Seewölfe Paket 27

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9.

Während der Fahrt durch den Hauptkanal erklärte sie alles. Mit ihrer zierlichen Hand deutete sie voraus.

„Das ist die Straße der Krokodile. Sie wurde von feurigen Drachen und großen Flugechsen geschaffen. So berichtet die Überlieferung.“

„Ein Krokodil haben wir gesehen“, stimmte Hasard zu.

„Es gibt hier sehr viele. Sie sind auch auf den Palau-Inseln zu finden und sehr hungrig. Sie greifen alles an. Manchmal holen sie sich auch ausgewachsene Büffel.“

Von der „Straße der Krokodile“, wie sie treffend genannt wurde, zweigten kleinere und schmalere Wasserrinnen nach allen Seiten ab. Etliche waren sumpfig. Mangrovengürtel waren entstanden und säumten die künstlichen Inseln, deren Ränder steingefaßt waren. Etliche der Basalteinfassungen waren im Laufe der Jahre heruntergebrochen.

„Was hat es mit diesen einzelnen Inseln auf sich?“ wollte Hasard wissen. „Sie hatten doch sicher eine ganz bestimmte Funktion.“

Auch darüber wußte sie Bescheid. Sie schien alles über Nan Madol und die Nachbarinseln zu wissen.

„Das dort drüben“, sie deutete auf ein kleineres Inselchen, „ist Pahn Kadira, wo die Reste des Tempels stehen. Es war eine verbotene Stadt, der Herrschersitz der Saudeleurs und gleichzeitig das Verwaltungszentrum. Hier feierten die Priester einmal im Jahr das Fest Arbungelap, um die neuen Boote zu weihen.“

Sie blickten alle hinüber. Auf der Insel standen Kokospalmen, unter deren schattigen Wedeln die Reste eines vormals stolzen Tempels zu sehen waren. Jetzt war die Pracht und Herrlichkeit der Herrscher vorbei. Geblieben waren nur die kümmerlichen Überreste von Ruinen.

Weiter ging es durch den Kanal bis zur nächsten künstlichen Insel.

Dort wuchsen Farne, und dort standen schattenspendende große Hibiskusbüsche mit ihren prachtvollen roten Blüten. Ein paar überwucherte Fundamente waren noch zu erkennen. Auch hier war die Pracht längst vergangen.

„Der Palast der Saudeleurs“, sagte sie ehrfurchtsvoll. „Hier residierten die damaligen Herrscher.“

„Sehr erstaunlich“, bemerkte Hasard. „Was mir auffällt, ist, daß es auf Nan Madol kein Trinkwasser gibt. Wie haben die Herrscher ohne Wasser gelebt? Oder waren sie auf Regen angewiesen?“

Ihr Blick war immer noch verträumt auf die Überreste des ehemaligen Palastes gerichtet.

„Nein, sie hatten keine Probleme mit dem Wasser. Sehen Sie die Einfassungen mit den breiten grauen Steinen?“

„Ja, es sieht aus wie ein größeres Becken, obwohl sich das kaum noch erkennen läßt.“

„Es waren auch künstlich angelegte Becken. Sie dienten nur dazu, sie mit Trinkwasser zu füllen.“

„Und wo nahm man das her?“

„Es wurde mit Booten von den anderen Inseln herangeschafft. Unzählige Menschen hatten nichts anderes zu tun, als die Wasserbecken immer wieder aufzufüllen. Haben Sie diese Insel betreten?“

Hasard verneinte das. Er wunderte sich darüber, wie gut dieses kleine Persönchen Bescheid wußte. Die Arwenacks waren immer wieder erstaunt, denn Raia hatte auf jede Frage eine Antwort.

„Dann ist es gut“, sagte sie erleichtert. „Wenn ihr die Insel betreten hättet, dürfte ich nicht in eure Nähe. Sie ist das größte Heiligtum weit und breit und wird nie betreten. Es heißt, daß man augenblicklich stirbt, wenn man die Herrscherinsel bei Nacht betritt.“

Das konnten sich die Arwenacks allerdings nicht vorstellen, aber Hasard ging nicht näher darauf ein. Es gehörte eben zu ihrer Religion, und sie glaubten daran. Dieser Aberglaube hielt alle davon ab, jemals einen Fuß auf die Insel zu setzen.

