.“

Seit langer Zeit konnten sie endlich wieder mal richtig zulangen, und das taten sie ausgiebig, denn niemand wußte, wann ihnen wieder so ein Glücksfall beschieden war.

8.

Am folgenden Morgen dachten sie an den Tag, aber keinesfalls mit Dankbarkeit, denn da waren fast alle krank.

Das kleinste Übel waren Magenschmerzen, über die etliche Männer klagten. Aber das war nur der Anfang.

Al Conroy litt unter Sehstörungen, ebenso Piet Straaten und Pete Ballie, die die Welt nicht mehr begriffen.

Sam Roskill, Jack Finnegan, Big Old Shane und Stenmark liefen mit leichenblassen Gesichtern herum und hängten sich über das Schanzkleid. Dabei wurden sie von heftigen Krämpfen geschüttelt.

Wieder andere hatten Koliken oder einen dumpfen Druck im Schädel, der mit anfallartigen Schmerzen verbunden war.

Selbst Hasard blieb nicht verschont. Immer wenn er seinen Blick auf einen Punkt konzentrierte, sah er grüne Sterne oder grelles Flimmern, bis alles vor seinen Blicken verwischte.

„Du lieber Himmel“, sagte der Kutscher mühsam, der unter ständigem Erbrechen litt. „Wir haben uns mit dem Fleisch des Fisches vergiftet. Und wir haben nicht mal ein Mittel dagegen.“

Hasard stand auf der Kuhl. Mal sah er den Kutscher doppelt, dann dreifach, dann zerfloß er zu einem breiten Schemen.

„Was jetzt, Kutscher?“ fragte er mühsam. „Was können wir tun?“

Der Kutscher dachte mühsam nach. Er spürte, wie sich sein Magen umkrempelte und alles nach oben kam. Wortlos stürzte er ans Schanzkleid und würgte.

Die Angst ging um auf der „Santa Barbara“, denn niemand wußte, wie gefährlich diese Vergiftung war und welche Folgen sie hatte. Da wackelten selbst so harten Kerlen wie Carberry oder Ferris die Knie.

Der Kutscher kehrte wieder zurück. Sein Gesicht war schweißüberströmt, und er rang nach Luft.

„Essig trinken, bis alles erbrochen ist“, flüsterte er, „die Mägen müssen leer werden. Aber das meiste ist wohl schon ins Blut gegangen.“

Hasard sah den Kutscher auf und nieder tanzen. Die Gestalt des Kutschers schien aus sich selbst herauszutreten wie ein Geist. Zwei Kutscher standen ihm plötzlich gegenüber, dann drei, und dann vier, die alle nacheinander wieder zusammenwuchsen. Der Seewolf schloß krampfhaft die Augen, um den Alptraum loszuwerden.

Mac Pellew hing ebenfalls über das Schanzkleid gebeugt. Er rülpste und jammerte, und wenn er zwischendurch Luft kriegte, dann verfluchte er das Schiff und alle Fische dieser Welt.

Hasard und der Kutscher holten Essig und gaben ihn den Männern zu trinken.

Später tönte Carberry herum, so eine große Kotzerei hätte es noch auf keinem Schiff der Welt gegeben, und er selbst habe sich dabei sehr geschämt.

Alle opferten der See mit leichenblassen Gesichtern, bis sie total abgeschlafft und erschöpft auf den Planken hockten.

Danach konfrontierte sie der Kutscher mit einer weiteren Medizin. Er gab ihnen Holzkohle, jede Menge, die er in einem Mörser zu Pulver zerstoßen hatte.

„Holzkohle habe ich noch nie in meinem Leben gefressen“, sagte Carberry erschöpft. „Ich hab’ mir die Seele aus dem Leib gereihert, jetzt langt es.“

„Du friß die Holzkohle“, sagte der Kutscher barsch. „Und wenn ich sie dir mit der Culverine ins Maul schießen muß.“

„Muß ich dann wieder kotzen?“ fragte Carberry kläglich.

