Seewölfe Paket 26

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5.

Gegen Mittag verließen die „Truppen“ des Gonzalo Bastida unter der Führung von Alonzo de Escobedo die Kaschemme am Hafen. Mit viel Hallo bewegten sie sich durch die Stadt auf die Plaza zu – an die achtzig Kerle, die mit allem Erforderlichen ausgerüstet waren.

Sie erreichten die Plaza. De Escobedo fühlte sich schon als Sieger.

Er gruppierte seine Leute rund um die Residenz. Jetzt konnte die Belagerung beginnen.

Zum Teil verschanzten sich die Kerle in den Bürgerhäusern, die an der Plaza standen. Der westliche Bereich der Plaza wurde von der Residenz begrenzt. Von dort aus verfolgten die Soldaten der Garde und der Miliz mit wachsender Besorgnis, was sich draußen abspielte.

Andere Kerle der Bastida-de-Escobedo-Truppe errichteten Sandsackbarrikaden, von denen aus sie die Residenz mit Musketen- und Tromblon-Feuer beschießen konnten. Wieder andere versperrten mit Fuhrwagen die Gasse. Inzwischen hatte man auch den Maultierkarren von Osvaldo und El Sordo wiedergefunden. Burrito mußte, ob es ihm paßte oder nicht, mit seinem Gefährt den Ausgang einer Straße blockieren. So wurden alle Gassen und Straßen verriegelt, die auf die Plaza führten.

Mit anderen Worten: die Residenz wurde eingeschlossen, so daß kaum noch eine Maus hinein oder heraus konnte. Die beiden Forts am Hafeneingang standen indessen leer. Jeder Feind hätte jetzt von See her unangefochten in den Hafen eindringen können. Niemand hätte sich darum gekümmert.

Und so war es auch mit der Faktorei von Manteuffel: Weil sich de Escobedos und Bastidas Interesse und Aufmerksamkeit jetzt voll auf die Residenz konzentrierten, blieb das Handelshaus „links liegen“.

De Escobedo hatte vor, seine Kerle wie eine Sturmflut gegen die Residenz anlaufen zu lassen – allerdings im richtigen Moment. Zunächst galt es, die Insassen der Residenz nach allen Regeln der Kunst „weichzukochen“.

O ja, er war inzwischen vorsichtiger geworden, dieser Alonzo de Escobedo. Aus Erfahrungen wurde man eben doch klug. Für den Exgouverneur und Exstadtkommandanten von Havanna bedeutete dies praktisch, daß er jetzt nicht mehr mit der Holzhammermethode vorging, sondern sich auf die goldenen Regeln der Strategie und Taktik besann.

Gonzalo Bastida hatte den Anstoß zu diesen neuen Überlegungen gegeben. Das Schlitzohr wußte natürlich, daß de Escobedo sich wieder den Schädel einrannte, wenn er die Residenz nach dem gleichen Plan zu stürmen versuchte wie das Gefängnis.

Das mußte verhindert werden, zumal zu große Verluste beim gewöhnlichen Fußvolk den Geist der Rebellion wachriefen. Man mußte die Kerle „bei der Stange“ halten und die gute alte Regel vom Zuckerbrot und von der Peitsche in Anwendung bringen.

„Wir können versuchen, die Residenz durch Aushungern zu zermürben und zur Übergabe zu zwingen“, hatte der dicke Wirt erklärt. „Dessen ungeachtet müssen wir jedoch plänkeln.“

„Plänkeln?“ wiederholte de Escobedo. „Wie meinst du das?“

Bastida grinste. „Wir müssen die Verteidiger, diese dummen Hunde, nerven und in Trab halten. Wir müssen ihnen ständig einheizen, damit sie nicht richtig zum Luftholen kommen und ihre Munition verpulvern.“

Gesagt, getan: De Escobedo als erfahrener Offizier kannte schon die richtigen Mittel, um den in der Residenz Eingeschlossenen die Hölle zu bereiten. Aus dem eroberten Hafenarsenal wurden Drehbassen besorgt, die auf drehbaren Gabellafetten am Rand der Plaza montiert wurden. Dann ging es los. Von nun an lag die Residenz unter fortwährendem Beschuß.

Die Drehbassenkugeln flogen heulend und orgelnd über die Mauer, die die Residenz umgab. Sie rasten bis zum Hauptgebäude, zertrümmerten die Fenster oder prallten hart gegen die Mauern. Jedes Krachen und Splittern wurde von den Kerlen auf der Plaza mit Johlen und Grölen quittiert.

