Seewölfe Paket 27

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5.

Es war nur eine kurze Besprechung. Sie konnten bis zum Dunkelwerden nicht mehr unternehmen, als die Nachbarinseln drüben im Westen zu beobachten. Leider lag die Sarangani-Insel nicht östlich querab von der Balut-Insel, sondern etwas nördlicher, so daß sie von ihrer Insel aus den Stützpunkt der Holländer an der Südküste nicht sehen würden. Aber vielleicht entdeckten sie doch etwas, das für ihre weiteren Planungen wichtig war.

Mit Proviant und Spektiven bewaffnet setzten Hasard, Don Juan und Dan O’Flynn zum Strand über und stiegen zwischen den Felsen auf. Es war ein beschwerlicher Weg durch eine wilde Natur, die aller Wahrscheinlichkeit nach noch keines Menschen Fuß je betreten hatte.

Mehrmals mußten sie umkehren und nach einem neuen Aufstieg suchen. Entweder taten sich Klüfte auf, die nicht zu überbrücken waren, oder sie standen vor Steilwänden, an denen nur ein Wahnsinniger hochklettern würde – oder ein Selbstmörder.

Sie gerieten ganz schön ins Schwitzen, zumal die Sonne höher stieg und mit ihrer Glut die Ostseite der Insel in einen Backofen verwandelte. Unten in der Bucht war es angenehm kühl gewesen – durch das Wasser und die hohen, schattenspendenden Felswände.

Die Galeone und die beiden Schaluppen sahen allmählich wie kleine Spielzeuge aus. Die Mannen auf den Decks schrumpften zu Zwergen und noch kleineren Figürchen, je höher die drei gelangten.

Aber dann wurden sie für die Plackerei entschädigt. Sie erreichten ein kleines Bergplateau, das einem Burgturm nicht unähnlich war. Felsen umgaben wie Zinnen die etwas oval geformte Fläche. Hier endlich war der Wind wieder spürbar und brachte Abkühlung.

Doch das war alles unwesentlich gegenüber dem gewaltigen Panorama, das sich ihren Augen darbot. Der unendlich weite Blick über die See wurde nur im Norden – nach Nordwesten im Dunst verlaufend – von den Küsten Mindanaos begrenzt und im Westen von der Nachbarinsel. Sonst war da die See – und das auf einer Fläche, die in die Unendlichkeit zu reichen schien. Sie zeigte ein gleichmäßiges Wellenmuster, das blinkte und glitzerte und dennoch erstarrt erschien.

Sonst sahen sie die See unmittelbar und nur von der Höhe ihrer Schiffsmarsen. Sie „klebten“ auf dem Wasser. Doch hier waren sie auf der Flughöhe der Seevögel und „schwebten“ über der See.

Sie waren stumm und starrten. Der Westwind strich über sie weg und ließ ihre Haare flattern. Dann brach Don Juan das Schweigen.

„Phantastisch“, murmelte er, und seine Stimme klang belegt. „So etwas habe ich noch nicht gesehen. Was sind wir? Winzlinge in dieser Weite, kleine miese Kakerlaken.“

Hasard warf ihm einen Blick zu. „So kann man das natürlich auch bezeichnen – je nachdem, wie man das betrachtet. Die Kakerlake hält uns wahrscheinlich für Riesen.“

„Ich könnte hier Tage verbringen“, sagte Don Juan. Er schien etwas berauscht zu sein.

Dan O’Flynn, bisher schweigsam, sagte trocken: „Für die Nächte würde ich das auch nicht empfehlen. Da wird’s hier oben lausig kalt.“

Er erntete einen schiefen Blick von Don Juan, aber das bemerkte er nicht. Er war an einen etwa brusthohen Felsen am Westrand des Plateaus getreten und spähte durch den Kieker zur Nachbarinsel hinüber. Den Proviantsack hatte er abgelegt.

„He-he!“ sagte er erstaunt. „Da wird ja auch gerodet!“

Hasard und Don Juan traten zu ihm und spähten ebenfalls durch ihre Spektive.