„Nein – im Gegenteil“, sagte der Kutscher trocken. Er sah zu, wie der Profos das Zeug schluckte und würgte, bis er blau anlief. Dann wollte er es wieder ausspucken.

„Was passiert, wenn ich das Zeug nicht esse?“

„Dann kriegst du die Trockenstarre und siehst hinterher aus wie ein Stockfisch an der Leine. Dein Körper wird trocken und starr, und wir werden dich als Trockenmumie über Bord geben.“

Das half, denn vor dem Wissen des Kutschers hatte der Profos immer noch einen Heidenrespekt. Er wollte auch nicht als Trockenmumie an Bord herumliegen. Also schluckte er weiter.

Es dauerte einen weiteren Tag, bis die Halluzinationen und die Übelkeit langsam abklangen. Aber es hatte keine Ausfälle gegeben. Die Arwenacks waren wieder auf der Höhe, aber ihre Körper waren noch ausgelaugt und geschwächt.

„Dieser verdammte Fisch“, sagte der Kutscher. „Hinterher ist man immer schlauer. Ich werde jedenfalls kein Vieh mehr anrühren, das ich nicht genau kenne. Wir hätten uns den Tod holen können.“

„Ja, das hätte der Fall sein können“, gab Hasard zu. „Aber dank deiner Mittelchen haben wir es überstanden. Hat noch jemand Beschwerden irgendwelcher Art?“

Ernstliche Beschwerden hatte zum Glück keiner mehr. Da war nur noch eine gewisse Mattigkeit und Unlust, ein Erschöpfungszustand, der sich allmählich legte.

„Kräftiges Essen würde die Kerle jetzt wieder auf die Beine bringen“, sagte der Kutscher zum Seewolf leise, „aber das haben wir nicht. Wir müssen wohl noch einmal durch die Hölle.“

Der Seewolf nickte. Auch er sorgte sich immer mehr, denn noch hielt sie die entsetzliche Kalme gefangen. Mit jedem Tag wurden die Vorräte und das Wasser weniger. Es stand ihnen noch eine verdammt harte Zeit bevor.

Wieder verging ein Tag langsam und qualvoll. Es sah immer noch nicht so aus, als würde sich in den nächsten Tagen etwas ändern. Im Geiste sahen sie sich schon als Skelette an Bord liegen, wenn das letzte Trinkwasser verbraucht war.

„Wir werden das Schiff morgen schleppen“, sagte Hasard. „Wenn wir Glück haben, bringen wir es an den Wind. Wenn wir hier warten, werden wir nicht mehr sehr alt.“

Was das bedeutete, war jedem klar. Knochenarbeit, Schinderei und Plackerei, bei kräftezehrender Hitze und immer kleiner werdenden Rationen. Das würde auch ihre letzten Kräfte aufzehren. Aber es mußte sein, denn diese Flaute bedeutete ihren sicheren Tod. Lieber wollten sie vor Erschöpfung zugrunde gehen, als tatenlos herumzusitzen. Vielleicht wehte ja einige Meilen weiter ein Lüftchen, das all ihre Probleme lösen würde.

An diesem Tag ruhten sie noch aus und verdünnten das bißchen Wasser, das sich noch in den Fässern befand mit ein wenig Seewasser, um es zu strecken.

 

Am nächsten Morgen wurden beide Jollen vorgespannt, und damit begann ein höllischer Törn, als die „Santa Barbara“ aus der Kalmenzone geschleppt wurde.

Hasard ließ weiter nach Norden trecken, wo er Wind erhoffte. Er mußte sich dabei auf sein Gespür verlassen. Wenn das versagte, dann waren sie erledigt. Aber sie hatten abgestimmt, wie immer in derartigen Situationen, und jetzt pullten sie die Galeone nordwärts.

Jeweils eine Stunde wurde gepullt, dann lösten sie sich ab.