Überhaupt, die Kerle waren prächtiger Stimmung. Gonzalo Bastida ließ sich nicht lumpen. Er befolgte das Prinzip der Peitsche und des Zuckerbrots konsequent. Erst hatte er Exempel statuiert und ein paar Kerle töten lassen, damit die anderen wußten, daß mit ihm nicht zu spaßen war. Jetzt zeigte er sich von seiner Schokoladenseite. Seine erste gute Tat: Er ließ Weinfässer herankarren und anstechen. Die vollen Becher kreisten. Aus der Belagerung wurde ein feuchtfröhlicher Umtrunk.

Die Weinfässer wurden natürlich so aufgestellt, daß kein Schuß der Gegner sie treffen konnte. Es wäre schon sehr schade gewesen, wenn die Soldaten von der Mauer der Residenz aus auch nur ein Faß zertrümmert hätten. So fand der Weinausschank in den Gassen und auf Hinterhöfen statt.

Doch dies war nur der erste Teil von Bastidas Verpflegungsaktion. Der Mensch wollte nicht nur trinken, er wollte auch einen vollen Magen haben. Bastida kannte das und sorgte für Abhilfe.

Schon trafen die ersten Karren mit Ochsen und Ferkeln ein, und in der sicheren Deckung von Höfen an der Plaza wurden große Drehspieße errichtet. Ein paar Kerle zündeten Feuer unter den Spießen an. Kurz darauf drehten sich die Bratspieße über der Glut.

Der Duft der Spießbraten wehte bis zur Residenz hinüber und trug zusätzlich dazu bei, daß sich bei den Belagerten die Mägen zusammenzogen – klug berechnet wiederum von Bastida, der jedes Mittel ausnutzte, um die Belagerten „weichzukochen“. An der Plaza wurde gegessen, getrunken und gefeiert – in der Residenz herrschte dumpfe Untergangsstimmung.

Gonzalo Bastida hatte noch nicht alle Register gezogen. Noch bevor die Ochsen- und Ferkelbraten angeschnitten wurden, marschierte die nächste Kolonne seiner Armee auf: die „Señoritas“, von dem Dicken scherzhaft auch „Schnepfen“ genannt.

Bastida hatte fast zwei Dutzend von ihnen abkommandiert, damit sie als „Marketenderinnen“ eingesetzt werden konnten. Die Damen schenkten nicht nur Wein aus und verteilten Bratenstücke. So ganz nebenbei wurde auch Liebe geboten. Es war also alles vorhanden, was das Herz begehrte. Eine runde Sache.

Keiner der Kerle dachte auch nur im Traum daran, jetzt noch von der Fahne zu gehen. Ganz im Gegenteil: Die Belagerer erhielten sogar noch Zuwachs – von den verschwundenen Galgenstricken und Ratten, die sich wie üblich dort einstellten, wo es etwas umsonst gab.

Alonzo de Escobedo und Gonzalo Bastida waren jetzt ein Herz und eine Seele. Nie hatten sie sich so gut verstanden wie an diesem Mittag. Sie hockten in dem Kommandostand, den de Escobedo hinter den Sandsackbarrikaden errichtet hatte, und schüttelten sich grinsend die Hände.

„Das war eine großartige Idee“, sagte de Escobedo. „Du und ich, wir sind das richtige Gespann, Gonzalo.“

„Das will ich meinen, Alonzo.“

„Es ist nur eine Frage der Zeit, dann fällt die Residenz.“

„Sie fällt uns wie eine reife Pflaume in den Schoß.“ Der Dicke lachte über den Vergleich und stieß mit de Escobedo an. Sie tranken Wein. Dann blickten sie zu einer Gruppe von Kerlen, die am Rande der Plaza entlangschlichen und sich zu den Belagerern gesellten.

„Siehst du sie?“ fragte Bastida. „Hölle, sie bewegen sich wirklich wie die Ratten.“

„Ja, sie kommen aus ihren Löchern“, sagte de Escobedo. „Am liebsten würde ich sie auspeitschen lassen, bevor ich sie in die Truppe aufnehme.“

„Ach, das ist vergeudete Mühe“, sagte der Dicke.