„Tatsächlich“, sagte Hasard, und dann fügte er grimmig hinzu: „Aber etwas ist anders, nicht wahr? Die Mijnheers schauen zu, und andere müssen schuften, offenbar Gefangene. Und sie entästen die Bäume auch. Soll wohl Bauholz werden. Ah – da wird auch eine Peitsche geschwungen! Siehst du’s, Dan?“

„Ja. Diese Bastarde! Das hört und hört nicht auf – irgendeiner ist immer der Geschundene, weil der andere mächtiger und stärker ist und seine Macht auskosten muß. Gestern die Spanier, heute die Holländer und morgen andere Fronherren. Wir Engländer brauchen uns da gar nicht auszuklammern.“ Dan O’Flynn redete sich in Wut. „Aufhängen sollte man diese Mistkerle! Der Teufel soll sie holen! Und wir schwärmen hier über den herrlichen Rundblick!“

Ja, dieser herrliche Rundblick war ihnen vermiest. Die rauhe Wirklichkeit hatte sie wieder im Griff. Sie war nicht nur rauh, sondern auch böse. Es gab keinen Frieden.

„Es sind auch Frauen dabei“, sagte Don Juan gepreßt, „braunhäutige Frauen. Ob es jene sind, die entführt wurden?“

„Glaube ich nicht“, sagte Hasard hart.

„Warum nicht?“

„Weil sie erst ihren Spaß mit den Frauen haben wollen. Mit abgearbeiteten, abgezehrten und entkräfteten Frauen haben sie den nicht. Die Mädchen spannen sie dann in ihren Frondienst ein, wenn sie ihrer überdrüssig sind. Eher nicht. Aber beides ist schlimm genug, Entehrung und Schändung genauso wie Fronarbeit unter barbarischen Schergen.“ Er schwieg einen Moment und setzte dann fast wütend hinzu: „Was sind wir doch für liebe Menschen, wenn ich daran denke, daß wir unseren Gefangenen, den Kerl, der vor Toten ausspuckt, hegen und pflegen. Jetzt hat er Sumpffieber, liegt in einer Achterdeckskammer und wird gepäppelt, der Ärmste. Aber sein Sündenregister dürfte das gleiche sein wie das der Peitschenschwinger dort drüben.“

„Ich zähle fünfzehn Aufpasser und siebzehn Gefangene, davon fünf Frauen“, sagte Dan O’Flynn. „Ein feines Verhältnis. Da hat nahezu jeder seinen Privatgefangenen, den er kujonieren kann. Für eine Flucht besteht nicht die geringste Chance, außerdem ist ringsum Wasser, und in der Bergwildnis würde man über kurz oder lang umkommen.“

„Mich interessiert, ob du irgendwo einen festen Ausguckposten entdecken kannst, Dan“, sagte Hasard. „Außerdem empfehle ich, daß ihr euch den Küstenverlauf – soweit er einsehbar ist – einprägt.“

Sie nickten, und für eine Weile herrschte Schweigen, während sie die Nachbarinsel Stück für Stück mit den Spektiven regelrecht abtasteten.

Dan O’Flynn wurde mit seinen scharfen Augen fündig. Er entdeckte im Südosten der Insel unweit der Küste einen felsigen Bergkegel – ähnlich ihrem derzeitigen Beobachtungsstandort –, und auf dem bewegte sich eine Gestalt, offenbar ebenfalls mit einem Spektiv bewaffnet. Einmal blitzte es auf, als der Kerl mit dem Kieker die östliche Kimm absuchte und das Sonnenlicht auf die vordere Linse fiel. Oder die Messinghülse hatte das Licht reflektiert.

Sie reagierten automatisch, duckten sich ab und suchten Positionen, die ihnen Deckungen nach Südwesten boten. Hasard umwickelte sein Spektiv mit einem Halstuch. Dan O’Flynn und Don Juan folgten seinem Beispiel.