Der Schweiß rann ihnen in Strömen über die Körper, als sie das schwere Schiff durch die glatte See schleppten. Die „Santa Barbara“ ging mit hängenden Segeln auf Nordkurs. Unendlich langsam bewegte sie sich im Takt der Riemen durch die See.

Den ganzen Tag über wurde gepullt. Immer wenn die Ruderer wechselten, legten sich die anderen erschöpft und ausgelaugt hin und schliefen wie Tote.

Sie hatten keinen Blick mehr für das Wasser. Mit gesenkten Köpfen pullten und pullten sie, bis die Körper schmerzten, bis es vor ihren Augen flimmerte und die Muskeln sich verkrampften.

Der Große Pazifik spielte sein tödliches Spiel mit ihnen. Er ließ sie in der bangen Ungewißheit, ob sie es schaffen würden oder nicht, ob sie sich die Seelen aus dem Leib pullten, oder ob sie endgültig auf der Strecke blieben.

Die Sonne schickte sich an, hinter der Kimm zu verschwinden. Hasard wollte das Zeichen zum Aufhören geben, doch die Männer wehrten ab.

„Noch ein paar Stunden“, sagte Carberry müde. „Wir pullen, bis wir nicht mehr können. Es ist vielleicht auch besser, wenn wir künftig nur noch nachts pullen. Dann entgehen wir der Hitze.“

„Eine gute Idee“, sagte Hasard, der selbst in der Jolle saß und die Riemen durchs Wasser zog.

Noch einmal legten sie sich in die Riemen, bis die Sonne nur noch ein winziger Strich auf der Wasserfläche war.

Da ließ sie ein Schrei zusammenfahren.

Dan O’Flynn richtete sich in der Jolle auf und zeigte voraus.

„Da vorn kräuselt sich das Wasser!“ brüllte er. „Noch eine knappe Meile, dann haben wir eine schwache Brise.“

Müde Augen richteten sich auf jene Stelle.

„Wahrhaftig“, sagte Hasard, „die See bewegt sich. Es hat den Anschein, als würde sich da tatsächlich etwas tun.“

Die verkrampften Gesichter entspannten sich. Schmerzgebeugte Rücken wurden gestreckt. Der Profos spuckte in die riesigen Fäuste.

„Auf“, sagte er heiser, „jetzt wollen wir es wissen. Entweder kriegen wir jetzt Wind, oder uns holt der Teufel. Langt noch mal kräftig ’rein, Männer.“

Die letzten Reserven wurden mobilisiert. Schwielige Fäuste packten zu, und dann brüllten sie ein dreifaches Hurra auf den Seewolf und dessen gutes Gespür.

Das Wasser um sie her kräuselte sich schwach. Über ihre schwitzenden Körper rann sekundenlang ein kühler Schauer. Das Geschenk des Himmels war da, aber es war hart erkämpft worden – bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit.

Die Schleppleinen hingen immer mehr durch, während die Sonne ihre letzten kupferfarbenen Strahlen über das Wasser sandte.

„Zurück an Bord!“ rief Hasard. „Und dann Schleppleinen los! Wir haben es geschafft.“

Jetzt war alle Müdigkeit wie weggeblasen. Die Augen leuchteten wieder, und die Hoffnung gab ihnen neuen Mut und Zuversicht.

In aller Eile wurde an Bord gepullt, die Jollen wurden auf gehievt.

Die Brise war deutlich spürbar, frisch und versprach neues Leben. In den Segeln war wieder Bewegung. Äolus blies hinein und straffte sie.

„Weiter auf Nordkurs“, sagte Hasard. „Wir brauchen noch mehr Wind, damit wir segeln können.“

„Und Land brauchen wir noch, damit wir leben können“, murmelte der Kutscher. „Aber das eine hängt vom anderen ab.“

Etwas später glitt die „Santa Barbara“ mit halbgefüllten Segeln in die Nacht. Die Arwenacks standen grinsend und erleichtert an Deck und genossen das Fäßchen Rum, das Hasard zur Feier des Tages spendiert hatte.