Die Fahrt durch dieses von unzähligen Kanälen durchzogene Insellabyrinth war abwechslungsreich und interessant. Noch nie in ihrem Leben hatten die Seewölfe etwas Ähnliches gesehen.

„Wie alt könnte die Ruinenstadt sein?“ fragte der Kutscher.

„Man spricht von achthundert Jahren und mehr. Aber sie ist in Wirklichkeit wohl noch älter.“

„Kaum zu glauben“, murmelte der Kutscher beeindruckt.

Eine weitere kleine und ebenfalls quadratisch angelegte Insel tauchte vor ihren Blicken auf. Hier gab es auch ein paar Seevögel, die dort offenbar nisteten. Ein ganzer Schwarm erhob sich und flatterte auf, als sie vorbeipullten.

„Das ist Kelepwel“, sagte sie unvermittelt. „Hier wohnten einst die königlichen Diener. Sie produzierten Kokosöl und lagerten es hier als Vorrat ein. Die nächste Insel heißt Toron. Jede Insel hat einen eigenen Namen. Toron hat sogar einen See.“

Das Staunen nahm kein Ende. Nan Madol steckte voller Überraschungen, und die wurden ihnen gleich massenweise geboten.

Es gab tatsächlich einen eingefaßten kreisrunden See, dessen Wasser spiegelglatt war.

„Da haben die Herrscher gebadet“, meinte Smoky, „damit sie von den Krokodilen verschont blieben.“

Die Südseeprinzessin schüttelte lächelnd den Kopf.

„In dem See wurden Venusmuscheln gezüchtet wie jene, die ich in dem Verlies fand. Diese Insel ist auch die Zeremonien-Insel. Hier wurde sehr aufwendig gefeiert, wie die Legende beschreibt. Aber der See hat noch ein weiteres Geheimnis.“

„Wenn man ihn nach Belieben leeren oder vollaufen lassen konnte“, meinte Hasard, „dann muß Nan Madol über ein System von Schleusen verfügt haben.“

„Was sind Schleusen?“

„Künstliche Kammern zur Wasserregulierung.“

„Ja, das hatten sie, das ist bekannt. Es waren große Steinkammern, die man an manchen Stellen sieht, wenn das Wasser sehr niedrig ist. Aber in dem See gibt es einen unterirdischen Tunnel. Er ist hundertmal länger als das spanische Schiff, das vor Ponape strandete.“

„Erstaunlich“, murmelte Hasard. „Warum hat man denn einen Tunnel in einem See gebaut?“

„Die Saudeleurs haben alles gut durchdacht und geplant. Der Tunnel führt zu einer Stelle außerhalb des Saumriffs. Von dort sind die Riff-Fische besonders gern bis in das Zentrum von Nan Madol geschwommen. Man brauchte nur das Wasser zu … ich weiß nicht, wie das heißt.“

„Regulieren“, half Hasard nach.

„Ja, wenn man das tat, hatte man die herrlichsten und besten Fische mitten im Zentrum.“

Ihr Spanisch hatte einen eigenartigen samtigen Klang, und manchmal stockte sie, wenn ihr ein Begriff nicht einfiel. Aber sie hatte von den gestrandeten Dons eine Menge gelernt. Auch der Häuptling Malahiwi könne sich in der „Sprache der Fremden“ einwandfrei verständigen, wie sie erklärte.

Dieses erstaunliche Geschöpf war mitunter von kindlicher Naivität, dann wieder sehr ernst, oder sie freute sich über irgendeine unbedeutende Kleinigkeit. Dann wieder erklärte sie mit großem Eifer alles, was die Arwenacks wissen wollten.

Nan Madol jedenfalls hatte es ihr angetan – und den Seewölfen auch, denn es war etwas Besonderes und Einmaliges, wie es das in der gesamten Südsee nicht mehr gab.

Es schien die Prinzessin auch nicht mehr im geringsten zu berühren, daß sie in Nan Madol fast ihr Leben verloren hätte. Sie verdrängte derartige bedrückende Gedanken ganz einfach und verbannte sie aus ihrem Gedächtnis.