Hier oben, über der Zone des Regenwaldes, wuchsen Fichten und Nadelhölzer, letztere zum Teil in buschiger Form. Sie waren es, die ihnen Deckung verschafften.

Natürlich mußten sie vorsichtig sein, und sie bewegten sich so wenig wie möglich. Aber Hasard ging davon aus, daß der Posten dort drüben die See beobachten sollte – logisch, denn wer auch immer die Insel aufsuchte, er mußte sich von See her nähern. Insofern war die Nachbarinsel Sarangani uninteressant für den niederländischen Ausguck.

Aber eins stand fest: Wer auch immer tagsüber in Sichtweite der Insel geriet, er würde bemerkt werden, und zwar frühzeitig, wenn der Ausguck nicht gerade schlief. Und die Mijnheers würden genug Zeit haben, sich auf den Besuch einzustellen. Wenn es ein feindlicher Besuch war, konnten sie sich in aller Ruhe auf eine Abwehr einrichten.

Bedauerlich war, daß die drei Männer nichts von dem Stützpunkt sahen. Die Südküste der Balut-Insel blieb ihren Blicken verborgen. Eins wußte Hasard bereits. Als er kurz nach dem Ankern nach dem Fieberkranken geschaut hatte, war auch der Kutscher erschienen und hatte ihm berichtet, daß er Marten de Groot ein bißchen ausgehorcht hätte, als der am Phantasieren gewesen war.

Danach hatten die Mijnheers an der Südküste Baluts auf einer in die See vorkragenden Felsnase ein Kastell mit Wehrtürmen errichtet und unterhalb des Kastells einen kleinen Hafen angelegt. Abgeschirmt wurde das Kastell von riesigen Palisaden, dreimal so hoch wie ein Mann. Zum Hafen hin befand sich in der Palisadenumwehrung als Ein- und Ausgang ein massives Tor mit zwei Flügeln.

Nach allem, was Hasard vom Kutscher vernommen hatte, mußte dieses Inselkastell eine verdammt harte Nuß sein, die nicht so ohne weiteres zu knacken war. Daß de Groot bei seinen diesbezüglichen Aussagen übertrieben hatte, glaubte Hasard nicht. Die Holländer waren gründliche und geschickte Handwerker, erfahren im Deich- und Brückenbau, und wenn die so ein Kastell errichteten, dann mußte das ein solider, gut durchdachter Bau sein, keine Bruchbude, die beim ersten Ansturm umfiel wie ein Kartenhaus.

„Was meinst du, Dan“, fragte er, „kann der Ausguck auf dem Bergkegel auch seine Kumpane und die Gefangenen beim Roden beobachten?“

Dan spähte hinüber und erwiderte: „Kaum. Dort ist ja Wald. Allenfalls sieht er, wenn ein Baum umstürzt. Außerdem ist ihm zum Teil die Sicht versperrt, denn zwischen dem Bergkegel und dem Wald ragen ziemlich hohe Felsen mit weiterem Baumbestand auf. Nein, ziemlich ausgeschlossen, daß er was sieht. Warum fragst du?“

„Ich dachte daran, erst die Gefangenen zu befreien, bevor wir die Brechstange nehmen. Wenn sie auch nachts arbeiten müßten, wäre das kein Problem, aber da gönnt man ihnen wohl den Schlaf, damit sie am nächsten Tag wieder frisch zum Weiterschuften sind – was man so frisch nach deren Begriffen nennt, nicht wahr? Also müssen wir die Sache leider bei Tage durchführen, was uns wiederum zwingt, dort drüben nachts zu landen, natürlich mit den Schaluppen, und diese gut zu verstecken, möglicherweise an der Nordküste.“

„Wenn wir mit den Schaluppen und den befreiten Gefangenen zunächst nordwärts verschwinden, sieht uns der Ausguck auf dem Bergkegel“, wandte Dan O’Flynn ein.