Zwei Tage nach der Flaute änderte sich ihr Leben und nahm eine neue Wende.

Gleich am frühen Morgen stellten die Ausgucks fest, daß sich voraus an der Kimm offenbar an einigen Stellen Nebel zu bilden begann. An drei Stellen waren Punkte zu sehen, die wie feine Gespinste wirkten, die auf der See zu schweben schienen.

Dan O’Flynn griff nach dem Kieker, Hasard ebenfalls. Sie hatten nur diese beiden Spektive an Bord.

„Eigenartig“, sagte der Seewolf, „direkt merkwürdig. Die Nebel wachsen buchstäblich zusammen. Hoffentlich steht uns da nicht eine neue Flaute bevor. Ich kann das Wort Windstille schon nicht mehr hören.“

Alle starrten gebannt nach vorn, wo jetzt nur noch ein merkwürdig anzusehendes Nebelgespinst auf dem Wasser schwebte. Mal war der weißliche Schleier kompakt, dann zerfaserte er wieder und streckte sich, als verberge sich dahinter etwas.

„Sollen wir darauf zuhalten?“ fragte Pete Ballie.

Hasard zögerte die Antwort hinaus. Schließlich nickte er widerwillig.

„Mal sehen, was es damit auf sich hat. Kann auch eine Untiefe sein, wo das Wasser wärmer ist. Kurs darauf, Pete. Kurz vorher drehen wir ab, falls es eine Nebelbank ist.“

Das seltsame Gespinst zerfaserte wieder. Eine gute Stunde lang segelten sie darauf zu, die Blicke pausenlos nach vorn gerichtet.

Dann brüllte aus dem Großmars die Stimme Blackys los. Er ruderte mit beiden Armen und fiel vor Freude und Begeisterung fast aus dem Mars.

„Land! Land voraus! Oh, verflucht, Mann, wir haben Land.“

Da hielt es niemanden mehr. Sie wußten, daß sie sich auf die Meldung verlassen konnten, aber sie wollten es mit eigenen Augen sehen, daß da tatsächlich Land war – Land, das sie solange entbehrt hatten, so daß sie bereits geglaubt hatten, es gäbe überhaupt kein Land mehr.

Sie flitzten nur so in die Wanten, und dann sahen sie es. Ungläubig blickten sie zu einem langgestreckten weißen Strand. Eine Brandungswelle war zu sehen, die an den Strand anrannte, aber von einem Riff gebremst wurde. An dem Korallenriff schäumte und brodelte das Wasser. Die Welle stürzte mit Donnergetöse darauf zu, brandete wild und schäumend auf und stob als gewaltige Gischtwolke auseinander.

Das Donnern war jetzt schon als leises Brausen zu hören und wiederholte sich in regelmäßigen Abständen.

Der Strand selbst wurde von langen Reihen Kokospalmen gesäumt, die ihre Wedel im frischen Wind bewegten.

„Eine Insel, die unbewohnt zu sein scheint“, meinte Dan zufrieden. Sie konnten sich an dem Anblick nicht satt genug sehen. Vor dem Korallenriff zerstob immer wieder der anfangs so mysteriös erscheinende Nebel und bildete sich an anderer Stelle neu.

Jetzt waren sie alle von freudiger Erwartung erfüllt, denn allein der Anblick der zahlreichen Kokospalmen versprach schon die Rettung aus der großen Misere. Kokosnüsse bedeuteten Leben, denn sie trugen die nahrhafte Milch in sich und das frische Fruchtfleisch, das sie wieder auf die Beine bringen würde.

Unter vollem Preß jagte die „Santa Barbara“ der Insel entgegen, die jetzt immer deutlicher und klarer zu erkennen war.