Der Kutscher, der ein ganz besonderes Faible für Ruinenstätten oder alte Heiligtümer hatte, schüttelte immer wieder den Kopf und fand alles „unglaublich“.

„Das erinnert mich von der Präzision her fast an die alten Baumeister Ägyptens“, sagte er zu Hasard. „Die haben höher und wuchtiger, aber auch unglaublich exakt und kunstvoll gebaut. Hier ist es fast so ähnlich. Alles ist wohldurchdacht und hervorragend geplant … Es muß hier Handelsstationen, Versorgungseinrichtungen und Arbeitsplätze für Tausende von Menschen gegeben haben. Ein Jammer, daß das alles im Laufe der Jahrhunderte zugrunde gegangen ist. Ich wäre zu gern einmal durch diese Stadt gegangen.“

„Da hätten sie dir aber die Haut in Streifen von deinem – äh …“

Der Profos verschluckte seine letzten Worte, denn ihm fiel gerade noch rechtzeitig ein, daß er in Gegenwart der Prinzessin nicht von Affenärschen und dergleichen reden durfte. So lief er knallrot an und lächelte verlegen.

Raia lächelte, obwohl sie nicht begriff, was der Mann mit dem narbigen Gesicht und dem gewaltigen Kinn sagen wollte. Er wirkte zwar erschreckend, aber sie erkannte auch, daß er ein guter Mann war, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte.

„Das hätte ich auch zu gern gesehen“, sagte Hasard. „Es muß ein phantastischer Anblick gewesen sein.“

Das Boot bewegte sich weiter an der nächsten Insel vorbei, die Pehikapw genannt wurde. Auch hier war vieles überwuchert. Die Mangroven schoben sich immer weiter vor, bis sie eines Tages alles bedeckten und unter ihren atmenden Luftwurzeln erstickten. Es war wirklich ein Jammer um die paradiesische Insel.

Was den Seewölfen zuerst auffiel, waren Überreste von steinernen Bassins, die noch einwandfrei zu erkennen waren. Vor der Insel ragten aus dem Wasser schräg zwei eigenartig geformte Steine. Sie erinnerten entfernt an grobe menschliche Gestalten.

Zu aller Erstaunen erhob sich die Prinzessin anmutig von der Ducht, blickte zu den Steinen und verneigte sich ehrfurchtsvoll mit über der Brust gefalteten Händen. Das tat sie dreimal hintereinander, ehe sie wieder Platz nahm.

„Es sind zwei Frauen“, erklärte sie. „Oder anders gesagt, diese Steine waren vor langer, langer Zeit einmal zwei lebendige Frauen, wie die Sage erzählt. Der mächtige Gott Lepengo verwandelte sie in seinem Zorn in zwei Steine, weil sie vergaßen, ihm das fällige Speiseopfer zu bringen. Man nennt sie Tikitik-en-ani, es sind die beseelten Bilder hier anwesender Geister. Man muß ihnen stets mit Ehrfurcht begegnen, um vom Gott Lepengo nicht gestraft zu werden.“

Hasard war heilfroh, daß Old O’Flynn nicht dabei war, sondern verdrossen an Bord hockte. Er hatte die ganze Zeit von Geistern gefaselt. Das hier hätte seine üppig wuchernde Phantasie noch mehr angeregt. Er hätte sie noch wochenlang damit genervt.

 

Aber zum Glück hatte der alte Bursche nicht mitgewollt, weil es ihn insgeheim vor dieser Insel grauste.

„Da gibt es auch wieder Überreste von Wasserbecken für Trinkwasser“, sagte Hasard, auf die lückenhaften Basaltränder deutend.

Er mußte sich eines Besseren belehren lassen.

„In diesen Becken wurden einst Schildkröten von den Priestern für religiöse Feiern und Rituale gezüchtet. Auch der Bezirk ist heilig.“

Die üppig wuchernde Vegetation deckte auch hier mit Farnen, Büschen und einem Blütenmeer langsam aber sicher alles zu.

Hin und wieder, so berichtete die Prinzessin, wurden besondere Leute ausgewählt, die tagelang auf Nan Madol dafür sorgten, daß der Dschungel nicht alles überwucherte. Aber in manchen Bezirken durften sie sich nicht aufhalten, und so blieb die Natur immer wieder Sieger.