„Na schön. Je mehr Kerle wir haben, desto besser.“ De Escobedo schaute sich um. „Eine Hundertschaft haben wir jetzt zusammen, schätze ich.“

Bastida stieß ihn an und deutete zur Residenz. „Fällt dir was auf?“

„Natürlich. Die schießen kaum zurück.“

Wieder krachten die Drehbassen. Die Kugeln flogen zur Residenz. Ein paar prallten gegen die Außenmauer, die anderen sausten über die Zinnen und hagelten gegen das Residenzgebäude. Rufe und Flüche schallten zu den Belagerern herüber. Diese antworteten mit grölendem Gelächter. Ein paar Musketen knallten von der Residenz her, aber die Kugeln prallten wirkungslos vom Pflaster der Plaza ab.

„Unserer Leute haben kaum etwas zu befürchten“, sagte Bastida. „Sie bleiben ungeschoren.“

„Es scheint, als müßten die Belagerten mit Munition sparen“, sagte de Escobedo. „Gut so – für uns.“ Er lehnte sich zurück und trank noch einen Schluck Wein. Ja, es schien wirklich festzustehen: Es war nur noch eine Frage der Zeit, dann waren die in der Residenz Eingeschlossenen endgültig erledigt.

Bastida unternahm einen Rundgang und inspizierte seine Truppe. De Escobedo sollte ruhig glauben, der große Feldherr zu sein. Den Dicken störte es nicht. Von ihm aus konnte de Escobedo auch ruhig wieder Gouverneur werden. Um so besser. Er, Bastida, würde ihn dann völlig in der Hand haben. Eine Marionette, die genau das tat, was er bestimmte.

Gonzalo Bastida war der eigentliche Akteur, der große Macher. Mit seinen Maßnahmen exerzierte er de Escobedo vor, wie man es anpackte, um den Gegner zu demoralisieren und die eigene Truppe in Stimmung zu bringen und bei der Stange zu halten. Er betrieb raffinierte Kriegsführung. Alles war wohlüberlegt. Und für die Belagerten sah es wirklich sehr, sehr trübe aus.

Bastida trat zu Cuchillo, der an einer Hausecke stand und grinsend das Geschehen verfolgte.

„Ich gehe jetzt zurück zur Kneipe“, sagte der Dicke, „und nehme Rioja und Sancho mit. Gayo und du, ihr kommt dann gleich nach.“

„Du meinst, wir brauchen die Kerle nicht mehr zu bewachen?“

„Das ist jetzt nicht mehr nötig“, erwiderte der dicke Wirt. „Außerdem sind genug Soldados hier. Die klopfen den Hunden jederzeit auf die Finger, wenn sie zu frech werden.“

Cuchillos Augen verengten sich ein wenig. „Und de Escobedo?“

„Der ist doch froh, daß er wieder eine Truppe hat.“

„Er wird also nicht falschspielen?“

 

„Das kann er nicht“, entgegnete Bastida mit tückischer Miene. „Er würde sich dabei ins eigene Fleisch schneiden. So dumm ist er nicht.“

„Gut“, sagte Cuchillo. „Ich esse noch ein Stück Spanferkel, dann komme ich mit Gayo nach.“

Bastida entfernte sich mit seinen Leibwächtern Rioja und Sancho in Richtung Hafen. Trotz seiner Ankündigung, die Zapfhähne würden nicht mehr geöffnet, bis die Residenz erobert war, wollte der Dicke natürlich auf seine Geschäfte nicht verzichten.

Nachdem die rekrutierten Kerle allesamt verschwunden waren, wollte Bastida Wein und Bier für seine „Stammkundschaft“ ausschenken – für die Kerle, die zum harten Kern, also zu seiner Hausmacht, gehörten. Leibwächter, Soldados und gute Freunde – es sollte sozusagen ein kleines Familienfest werden, bei dem man schon mal auf den bevorstehenden Sieg anstieß.

Cuchillo hielt nach seinem Kumpan Gayo Ausschau. Gayo verschwand soeben mit einer der „Marketenderinnen“ in einem Haus. Cuchillo grinste. Er wandte sich ab, trat in eine Gasse und folgte dem betörenden Duft, der von einem der Höfe zu ihm wehte. Er verspürte Hunger. Ihm fiel ein, daß er seit dem frühen Morgen nichts gegessen hatte.

Osvaldo, El Sordo und Maria teilten keineswegs die allgemeine Begeisterung. Sie waren sich einig: Man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben. Die Belagerer waren ihrer Sache zu sicher. Irgend etwas Unvorhergesehenes konnte geschehen.