„Vielleicht bedeutet das auch gleichzeitig frisches, köstliches und kaltes Trinkwasser“, schwärmte der Profos. „Das wäre eine Wohltat, nachdem wir lange Zeit nur brackige und grüne Jauche geschluckt haben.“

Bei dem Gedanken an frisches Quellwasser lief ein erwartungsfroher Schauer über ihre Rücken. Fast andächtig sahen sie zu dem Land hinüber.

Eine malerisch gelegene Bucht war zu erkennen, ein Märchenstrand mit Palmen, eine donnernde Brandung.

Mit der „Santa Barbara“ konnten sie durch die Brandung nicht hindurch, aber mit der Jolle würde es klappen.

Hasard hatte erst vor, einen Teil der Insel zu runden, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen, doch er unterließ es, als er den wilden Hunger in den Gesichtern seiner Männer sah. Sie waren ganz versessen darauf, an Land zu gehen, um wieder einmal festen Boden unter den Füßen zu haben, Kokosnüsse zu pflücken und Trinkwasser zu suchen.

Wie die Insel hieß, der sie sich näherten, wußte allerdings niemand. Sie kannten sie nicht. Aber das war vorerst auch unwichtig. Diese Insel bedeutete Leben.

„Wir gehen vor der Korallenbank vor Anker“, sagte der Seewolf. „Und dann sehen wir uns genau um.“

Die Segel wurden aufgegeit, Carberry und drei andere lauerten schon darauf, den Anker zu setzen. Sie alle hatten es furchtbar eilig. Aber das war nach der langen Reise auch kein Wunder. Von der Insel erhofften sich alle das Paradies.

Als der Anker Grund faßte, war es für alle wie eine Erlösung.

Die große und die kleine Jolle wurden abgefiert. Den Arwenacks kribbelte es in den Fingern, wenn sie das nahe Land sahen.

„Wer darf denn alles an Land?“ erkundigte sich der Profos eifrig.

„Jeder, der will. Zwei oder drei Männer werden allerdings zurückbleiben. Sie können dann später an Land gehen und sich umsehen.“

Ben Brighton, Will Thorne und Old O’Flynn blieben freiwillig zurück. Die anderen enterten mit freudigem Gebrüll in die Jollen ab.

„Vorsicht bei der Brandung“, warnte Dan O’Flynn. „Wenn ihr nicht genau die richtigen Wellen abpaßt, landet ihr im Bach.“

Aber solche läppischen Kleinigkeiten störten sie nicht. Carberry, Ferris Tucker, Matt Davies und Luke Morgan knüppelten die Jolle durch das Wasser und konnten die Landung kaum noch erwarten. Es dauerte ihnen auch viel zu lange, die richtige Welle abzupassen, denn in der Brandung gab es einen gewissen Rhythmus, der das Hindurchgleiten ermöglichte.

Vor ihnen rauschte und donnerte es laut. Gerade brach sich die Welle mit Getöse. Alles verschwand sekundenlang in einer riesigen Wolke aus hochstiebender Gischt.

„Ha, die setzt uns genau am Strand ab“, prophezeite der Profos, als das nächste schaumige Ungetüm herandonnerte.

Er hatte sich jedoch verrechnet, der Profos. Das erwartungsvolle Grinsen verging ihm von einem Augenblick zum anderen.

Die donnernde Walze erfaßte die Jolle, hob sie hoch und trieb sie brüllend und schäumend vor sich her. Die Arwenacks hielten die Luft an und warteten gottergeben, denn das war das einzige, was sie jetzt noch tun konnten. Zwei, drei Sekunden lang hofften sie noch, das brüllende Monstrum würde sie in rasender Fahrt weiterschieben. Dann erkannten sie ihren Irrtum.

Urplötzlich kippte die Welle um. Ein riesiges Gebirge türmte sich auf, donnerte, brüllte und zischte wie ein rasender Höllenhund.

Der Profos brüllte mit. Er brüllte, die anderen sollten sich festhalten, doch seine Brüllerei wurde mühelos von dem gewaltigen Brausen übertönt. Sie hielten sich sowieso ganz automatisch fest und ließen erst los, als die Jolle unter Wasser gedrückt wurde.