Der Dschungel sog die tote Stadt immer mehr in sich auf. Wie in einem Rausch umschlang er kleine Paläste, Tempel, Häuser und Wasserbecken. Ein Teil von Nan Madol befand sich bereits unter Wasser und war nur noch hin und wieder zu sehen. Die steinernen Schleusentore, die das Kanalsystem regulierten, waren die ersten Opfer gewesen. Mit ihrer Hilfe konnten die Saudeleurs das Straßennetz nach Belieben öffnen oder sperren und waren von Ebbe und Flut unabhängig.

Hasard warf einen langen Blick zurück auf der „Straße der Krokodile“ und bewunderte die genialen Baumeister, die Nan Madol zu einer uneinnehmbaren Festung ausgebaut hatten.

Die Boote verließen früher die Stadt in südwestlicher Richtung durch eine enge Passage im Kanalsystem. Sie war nicht so stark ausgebaut und gesichert wie Nan Dowas im Osten, wo hohe Wälle aus Basaltblöcken die Lagune zu dieser Seite hin schützten. Der Wall bildete auch gleichzeitig den Rand der Insel Pahnwi, wo sie vorbeigekommen waren.

Er drehte sich langsam um und blickte nachdenklich voraus.

„Hinter Nan Dowas gibt es noch einen kleinen Hafen“, sagte Raia, die seinen Blicken gefolgt war. „Er ist von riesigen Stein- und Korallenbrocken sorgsam abgeschirmt. Dort schwächt sich die Brandung ab, die beim Außenriff auf die erste Barriere stößt. Am Rand der Insel Pahnwi gibt es auch noch weitere Grabkammern der Saudeleurs und der Nahnmwarki. Aber das Land ist tabu und wird gemieden.“

„Wegen der Grabkammern?“

Sie nickte nachdrücklich.

„Sie lebten hier offenbar mit allem nur erdenklichen Komfort“, meinte Hasard. „Die Leute hatten einen ungewöhnlich hohen Lebensstandard. Es ist bedauerlich, daß es sie nicht mehr gibt.“

„Es gibt sie nur noch als Sagen und Legenden, aber sie werden in unserer Erinnerung ewig weiterleben.“

Auf dem Grund waren überall sorgsam behauene Basaltsäulen zu sehen. Das verwunderte hauptsächlich den Kutscher, der sich darüber Gedanken machte. Die Basaltsäulen hatten fünf- oder sechskantige Profile und waren unglaublich glatt geschliffen.

Als er die Prinzessin danach fragte, erhielt er eine erstaunliche Antwort.

„Man hat sie nicht bearbeitet. Die Kräfte der Natur haben die Säulen wie Balken zugeschnitten und gebündelt. Die Arbeiter mußten sie nur noch herauslösen. Auf Ponape gibt es diese Säulen auch heute noch in riesigen Bündeln.“

„Und womit wurden sie weiter bearbeitet?“

„Man benutzte dazu die harten Schalen der Tridacna-Muschel, das ist eine sehr riesige Muschel, mit deren Schalen die Rohlinge geglättet wurden. Nach der Bearbeitung rollte man die Blöcke auf einer schrägen Ebene aus glattgeschälten und eingeölten Baumstämmen ans Meer.“

„Wirklich erstaunlich“, murmelte der Kutscher. „Vor allem muß doch der Transport übers Meer Schwierigkeiten bereitet haben.“

„Es wurde alles von Ponape herübergeschafft“, sagte sie. „Mein Vater hat es mir erzählt, und der hatte es wieder von seinem Vater und so fort. Die Steine wurden auf Bambusflößen zur Ostküste von Nan Madol gebracht. Das ging nur bei ruhigem Wetter, trotzdem sind immer wieder Flöße gekentert, und ihre Last ist ins Meer gerutscht. Dort liegen die Säulen noch heute.“

Raia blickte ins Wasser, wo auf dem Grund ganz deutlich Langusten und Seegurken zu sehen waren.

„Hier könnte man herrlich baden“, schwärmte Don Juan. „Das Wasser ist unglaublich klar und rein. Aber da sind die Salzwasserechsen, und vor denen habe ich großen Respekt.“

Die Prinzessin sah ihn fast entsetzt an.