 

„Nicht, wenn wir zu Beginn der Abenddämmerung abhauen.“

„Ach so.“ Dan O’Flynn nickte. „Dann befreien wir sie also am späten Nachmittag oder frühen Abend. Richtig?“

„So ungefähr.“

„Dann landen wir in dieser Nacht?“ fragte Don Juan.

„Es bleibt uns nichts anderes übrig“, erwiderte Hasard. „Dabei wird ein kleiner Trupp die Zeit gleich ausnutzen und beim Kastell herumschnüffeln. Zum Morgen hin wird er sich zu den Schaluppen zurückziehen, und dann können wir den Tag verdösen bis zum Nachmittag. Der Überfall auf die Aufpasser muß blitzartig und geräuschlos erfolgen. Wir werden das mit fünfzehn Mann anpacken.“

„Nehmen wir die Kerle gefangen?“ fragte Don Juan wie beiläufig.

„Die Frage gebe ich zurück“, sagte Hasard. „Was würdest du denn tun?“

„Es sind Mörder und Frauenschänder“, entgegnete Don Juan. „Jedes ordentliche Gericht würde sie zum Zappeltod am Galgen verurteilen, und dieses mehrfach, wenn es ginge.“

„Das ist das eine Argument“, sagte Dan O’Flynn. „Das andere ergibt sich daraus, daß beim Angriff auf das Kastell fünfzehn Strolche weniger gegen uns kämpfen können. Militärisch ausgedrückt, nennt man das Schwächung der Kampfkraft des Gegners. Damit sind auch schon Schlachten entschieden worden. Übrigens sprach Juan von Mördern und Frauenschändern. Korrekt müßte der Begriff ‚Mörder‘ noch auf Kinderschlächter erweitert werden.“ Er blickte Hasard aus fast kalten Augen an. „Solltest du befehlen, diese Galgenstricke nur kampfunfähig zu machen – und ich bin bei dem Unternehmen dabei –, dann werde ich diesem Befehl nicht gehorchen. Die Kerle haben einen mehrfachen Tod verdient.“

„Und du bist ihr Richter, wie?“ fragte Hasard ruhig.

„Ja, Richter und Henker.“

„Zum Töten gebe ich keine Befehle“, sagte Hasard. „Wenn du tötest, dann ist das deine Entscheidung, für die du dich eines Tages vor einem anderen höheren Richter zu verantworten hast. Jeder handelt so, wie es ihm sein Gewissen befiehlt. Ich bin nicht euer Gewissen. Ich wiederhole: Es ist eure Entscheidung. Ich habe nicht die Absicht, die Kerle gefangenzunehmen. Sie sollen kampfunfähig gemacht werden, und das gründlich. Dann fallen sie sowieso aus, wenn wir das Kastell angreifen. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.“

„Schon gut“, murmelte Dan O’Flynn.

Sie beobachteten den ganzen Tag. Gegen Mittag wurde der Ausguck abgelöst, ein anderer zog auf. Die Gefangenen durften etwa fünf Minuten Pause einlegen, dann wurden sie wieder an die Arbeit getrieben. In dieser kurzen Pause drängten sie sich um ein Faß, das offenbar Wasser enthielt. Zu essen erhielten sie nichts. Dafür stopften die Aufpasser alles mögliche in sich hinein – und den Gefangenen blieb nur das Zuschauen. Dann ging die Schinderei weiter. Kurz vor der Abenddämmerung wurde die Arbeit abgebrochen. Die Gefangenen schleppten sich, offenbar über einen Pfad, südwärts, weiterhin scharf bewacht.

Die drei Männer stiegen zur Bucht ab.

Als es dunkel war, verließen die beiden Schaluppen die Bucht und wurden nach draußen auf die See gepullt, wo die Mannen die Segel setzten und zunächst auf Nordkurs gingen.