Beispielsweise konnten die Eingeschlossenen einen Ausfall unternehmen, wenn die ganze Bande so richtig betrunken war. Für die Soldaten der Miliz und der Garde würde es ein Himmelfahrtskommando sein – und doch konnte solch ein Überrumpelungsversuch einen gewissen Erfolg haben, wenn er zum richtigen Zeitpunkt durchgeführt wurde.

Osvaldo, der Taubstumme und das Mädchen waren skeptisch gestimmt. Aber immerhin waren sie froh, bei dem Angriff, den die Soldaten vorhin in der Hafengasse gegen Cuchillo geführt hatten, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Sie hätten schon tot sein können, wie Cuchillos Soldados. Daran dachten sie, und deshalb schnitten sie gute Miene zum üblen Spiel.

Es war dem Trio gelungen, sich ein wenig von den Belagerern abzusondern. An den Spießen wurden Leute gebraucht, die etwas von der Sache verstanden. Maria kannte sich aus, sie hatte im Hause des Don Felipe auch als Küchenhilfe arbeiten müssen. Während Osvaldo den Spieß drehte, auf dem ein großes, saftiges Ferkel steckte, und El Sordo immer wieder die Glut schürte, tunkte Maria einen Pinsel in einen Topf mit Olivenöl und überstrich das Schwein damit. So wurde der Braten besonders saftig.

Sie standen auf einem der Höfe, die zu „Feldküchen“ umfunktioniert worden waren. Ein paar Kerle lungerten herum und warteten darauf, daß das Schwein gar wurde. Auf den Steinstufen eines Hauseinganges hockte eine schwarzhaarige Hure – eine von Gonzalo Bastidas „Schnepfen“. Mit gierigen Augen verfolgte sie den Vorgang. Sie konnte es ebenfalls kaum erwarten, ihre Ration zu empfangen.

Maria bückte sich, griff mit der Hand in ein Salzfäßchen, richtete sich wieder auf und überstreute das Ferkel mit Salz. Plötzlich bemerkte sie, daß Osvaldo sie warnend anblickte.

„Achtung!“ zischte der Dieb. „Da ist er wieder.“

Er – das war Cuchillo. Grinsend betrat der Kerl den Hof. Sofort erkannte er Osvaldo, den Taubstummen und das Mädchen wieder. Er schritt auf sie zu und lachte.

„He!“ rief er. „So eine Überraschung!“

„Ja, es haut mich um“, murmelte Osvaldo.

„So trifft man sich wieder“, sagte Cuchillo und blieb dicht neben Maria stehen. „Ihr haltet wohl zusammen wie Pech und Schwefel, was?“

„Ja, wie das eben so ist“, erwiderte Maria. Sie sah den Kerl nicht an und fuhr fort, das Schwein mit Öl zu bestreichen.

„Sag mal, wann ist das Vieh denn endlich gar?“ fragte Cuchillo.

„Es dauert nicht mehr lange“, erwiderte Maria.

„Du kennst dich wohl mit Schweinen aus, was?“

„Ja, das kann man sagen.“

„Schon mal als Küchenbursche gearbeitet?“ fragte der Leibwächter lauernd.

„Ja.“

„Das ist doch keine Arbeit für Jungen“, sagte Cuchillo.

„Eigentlich wollte ich Koch werden“, erklärte Maria ungerührt.

„Ach so.“ Grinsend musterte Cuchillo sie von oben bis unten. „Wie alt bist du?“

„Ich werde im September dreizehn.“

„Ganz schön jung für einen Kerl mit deiner frechen Schnauze“, sagte Cuchillo. „Du wolltest mir doch zeigen, wie flink du mit dem Messer bist.“

„Ja.“

„Dazu hast du jetzt Gelegenheit.“

Maria stach mit einer großen Gabel in das Ferkel. Osvaldo und El Sordo schwitzten schon wieder, aber nicht wegen der Hitze der Glut. Ihnen wurde abwechselnd heiß und kalt.

„Das Fleisch ist gar“, sagte Maria. Herausfordernd blickte sie Cuchillo an. „Willst du das erste Stück haben?“

„Her damit!“

Maria schnitt den Braten an und reichte dem Kerl mit der Gabel ein dickes Lendenstück. Cuchillo packte das heiße Fleisch mit den Fingern und schlug seine Zähne hinein. Es schien ihn nicht sonderlich zu stören, daß er sich fast die Zunge verbrannte.