„Baden?“ fragte sie mit großen erstaunten Augen. „Hier darf man nicht baden, nicht bei Nan Madol. Die heiligen Wächter streifen pausenlos um die Inseln.“

„Wer sind die heiligen Wächter?“

„Seeschlangen, graugelbe Schlangen, die größer sind als ein Mann. Sie sind so giftig, daß das Opfer nach dem Biß schon stirbt, noch bevor es einmal tief Luft geholt hat. Es gibt kein Mittel gegen diese tödlichen Schlangenbisse.“

„Das sind die Schattenseiten des Paradieses“, meinte Hasard.

Er sah, daß die Ebbe einsetzte, und beugte sich über das Dollbord, um einen letzten Blick der Unterwasserwelt zu erhaschen.

Der Meeresgrund gab erstaunlich viel her. Fasziniert betrachteten sie die Wunder der Unterwasserwelt.

Unter ihnen befanden sich große Grasmatten, dazwischen ragten Reste von Basaltsäulen hervor. Pilzkorallen standen da wie kleine Wälder. Sie wechselten ab mit einer Kolonie dunkler Blattkorallen. Polypen leuchteten grellgelb wie Hunderte von Blumenblüten, Algen mit verkalkten Knospen blitzten wie Feuerwerk auf. Seeigel, Langusten, Schnecken und farbige Seesterne tummelten sich zwischen der Pracht, die kein Ende nahm.

Da ragten farbige Fangarme aus den Korallen, und farbenprächtige Fische patrouillierten in den Wundergärten der Natur. Auch ein kleiner Hai durchstreifte das Revier der Korallen.

Dann war da plötzlich ein fast zwei Yards langer graugelber Schatten, der sich zuckend durchs Wasser wand. Er verschwand mit seitlichen Wellenbewegungen in einer riesigen Koralle.

„Das ist einer der Wächter“, erklärte Raia. „Sie sind überall, und sie sind auch sehr angriffslustig. Sie bewachen die Unterwasserfriedhöfe der Könige von Nan Madol. Man hat sie allerdings nie gefunden, aber die Sage berichtet davon, daß es unter der Wasseroberfläche Friedhöfe gibt.“

Immer mehr Erstaunliches vernahmen sie über diese geheimnisvolle Inselstadt, und sie hörten schweigend zu, wenn die Prinzessin von den alten Sagen und Legenden berichtete.

„Sobald wir an Bord sind, gehen wir in See und segeln nach Ponape hinüber“, sagte Hasard. „Der Häuptling wird sich um seine Tochter sorgen, daher wollen wir keine Zeit verlieren.“

„Er wird sich freuen, wenn ich wieder zurück bin“, sagte Raia. „Er ist immer sehr besorgt um mich, denn ich bin seine einzige Tochter.“

Als sie die „Straße der Krokodile“ verließen, war schon die „Santa Barbara“ zu sehen. Die an Bord gebliebenen Arwenacks starrten zu ihnen herüber und begriffen die Welt nicht mehr, als sie die schwarzhaarige Schönheit erblickten.

10.

An Bord war die Überraschung groß, als die Prinzessin erschien, und es gab ein endloses Frage- und Antwortspiel. Aber auch Empörung wurde laut, daß man eine junge Frau aussetzte und dem Tod preisgab.

Raia erklärte Hasard den Kurs nach Ponape, als die Segel gesetzt und der Anker gehievt war.

Langsam wurde die geheimnisvolle Insel kleiner. Dafür tauchten andere Eilande auf, unbewohnt, verlassene Paradiese in einer endlosen Weite.

Später wurde voraus eine Insel gesichtet. Bei Ebbe waren breite Sandstrände zu erkennen, dahinter ein paar Eingeborenenhütten, die in dichtem Buschwerk versteckt waren.

„Das ist die Insel von Häuptling Kumuhala, mit dem wir seit langem in Fehde liegen“, sagte Raia. „Sie müssen sich jetzt sehr vorsehen, denn Kumuhala greift alle Schiffe an, die sich der Insel nähern.“

„Da wird er bei uns nicht viel Erfolg haben“, versprach Hasard. „Der Papalagi wird sich eine blutige Nase holen, wenn er versucht, uns anzugreifen.“

Die Warnung der Prinzessin bestand zu Recht. Sie befanden sich etwa eine halbe Meile von der Insel entfernt, als sich hinter einer Landzunge drei Langboote unter Segeln lösten.