Ben Brighton blieb mit einer fünfzehnköpfigen Crew auf der „Santa Barbara“ in der Bucht zurück. Am nächsten Tag würde ein Ausguck oben das Plateau besetzen, auf dem Hasard mit Dan und Don Juan gewesen war, und beobachten, wie alles verlief. Auf diese Weise war sichergestellt, daß Ben Brighton Maßnahmen ergreifen konnte, sollte die Befreiungsaktion aus irgendwelchen Gründen fehlschlagen oder Hasards Mannen in Bedrängnis geraten.

Hasard befand sich an Bord von Dan O’Flynns Schaluppe. Mit Hinblick auf die lange Nacht und den ganzen nächsten Tag war entsprechender Proviant mitgenommen worden. Ebenso mangelte es nicht an ausreichender Bewaffnung und der dazugehörigen Munition. Die Männer wußten, um was es ging.

Als die Nordspitze von Sarangani etwas achterlicher als Backbord querab lag, ließ Hasard hart an den Wind gehen, um Höhe zu gewinnen. Dann wurde gewendet und Kurs auf die nördliche Ostküste der Nachbarinsel genommen. Der Wind wehte nach wie vor aus Westen. Sie konnten die Küste gut anliegen. Sie hatte auf ihrer nördlichen Hälfte einen Verlauf von Nordwesten nach Südosten. In der Mitte knickte die Ostküste, die Sarangani zugewandt war, in die Nord-Süd-Richtung ab.

Ziemlich genau fand Hasard jene Bucht, die er sich von der Tagesbeobachtung her gemerkt hatte und ihm passend erschienen war, um die Schaluppen dort zu verstecken. So leicht würde sich von Süden her niemand dorthin verirren. Denn knapp südlich dieser Bucht versperrte eine Steilküste den Weg am Strand entlang. Wie bequem der Weg weiter binnenwärts zu der Bucht war, mußte ergründet werden. Auf jeden Fall handelte es sich um Dschungel, und der lud zu alles anderem als zu einem Spaziergang ein.

So betrachtet, mußte diese Bucht vor möglichen Besuchern sicher sein. Hasard hatte auch nicht gesehen, daß die Holländer nach Norden hin Erkundungen oder Wanderungen unternahmen. Die Küste war steinig und felsig, lange Sandstrände gab es nicht, und landeinwärts wucherte der Urdwaldverhau.

Sie nahmen die Segel weg und pullten mit den Langriemen in die Bucht, wo sie ankerten und ein Beiboot aussetzten, von dem der Spähtrupp an Land gebracht wurde: Hasard, Batuti, Don Juan und Gary Andrews. Die restlichen elf Mannen konnten sich zur Ruhe niederlegen. Ein Mann zog als Ankerwächter auf.

Hasards Truppe begann den Marsch durch den Dschungelverhau. Sie mußten sich zum Teil eine Schneise schlagen und lösten sich dabei ab. Irgendwann schwenkte Hasard nach Südosten. Er mußte den Kompaß wohl im Kopf haben, denn sie stießen auf den Rodungsplatz. Von hier aus – und das war Hasards Absicht gewesen – würden sie auf dem Trampelpfad weitermarschieren können, über den Gefangene und Aufpasser nach Arbeitsschluß abgezogen waren. Dieser Pfad mußte zu dem Inselkastell an der Südküste führen.

Batuti übernahm die Spitze. Ohne Frage hatte er geschärftere und bessere Sinne als die drei anderen und war für solche Dschungelexpeditionen ein Scout, auf den sie sich voll und ganz verlassen konnten.

Sie brauchten ihre Entermesser nicht mehr einzusetzen, denn hier war ein Pfad geschlagen worden, und so ging es jetzt zügiger voran.

Nach einer Stunde Fußmarsch führte der Pfad aus dem Dschungel und an gerodeten Flächen vorbei, auf denen die Holländer offenbar bereits Pflanzungen anlegten, denn hier standen – wie Soldaten in Reih und Glied – junge Gewürznelkenbäume. Etwas südlicher folgte eine Plantage mit Muskatnußbäumen, die allenfalls ein Jahr alt sein mochten.