Dann wurde es ziemlich eng für sie. Ferris schoß wie ein Hai durchs Wasser, wurde hin und hergedreht und fand sich Augenblicke später dicht vor dem Strand wieder. Der Profos stieß wie ein angesengter Hammerhai aus dem Wasser, schnappte empört nach Luft und griff haltsuchend um sich. Aber da gab es keinen Halt, nur Schaum und brodelnde See. Edwin Carberry ging wieder fluchend auf Tiefe. Danach rollte er wie eine Kugel auf den Strand zu. Als er sich erhob, warf ihn die folgende kleinere Welle noch einmal um.

„Ei, ei, das war aber knapp“, brummte er. „Wo ist denn die Jolle geblieben?“

Die Jolle trieb kieloben in der See. Kräftige Fäuste packten zu, drehten sie um und schoben sie zum Strand.

Die andere Jolle war noch unterwegs, hatte die Brandung geschafft und näherte sich ihnen. Carberry tönte schon wieder herum.

„Da sieht man mal, was richtige Schlagmänner sind. Wir waren jedenfalls zuerst am Strand, was, wie?“

„Und was habt ihr davon?“ fragte Dan O’Flynn trocken.

„Ja, was haben wir davon?“ murmelte der Profos und wischte sich das Salzwasser aus dem Gesicht. „Immerhin haben wir den Besitzanspruch auf diese Insel, die wir als erste betreten haben.“

Darüber freuten sie sich alle, weil sie jetzt eine neue Insel hatten. Daß die aber schon besetzt war, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch keiner.

„Ist es dann gestattet, euer Land betreten zu dürfen?“ erkundigte sich Dan ironisch.

Der Profos gestattete es huldvoll. Dann setzte er zu einem schnellen Spurt auf die Kokospalme an.

Da hingen sie, die Dinger, verheißungsvoll mit ihrer frischen Milch und dem saftigen Fruchtfleisch. Ed, Ferris, Matt und Big Old Shane begannen, an dem kräftigen Stamm zu rütteln. Sie taten das mit einer Kraft, als wollten sie die Palme aus dem Boden rupfen. Hoch über ihnen im Wipfel rauschte es dumpf, dann begann es zu regnen, schöne schwere Kokosnüsse.

 

Boing! Der Profos hörte etwas krachen und sprang zur Seite. Leider war er nicht schnell genug. Er sah auch noch einen rötlichen Nebel und wackelte taumelnd herum. Sein Blick war etwas durcheinandergeraten, und so stolperte er von einem zum anderen.

„Der Büffel muß doch immer alles mit Gewalt angehen“, hörte er eine tadelnde Stimme. „Und dann wundert er sich, wenn ihm was auf die Glocke fällt.“

Wie durch einen Schleier hindurch sah er die Kerle grinsen und feixen. Wahrhaftig, da war ihm tatsächlich eine Kokosnuß auf den Dachstuhl gefallen.

„Mann, hab’ ich heute ein Pech“, murmelte er erschüttert. Aber dann griff er hastig zu, als ihm Matt Davies eine Nuß reichte, die er gerade aufgeschlagen hatte.

Schlürfend standen rund dreißig Kerle am Strand und labten sich voller Behagen. Eine Nuß nach der anderen wurde geköpft und leergetrunken. Die zurückgebliebenen Männer auf der „Santa Barbara“ wunderten sich lediglich darüber, daß die Kerle die Schalen nicht gleich mitfraßen. Die Schlürferei war bis an Bord zu hören.

Hasard und der Kutscher ließen sofort weitere Nüsse zusammentragen und zu einem Haufen aufschichten. Dann pullten vier Mann mit der kleinen Jolle zurück an Bord und luden die Kostbarkeiten ab, damit die anderen nicht so lange warten mußten.