Als Hasard durch das Spektiv blickte, erkannte er braunhäutige Männer, die die Langboote zusätzlich mit Riemen bewegten. Ihre Oberkörper waren nackt, die Gesichter mit weißer Farbe bemalt. Ihre Bewaffnung bestand aus langen Bogen und Speeren. Es mochten ungefähr vier Dutzend Krieger sein, die grimmig zu der Galeone blickten.

„Besetzt die Drehbassen“, sagte Hasard ruhig. „Feuert aber erst dann, wenn wir angegriffen werden und wartet meinen Befehl ab.“

„Es sind wilde Krieger“, erklärte Raia. „Kumuhala überfällt auch größere Schiffe mit vielen Kanonen.“

„Aus welchem Grund?“

„Er raubt sie aus, um eiserne Werkzeuge zu erhalten, aber auch, um den anderen zu zeigen, daß er viel Macht hat und ein großer unbesiegbarer Häuptling ist.“

Die Boote hielten auf die „Santa Barbara“ zu. Unter vollem Zeug pullten und segelten sie im spitzen Winkel auf die Galeone zu.

An den vorderen Drehbassen standen Al Conroy und der Profos. Die schwenkbaren Drehbassen waren mit grobem Bleischrot und Eisenstücken geladen. Der Kutscher hatte zwei glimmende Lunten nach oben gebracht, die die beiden Männer in den Händen hielten.

„Erstaunlich, daß diese Kerle keine Angst haben“, meinte der Waffen- und Stückmeister. „Sie pullen so sorglos heran, als fürchteten sie weder Tod noch Teufel.“

„Vielleicht wissen sie nicht, was ihnen blüht.“

„Dann werden sie gleich um eine Erfahrung reicher sein.“

Der Profos schwenkte die Drehbasse ein wenig nach Backbord und visierte die Boote an.

Daß die Eingeborenen kriegerisch waren, erkannten sie wenige Augenblicke später, als ein kurzer Zuruf über das Wasser hallte.

Ein bronzehäutiger Mann mit vielen Tätowierungen erhob sich und rief aufgeregt ein paar Worte.

„Der Papalagi selbst“, flüsterte Raia. „Er hat befohlen, sie sollen sofort angreifen.“

Kumuhala mußte die Frau auf dem Achterdeck entdeckt haben, denn seine Stimme wurde wild und schrill. Sein tätowiertes Gesicht war zu einer Fratze des Hasses verzogen.

Die Entfernung zu den drei Langbooten betrug jetzt noch eine knappe Kabellänge, aber die Stimmen waren deutlich zu hören.

Jetzt standen alle Krieger in einer einzigen fließenden Bewegung auf und griffen nach ihren Bogen.

Einen Lidschlag später flog ein Pfeilhagel heran und spickte die Bordwand der „Santa Barbara“, die unbeirrbar auf ihrem Kurs blieb.

„Rufen Sie den Kerlen zu, daß wir feuern, wenn sie nicht augenblicklich verschwinden“, sagte Hasard. „Noch liegt es bei ihnen selbst, ein Blutbad zu verhindern.“

Die Prinzessin nickte und rief in ihrer Sprache etwas mit heller und klarer Stimme in Richtung der Langboote.

Die Antwort bestand aus einem heiseren Wutgebrüll. Erneut wurden Pfeile aufgelegt und abgeschossen.

Diesmal flogen sie an Deck und blieben nicht in der Bordwand stecken.

Einer zischte haarscharf an Matt Davies vorbei, ein anderer bohrte sich neben Al Conroy ins Holz, ein dritter erreichte das Achterdeck, wo er zitternd in den Planken steckenblieb.

„Nun gut, sie wollen es nicht anders“, sagte Hasard grimmig. „Aber ich habe keine Lust, dem Papalagi als lebende Zielscheibe zu dienen. Feuer frei für die Drehbassen.“

Al Conroy und der Profos zündeten die Drehbassen, nachdem sie sie auf ihr Ziel eingeschwenkt hatten.