Sie registrierten das alles, und Hasard dachte: Das sind schon merkwürdige Leute, diese Mijnheers – woanders zerstören sie, was natürlich gewachsen ist, und hier pflanzen sie es wieder an. Das heißt, sie lassen es anpflanzen – von Fronarbeitern, die sie zur Arbeit gepreßt haben. Wieviel Leid, Tränen und Blut diese Plantagen gekostet hatten, daran mochte Hasard nicht denken.

Sie bewegten sich jetzt vorsichtiger voran. Der Weg durch die Plantagen wurde breiter, schwenkte nach Südwesten und führte in einer weiten Schleife um einen felsigen Hügel herum wieder nach Süden an die Küste – und dort waren Lichter zu sehen: das Inselkastell.

Es ging stetig tiefer, trotzdem lag das Kastell noch relativ hoch auf einem in die See ragenden Felsen, der die westliche Begrenzung einer offenen Bucht bildete. Sie konnten auf das Kastell hinunterschauen.

Da ragte innerhalb der fast baumhohen Palisaden auf der Westseite ein steinernes Gebäude mit einem mächtigen Rundturm auf. Er war höher als die viereckigen Wehrtürme, die den quadratischen Innenhof säumten. Fünf Wehrtürme zählte Hasard. Zwei flankierten das Tor, das zu dem kleinen Hafen wies.

An den massiven Bohlenstegen waren fünf Schaluppen vertäut – und abseits der Stege lagen, auf den Strand gezogen, drei Auslegerboote. Da gab es gar keinen Zweifel, das waren die Boote von Igna und seinen Leuten. Hasard hätte etwas darum gegeben, auch zu wissen, wo sich die acht jungen Frauen befanden.

Am Hafen selbst standen stabile Hütten in Form von Blockhäusern sowie längliche Schuppen. Aus zwei Schuppen war das Geräusch klirrender Ketten und dumpfes Muhen zu hören. Sollten die Kerle dort Rinder untergebracht haben? Und da erklang aus einem anderen Schuppen das typische Grunzen von Schweinen.

Und ein solches Schwein wurde an einem Bratspieß im Innenhof des Kastells gebraten. Der Duft stieg bis zu den vier lauernden Männern hoch. Auf Kisten ringsum saßen Kerle und soffen. An die fünfzig waren dort versammelt, aber das war sicherlich nicht die ganze Belegschaft dieser Bande verrohter Strolche. Sie waren schon ziemlich angetrunken.

Und dann beobachteten die vier Männer einen Kerl, der wackelig aufstand und zum Tor torkelte. Die anderen stießen sich an und schienen Witze zu reißen. Sie schlugen sich auf die Schenkel und lachten grölend.

Der Kerl schlingerte durchs Tor, und es war ein Wunder, daß er nicht die Torpfosten rammte. In einer scharfen Geraden steuerte er eine der Blockhütten an und stolperte die zwei Stufen hoch, die auf den überdachten Vorplatz führten.

Eine Weile hielt er sich keuchend an einem Dachpfosten fest. Dann wankte er an die Tür, wuchtete einen Querbalken hoch und verschwand in der Hütte.

Die vier Männer horchten auf.

In der Hütte waren Schreie zu hören, helle Schreie, die Schreie von Frauen.

Der Kerl erschien wieder auf dem Vorplatz und zerrte eine junge Frau hinter sich her. Er hatte sie an den Haaren gepackt. Sie sträubte sich, aber sie mußte ihm folgen. Der Schmerz am Kopf war zu stark. Der Kerl schob den Querbalken wieder herum. Seinen Griff in die Haare hatte er nicht gelockert.

Jetzt zog er die Frau vom Vorbau und an den Schuppen entlang zu den Büschen am Ostrand der Bucht. Er fluchte und lachte und grunzte.

„Wartet hier!“ zischte Hasard und glitt diagonal den Hügel hinunter, ein huschender Schatten hinter Büschen und Strauchwerk, lautlos, geschmeidig und so tödlich wie ein jagender Tiger.