Dann wurde die erste Exkursion vorgenommen. Trinkwasser sollte gesucht werden.

„Die Insel verspricht einiges“, sagte Hasard. „Sie ist bergig, und es wird meiner Ansicht nach tiefeingeschnittene Täler geben. Dort werden wir ganz sicher auch Trinkwasser finden.“

Einer der Gipfel war von hier aus schon zu sehen. Seine Spitze war in feinen Nebel gehüllt, er war mindestens tausend Yards hoch, wie allgemein geschätzt wurde.

Der Kutscher blieb nach einigen Schritten stehen und deutete voraus.

„Brotfrüchte“, sagte er heiser. „Brotfruchtbäume mit Früchten. Die haben wir schon einmal auf einer Insel im Pazifik gefunden. Allein damit löst sich eins unserer größten Probleme.“

„Jetzt fehlt nur noch Fleisch“, sagte Paddy Rogers, aber da warf ihm der Kutscher einen so strafenden Blick zu, daß Paddy seine Freßsucht vergaß und krampfhaft schluckte.

Sie besahen sich die Brotfruchtbäume aus der Nähe und waren dankbar für diese Gabe der Natur. Ohne diese Insel hätten sie nicht mehr sehr lange durchgehalten.

Als sie weitergingen, stießen sie immer wieder auf neue Überraschungen und konnten sich kaum sattsehen. An einer Stelle fanden sie einen kleinen Wald voller Brotfruchtbäume, jeder etwa fünfzehn Yards hoch und mit schweren Früchten behangen. Aber auf der Insel wuchsen auch Papayas, Bananen, Mangos und Taro, wie sie voller Freude zur Kenntnis nahmen.

Der ganze Trupp hielt jetzt in Richtung auf den Berg zu. Das hier war die Luvseite der Insel, wo jetzt in den ausladenden Tälern dichter Regenwald stand. Etwas weiter voraus wallten immer wieder Nebelschwaden hoch.

„Da rauscht was“, sagte der Kutscher plötzlich erregt. Und dann lief er auch schon los.

Zehn Minuten später hatten sie das heiß ersehnte Trinkwasser endlich gefunden. Es drang als Quelle aus den Bergen und floß in einem Tal zusammen. Dort bildete das Quellwasser einen Bach, der über bemooste Platten stürzte, einen winzigen See bildete und später wieder unterirdisch verschwand.

Jetzt hatte sogar der Seewolf leuchtende Augen.

Der Zustand der Ergriffenheit hielt allerdings nicht lange an – dazu war der Durst zu übermächtig. Jetzt, folgte das, was sie später als „Wasserschlacht“ bezeichneten. Voller Freude und mit lautem Gebrüll stürzten sich alle Mann der Länge nach in den Bach, dessen Wasser kalt, herrlich, köstlich und frisch war. Die wüste Planscherei dauerte eine gute halbe Stunde. Dann hatten sie alle ansehnliche Bäuche und konnten kaum noch laufen.

Hasard schickte eine Gruppe zu dem Schiff zurück. Sie sollten gleich mit dem Einsammeln von Früchten beginnen und Wasserfässer an Land schaffen.

„Wir werden ein paar Tage hierbleiben, Wasser fassen, Früchte sammeln, fischen und die Insel erkunden“, sagte Hasard. „Nach den Strapazen dieser Reise haben wir es verdient.“

Die Arwenacks stimmten erfreut zu. Es war wirklich ein langer Törn durch den Pazifik gewesen. Ein paar Tage Ruhe und Erholung würden allen guttun, denn diese Insel bot alles, was sie zum Leben brauchten.

Jetzt noch weiter in die Täler und Regenwälder vorzudringen, hielt Hasard für wenig sinnvoll. Sie hatten alles das fast auf Anhieb gefunden, was sie so sehr entbehrt hatten. Die Exkursion in Richtung der Berge würde sich auch recht schwierig gestalten und kaum neue Erkenntnisse bringen.