Auch die anderen Kerle waren nun heran. Die Schwarzhaarige stand auf, stemmte die Fäuste in die Seiten und schob sich auf die Feuerstelle zu. Maria teilte die Bratenstücke aus. Auch die Schwarzhaarige erhielt ihren Anteil.

„Was will Cuchillo von dir?“ fragte die Hure leise.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Maria flüsternd.

Die „Señorita“ betrachtete das Mädchen nachdenklich.

„Hm“, murmelte sie.

Cuchillo sah zu ihnen herüber.

„Heda!“ rief er. „Was habt ihr zu tuscheln, ihr beiden?“

„Hier fehlt’s an richtigen Kerlen“, erwiderte die schwarzhaarige Hure. „Vielleicht taugt der Junge mehr als ihr Strolche zusammen.“

Die Kerle protestierten grölend. Cuchillo trat auf Maria und die Schwarzhaarige zu.

„Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, Juanita“, sagte er drohend. „Von dir lasse ich mich nicht beleidigen. Und hör auf, dich an den Jungen ranzupirschen.“

„Eifersüchtig?“

„Der bricht doch zusammen, wenn du ihn durch die Mangel drehst.“ Cuchillo lachte höhnisch.

„Und was hast du mit ihm zu reden?“ fragte die Hure zynisch. „Bist du neuerdings andersrum, Cuchillo?“

Cuchillo packte die Schwarzhaarige am Arm und riß sie zu sich heran. „Untersteh dich, so was zu behaupten! Komm her, du Miststück, dir zeige ich, was eine Seereise ist!“

Die Hure lachte. „Wußte noch gar nicht, daß du Erfahrungen mit Seereisen hast.“

Cuchillo zerrte die Frau zu dem Hauseingang, auf dessen Stufen sie vorher gehockt hatte. Sie verschwanden im Inneren, und kurz darauf war das Kreischen der Hure zu vernehmen. Die Kerle auf dem Hof stießen sich untereinander an und gaben ihre Kommentare zu dem Geschehen ab. Ja, dieser Cuchillo, das war schon ein Kerl!

Osvaldo und El Sordo atmeten auf. Osvaldo trat neben das Mädchen und murmelte: „Da hast du noch mal Glück gehabt.“

„Wieso?“

„Diese Juanita hat dir aus der Klemme geholfen.“

„Du meinst …“

„Sie hat natürlich kapiert, daß du in Wirklichkeit ein Mädchen bist“, raunte der Dieb. „Frauen spüren so was. Die haben einen Riecher dafür.“

„Ob Cuchillo auch was ahnt?“ fragte Maria.

„Aber sicher doch.“

„Dieser Widerling“, flüsterte sie. „Ein ekelhafter Kerl. Lieber sterbe ich, als mich von dem anfassen zu lassen.“

„Wenn er dich umbringt, tötet er uns auch“, sagte Osvaldo. „Wir gehören zusammen, vergiß das nicht.“

Maria sah ihn an. „Ich denke daran“, erklärte sie. „Und ich werde versuchen, ein bißchen vorsichtiger zu sein.“

„Darum möchte ich dich auch gebeten haben“, erwiderte Osvaldo seufzend.

El Sordo blickte zu den Fenstern des Hauses. Einmal sah er die Schwarzhaarige, die sich tanzend hin und her bewegte. Er schüttelte den Kopf. Hier sind alle total verrückt, dachte er. Und er malte sich aus, wie schön es gewesen wäre, mit Burrito und dem Karren heimlich zu verschwinden.

Cuchillo verließ das Haus durch den vorderen Eingang. Auf der Gasse prallte er um ein Haar mit Gayo zusammen.

„Kumpel“, sagte Gayo grinsend. „Wo bist du denn gewesen?“

„Dreimal darfst du raten.“

Gayo blickte zu der schwarzhaarigen Juanita, die fächelnd am Türpfosten lehnte. Der nächste, bitte, schien sie sagen zu wollen.

„Brauchst du nicht ’ne Stärkung?“ fragte Gayo.

„Und du?“ Cuchillo strich sich mit der Hand über den Bauch. „Ich habe schon ein Stück Ferkel verdrückt.“

„Ich auch. Dann sollten wir jetzt noch tüchtig einen hinter die Binde kippen.“

„Gonzalo will, daß wir in die Kneipe zurückkehren“, sagte Cuchillo.