Die Kerle im Innenhof rissen weiter ihre Witze und soffen aus den Flaschen. Ein paar besprengten auch das Spießschwein mit dem Schnaps. An schräggestellten eisernen Halterungen im Innenhof brannten Fackeln und warfen flackernde Lichter über die Kerle. Ihre Gesichter waren Teufelsfratzen nicht unähnlich.

Der Kerl rutschte mit seinem Opfer einen Dünenhang hinunter und lachte sich halbtot. Unten stieß er die Frau in den Sand und riß ihr das Tuch von den Hüften. Er stand breitbeinig über ihr und stierte auf sie hinunter, und jetzt grunzte er wieder, ein gieriges männliches Tier, ein „macho“, wie es die Spanier nannten.

Da sprang ihn von vorn ein Schatten an, und er prallte rücklings in den Sand. Er sah noch ein steinernes, hartes Gesicht mit eisigen Augen über sich, dann starb er einen schnellen Tod. Das Messer spürte er kaum. Es traf mitten in sein Herz.

Hasard drehte sich rasch um, wechselte das Messer und hob die rechte Hand.

„Igna!“ sagte er nur und deutete nach Norden. „Igna!“

Sie schaute zu ihm hoch, und die Angst verlor sich aus ihren Augen. Er half ihr auf und reichte ihr das Tuch. Sie band es um ihre Hüften, hob den Kopf und blickte ihn wieder an.

Hasard zeigte ihr die fünf Finger der linken und zwei Finger der rechten Hand, drehte sich etwas und wies zu der Blockhütte, von der nur der Giebel zu sehen war. Und wieder richtete er, einzeln hintereinander, die sieben Finger auf.

Da begriff sie und nickte.

Hasard atmete auf. Die Kerle hatten also die acht entführten Frauen in der Blockhütte untergebracht. Wer wollte, konnte sich ihrer bedienen – Freiwild, das man benutzte, wie es einem paßte. Daß man sie in die Hütte eingeschlossen hatte, außerhalb des Kastells, war ein Fehler – und für ihre Befreier ein Glück, das es jetzt zu packen galt, bevor die Kerle merkten, was geschehen war.

Aber sie hatten doch noch Zeit. Wenn der Kerl nicht zu ihnen zurückkehrte, würden sie denken, er triebe es sehr lange oder lege zwischendurch Schlafpausen ein.

Hasard reichte der jungen Frau die Hand, nickte ihr lächelnd zu und deutete mit der anderen Hand hügelwärts. Sie stiegen zwischen dem Buschwerk auf und schlichen geduckt zu Gary Andrews, Don Juan und Batuti zurück.

Alle drei Männer lächelten die junge Frau an und begrüßten sie mit einem Neigen des Kopfes.

„Jetzt sag bloß nichts Verkehrtes“, raunte Hasard Don Juan zu.

 

Don Juan blitzte Hasard an und rappelte ein paar Worte. Da leuchteten ihre Augen auf. Vielleicht hatte sie doch noch etwas Angst gehabt – oder Mißtrauen.

„Was hast du gesagt?“ fragte Hasard.

„Wir bringen euch zu Igna zurück. Die anderen sind doch auch in der Blockhütte, nicht wahr?“

„So ist es. Aber wo die Fronarbeiter stecken, weiß ich nicht, die ich am liebsten auch gleich befreien würde. Dann könnten wir noch in der Nacht das Kastell zusammenschießen. Die Kerle sind dann sturzbetrunken. Mit Wachposten nehmen sie es auch nicht sehr genau. Sie fühlen sich mächtig sicher in ihrem Bau.“

„Das wird ihnen schon noch vergehen“, sagte Don Juan. Er spähte zum Innenhof. „Jetzt fressen sie erst mal.“

„Zeit für uns, die sieben anderen Frauen zu holen“, sagte Hasard. „Gary, bleibst du bitte bei der Lady?“

„Aye, Sir.“

Die drei Männer huschten davon.