„Wir sehen uns mal weiter unten am Wasser um“, schlug Hasard vor. „Da wir ohnehin Zeit genug haben, können wir später immer noch zu einer kleinen Erkundung ins Innere aufbrechen. Möglicherweise ist diese Insel sogar bewohnt.“

Als sie umkehrten, kam ihnen schon der andere Trupp entgegen. Sie hatten Wasserfässer und Jutesäcke dabei. Einige waren mit dem Einsammeln von Früchten beschäftigt, die anderen füllten frisches Wasser in die mitgebrachten Fässer.

„Wir gehen etwa eine Meile weiter“, sagte Hasard zu Shane. „Danach kehren wir zurück und wechseln die Mannschaften, damit sich jeder in Ruhe umsehen kann.“

Big Old Shane nickte. Auch er sah sich immer wieder staunend um.

„Ben, Will und Donegal waren mächtig überrascht, als wir gleich wieder aufkreuzten. Sie konnten es kaum glauben, daß wir offenbar das Paradies gefunden haben“, berichtete Shane.

„Sie können nachher ja auch an Land und sich alles ansehen.“

Sie zogen weiter, winkten den Zurückgebliebenen zu und marschierten am Strand entlang.

Bis auf das Donnern der Brandung war es auffallend still und ruhig. Sie sahen auch keine Seevögel. Der Strand lag vor ihnen, als sei er noch nie von einem Menschen betreten worden.

Dennoch sahen sie sich immer wieder nach allen Seiten um und blickten auch in die Wildnis, die gleich hinter den Palmen begann. Das Rauschen der Brandung wurde leiser, je weiter sie sich entfernten. Hinter einer Landzunge war es nur noch als leises Murmeln zu hören. Offenbar war es das einzige Riff weit und breit.

Wieder bot sich ihren Blicken ein einzigartiges Bild von tropischer Schönheit.

Ein weißer, unberührter und jungfräulicher Strand lag vor ihnen, der etwa achtzig Yards breit war. Kokospalmen, in deren Gipfeln leise der Wind raunte, standen dicht an dicht. Dahinter begann fast übergangslos Wildnis und Regenwald, der von dem hohen, nebelumhüllten Berg überragt wurde.

„Das ist die reinste Erholung“, meinte der Kutscher. „Das habe ich mir wochenlang vorgestellt und gewünscht.“

Er lief ans Wasser hinunter und sah hinein. Dann schlug er verzückt die Hände zusammen.

„Seht mal her!“ rief er, ins seichte Wasser deutend. „Da tummelt sich alles, was Abwechslung in unseren Speisezettel bringt!“

Sie sahen ins Wasser, auf dem sich die Sonne spiegelte.

In einer Tiefe von nicht mehr als einem Yard tummelten sich riesige Langusten und Krebse, bei deren Anblick den Arwenacks das Wasser im Munde zusammenlief.

„Und Seegurken gibt es!“ schrie der Kutscher freudig. Soviel Glück auf einmal konnte er gar nicht fassen.

Der Profos warf einen Blick auf die Seegurken und rümpfte die Nase.

„Was willst du denn damit?“ fragte er mißtrauisch. „Soll einer den Kram vielleicht essen? Aber ohne mich! Da sind mir die Langusten und Krebse viel lieber.“

„Was der Bauernlümmel nicht kennt und so weiter“, sagte der Kutscher tadelnd. „Von den Seegurken nehmen wir mit, was wir erwischen können. Das wird unser Notproviant.“

„Willst du die vielleicht in Essig einlegen und uns später verklaren, daß es richtige Gurken seien?“ fragte Carberry. „Das kannst du mir aber nicht unterjubeln. Außerdem sehen die Dinger aus wie der reinste Alptraum.“

Der Kutscher, immer um das Wohl der Mannschaft besorgt und ein Mann, der improvisieren konnte, schüttelte den Kopf. Etwas vorwurfsvoll sah er den Profos an.