In diesem Augenblick wollten die Kerle wieder feuern.

Da blitzte es am Bug der Galeone zweimal hintereinander grell auf.

Zwei Stichflammen zuckten aus den Läufen, Rauch wölkte auf. Dann knallte es laut. Der Blei- und Eisenhagel raste über das Meer.

Die Wirkung war verheerend.

Die Krieger wurden aus ihren Langbooten gerissen, warfen die Arme hoch und kippten schreiend ins Wasser.

Eins der Langboote kenterte, als das Gleichgewicht nicht mehr stimmte und die Krieger brüllend und schreiend um sich hieben. Das zweite wurde buchstäblich in Stücke gehackt und ging auf Tiefe.

Auf dem dritten herrschte Chaos. Da heulten die Kerle vor Wut, Enttäuschung und Schmerz.

Hasard sah, wie sich der tätowierte Häuptling an die Brust griff, sich noch einmal aufzurichten versuchte, dann aber das Gleichgewicht verlor und über Bord stürzte.

 

Er verschwand und tauchte auch nicht mehr auf.

Die überlebenden Krieger schwammen in aller Eile zum Land zurück, wo zwei weitere Langboote hinter der Landzunge auftauchten.

„Drehbassen nachladen!“ rief Hasard. „Es scheint, als hätten die Kerle noch nicht genug.“

Die Drehbassen wurden nachgeladen.

Raia hielt sich noch die Ohren zu und sah entsetzt zu den beiden Geschützen, die ihr tödliches Blei ausgespien hatten. Sie hatte Angst vor dem Krachen.

Die Langboote kamen jedoch nicht näher. Unentschlossen blieben die Krieger in ihren Booten fast reglos sitzen. Entsetzt sahen sie zu, wie ihre Stammesbrüder an Land schwammen. Und noch entsetzter sahen sie, daß der Papalagi nicht mehr bei den anderen war.

Die „Santa Barbara“ segelte weiter. Die Arwenacks ließen die im Wasser paddelnden Eingeborenen unbehelligt, denn ohne ihre Waffen waren sie machtlos. Der Schock saß ihnen mächtig in den Knochen, denn zwei Blitze und ein zweimaliges Donnern und Krachen hatten sie fast um die Hälfte dezimiert.

„Das hätten sie sich ersparen können“, sagte Hasard. „Am meisten wird sie der Tod ihres Häuptlings treffen. Sie sind wie gelähmt.“

„Wenn Kumuhala nicht mehr lebt“, sagte Raia, „dann herrscht vielleicht endlich wieder Ruhe auf den Inseln.“

Hasard suchte mit dem Spektiv die See ab. Er konnte den Häuptling nirgendwo entdecken, auch nicht unter den Toten, die noch in der See trieben.

„Er lebt offenbar nicht mehr“, sagte er. „Jedenfalls ist keine Spur von ihm zu sehen.“

Die Prinzessin wirkte erleichtert. Aber sie sah sich immer wieder um, als würde der Papalagi doch noch auftauchen. Dann gab sie mit zitternder Stimme Hasard den Kurs nach Ponape an.

Als die „Santa Barbara“ vor Ponape vor Anker ging, liefen Scharen von Eingeborenen am Strand zusammen. Kleine Kinder rannten aufgeregt über den Strand ins seichte Wasser.

Man hatte die Prinzessin erkannt, und jetzt kannte die Freude keine Grenzen mehr.

Fünf, sechs Boote hielten auf sie zu. Männlein und Weiblein kletterten an Bord und stimmten ein lautes Hallo an.

Die Arwenacks wurden wie langerwartete Götter begrüßt.

„Das wird ein Fest geben“, prophezeite Carberry. „Hoffentlich hat der liebe Papalagi für den durstigen Ed auch einen guten Schluck zur Stärkung.“

Häuptling Malahiwi erschien mit prunkvollem Gefolge feierlich an Bord und schloß seine Tochter gerührt in die Arme. Er war ein großer hagerer Mann, der ein holperiges Spanisch sprach und die meisten Endsilben verschluckte.