Er überlegte. Sollte er noch einmal auf den Hof gehen? Diesem Mario brauchte er nur einmal ins Hemd zu schauen, um herauszufinden, ob sich sein Verdacht bestätigte. Aber er hatte schon genug Zeit mit Juanita verbracht. Gonzalo Bastida wartete auf seine Leibwächter. Es empfahl sich nicht, bei Bastida unpünktlich zu sein.

„Na, was ist?“ fragte Gayo.

„Ja, gehen wir“, entgegnete Cuchillo. Gemeinsam marschierten sie zum Hafen hinunter. Bald waren ihre Gestalten hinter der Krümmung der Gasse verschwunden.

Juanita gab sich einen Ruck, drehte sich um, schritt durch das Haus und kehrte auf den Hof zurück.

„Gibst du mir noch ein Stück Fleisch?“ fragte sie Maria.

Maria händigte ihr eine Scheibe Filet aus. „Und vielen Dank übrigens“, sagte sie.

„Für was denn?“

„Na, für die Rettung eben.“

„Nicht der Rede wert, Schätzchen“, erwiderte Juanita. „Aber ich an deiner Stelle würde mich vorsehen. Egal, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist – wenn die Kerle richtig voll sind, fallen sie über dich her.“ Sie blickte sich nach allen Seiten um. Die anderen Kerle waren jetzt verschwunden. Nur Osvaldo und El Sordo waren außer ihnen beiden noch auf dem Hof. Von der Plaza ertönte wieder das Krachen der Drehbassen. Die Kerle johlten und pfiffen.

„Es wäre wohl am besten, wenn wir abhauen“, sagte Osvaldo.

„Klar“, meinte Juanita. „Aber wohin?“

„Richtung Süden, nach Batabanó.“

„Und wenn Cuchillo was merkt?“ fragte die Hure. „Man müßte einen günstigen Moment abpassen. Vielleicht heute nacht.“

El Sordo grinste und tippte der Schwarzhaarigen mit dem Finger gegen den Arm. Osvaldo begriff sofort, was er meinte.

„Sag mal, willst du etwa auch die Kurve kratzen?“ fragte er.

„Ja, das würde ich gern tun“, entgegnete Juanita. Ihr Gesicht verzerrte sich etwas. „Ich habe Havanna satt. Besonders Cuchillo, Gayo, Rioja und Sancho gehen mir entschieden gegen den Strich, wenn du kapierst, was ich meine.“

„Willst du mit uns gehen?“ fragte Maria.

„Klar“, erwiderte Juanita. „Ihr drei gefallt mir irgendwie.“

„Warum tun wir uns nicht zusammen?“ fragte Maria.

Osvaldo stöhnte auf. „Wir haben an dir schon genug.“

„Habt ihr eigentlich Geld, um euch über Wasser zu halten?“ erkundigte sich Juanita.

„Ein bißchen schon“, erwiderte Osvaldo vorsichtig.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte die Hure. „Ich klaue dir deine Silberlinge nicht. Aber hört mal zu. Ich habe ein hübsches Sümmchen zusammengespart. Wir könnten zusammenschmeißen und irgendwo im Süden der Insel ’nen eigenen Laden eröffnen.“

„Laden?“ wiederholte Maria zweifelnd.

„Na, eine Kneipe oder so.“

„Warum tust du das nicht allein?“ fragte Osvaldo.

„Denk doch mal nach“, sagte die Schwarzhaarige. „Wenn ich allein aufbreche, komme ich nicht weit. Mir brauchen bloß ein paar Wegelagerer in die Quere zu geraten, und ich bin geliefert. Ich habe zwar ein Messer, aber gegen eine Übermacht von Kerlen könnte ich mich nicht verteidigen.“

Osvaldo, El Sordo und das Mädchen Maria sahen dies ein. Zu viert hatte man mehr Chancen, sich durchzuschlagen. Sie versprachen Juanita, über den Vorschlag zu beratschlagen. Sicher war, daß die vier das Weite suchen würden – ob zu viert oder getrennt, würde sich noch herausstellen.

Und wenn es in dieser Nacht nicht klappte, dann eben in der nächsten oder übernächsten. Hauptsache war, Havanna den Rücken zu kehren. Die Mäuse tanzten hier auf dem Tisch. Aber das konnte nicht ewig dauern. Osvaldo, El Sordo, Maria und auch Juanita waren überzeugt, daß alles noch ein böses Ende nehmen würde.

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