Er ließ sich seine Rührung nicht anmerken, das stand einem großen Häuptling nicht zu, aber Hasard erkannte an seinem Gesicht trotzdem, wie bewegt und innerlich aufgewühlt er war.

Dem Trauerkloß vom Dienst, Mac Pellew, hatte eine Inselschöne ein Blumengebinde um den mageren Hals gehängt, und damit stolzierte Mac wie ein Pfau auf dem Schiff herum. Er grinste sogar, aber dieses Grinsen fiel wie immer in der üblichen Art aus. Seine Augen verschwanden hinter kleinen Falten, und er sah aus, als hätte man ihm zwei faule Zitronen in den Hals gesteckt.

Am späten Nachmittag hielt der Papalagi eine Rede am Strand und dankte den Mannen für die Rettung seiner Tochter.

Inzwischen wurde alles für das Fest hergerichtet, bis den Arwenacks das Wasser im Mund zusammenlief.

Malahiwi erwies sich als großzügiger Gastgeber, der den Seewölfen vor Freude am liebsten die ganze Insel geschenkt hätte. Nur seine Dankesrede dauerte länger als eine Stunde, und die mußten die Mannen eben geduldig über sich ergehen lassen.

Sie waren alle am Strand bei den Hütten versammelt. An Bord der Galeone befand sich nur Old O’Flynn, der freiwillig die Ankerwache übernommen hatte. Später sollte er von einem anderen abgelöst werden, damit die Eingeborenen sein Holzbein bewundern konnten, wie der Profos grinsend sagte.

Auf dem freien Platz zwischen den Hütten wurden Schweine in Bananenblättern in breiten Gruben gedämpft. Eine riesige Tafel war gedeckt worden, die unter der Last von Früchten, gebackenen Hühnern und Gemüse fast zusammenbrach. In Schalen standen Getränke, um die der Profos grinsend herumstrich.

Er kam voll und ganz auf seine Kosten, und er brauchte sich auch nicht selbst zu bedienen, denn alles wurde ihm gereicht oder freundlich zugeschoben.

„Hier kann man es schon ein paar Jahre aushalten“, meinte er mit Kennerblicken. „All die lieblichen Weiberchen, die köstlichen Getränke und das herrliche Essen. Das ist doch was Feines, was, wie?“

Paddy Rogers, der neben ihm stand, bestätigte das eifrig.

„Ganz besonders das Essen“, meinte er. „Ich habe schon regelrechte Bauchkrämpfe vor Hunger. Ich könnte so ein gebackenes Schweinchen ganz allein verschlingen.“

Das Fest war üppig, und seit langer Zeit gab es mal wieder frisches Fleisch. Die Eingeborenen tanzten und waren ausgelassen und fröhlich wie kleine Kinder.

Bis in den frühen Morgen dauerte das Fest, aber es war noch nicht zu Ende, wie der Papalagi versicherte. Derartige Feste wurden immer mindestens drei Tage und drei Nächte lang gefeiert, und vorher konnten sie nicht weg, wenn sie den Gastgeber nicht beleidigen wollten.

Aber den freundlichen Häuptling wollte natürlich keiner beleidigen.

Sie blieben insgesamt fünf Tage auf Ponape, dann erst brachen sie auf, um die Reise nach China fortzusetzen.

Am letzten Tag wurden die Geschenke überreicht. Hasard ließ Werkzeuge zurück, was mit großer Freude begrüßt wurde.

Der Häuptling revanchierte sich mit einer ganzen Ladung Früchte und Gemüse, mit acht noch lebenden Schweinen, Brotfrüchten und allem, was die Insel hergab.

Das schönste Geschenk aber – das war jedenfalls die Ansicht Edwin Carberrys – waren zwanzig hübsche Hühnerchen, die fleißig Eier produzierten. Und damit sie auch einen Häuptling hatten, gab der Papalagi noch einen stolzen Hahn dazu, der besonders lautstark und durchdringend zu krähen verstand.

Von da an träumte der Profos wieder von Eiern mit Speck. Er half auch eifrig mit, an dem Verschlag für die Hühner zu bauen.

Am nächsten Morgen verließ die „Santa Barbara“ die Insel Ponape, um weiter ins Land des Großen Chan zu segeln …

ENDE