Seewölfe Paket 23

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7.

Er hatte jetzt vollends die Beherrschung verloren und war kaum noch Herr seiner Sinne. Er sprang zurück, riß die Pistole hoch und schwang sie hin und her.

„Ihr Bastarde!“ brüllte er. „Ich werde euch standrechtlich erschießen!“

„Überlegen Sie sich, was Sie tun, Señor“, sagte der Sargento. „Nehmen Sie doch endlich Vernunft an.“

„Er verliert den Verstand“, sagte der Alte.

„Ihr Feiglinge!“ stieß Gomez hervor. „Ihr Ratten! Euch mache ich fertig, wenn ihr nicht gehorcht! Ihr kehrt nicht nach Potosi zurück!“

„Das tun wir auch nicht, wenn wir Ihre Befehle befolgen, Teniente“, sagte der alte Soldat. „Jedes Ding hat seine Grenze. Wir wären bereit gewesen, über den Stein zu klettern und die Brustwehr da oben zu stürmen, wenn wir wenigstens ein Deckungsfeuer gehabt hätten. Aber doch nicht so!“

Sie standen empört und in lauernder Haltung vor ihm, den Rücken dem Felsquader zugewandt. Zwei oder drei von ihnen schienen auch verwirrt zu sein, aber die Mehrheit war eindeutig gegen ihn.

Dummerweise hatte Gomez seine Muskete gegen den Quader gelehnt, so daß er sie jetzt nicht zur Verfügung hatte. Sie war nicht mehr erreichbar für ihn. Der Sargento brauchte nur die Hand auszustrecken, dann hatte er sie.

Gomez richtete die Pistole langsam auf den Sargento.

„Wenn ihr feiges Pack euch einbildet, ihr könnt mich reinlegen, dann habt ihr euch getäuscht!“ zischte er.

Hasard hatte Ribault und Carberry unterdessen ein Zeichen gegeben.

„Wir müssen da eingreifen“, sagte er gedämpft. Den anderen Männern warf er noch einen raschen Blick zu. „Ihr wißt ja, was ihr zu tun habt.“ Dann verließ er die Brustwehr und huschte über den Pfad, gefolgt vom Profos und dem Franzosen.

Sie schlichen am Rand des Plateaus entlang, gelangten an die Felsen und arbeiteten sich vorsichtig darin vorwärts. Immer noch waren die Stimmen der Spanier zu vernehmen und rückten allmählich etwas näher.

Der Sargento sagte genau in diesem Moment: „Sie haben nur eine Kugel, Teniente, vergessen Sie das nicht.“

Gomez wollte lachen, aber es wurde nur ein Krächzen daraus. „Ich denke daran. Und ich denke auch, wie es aussehen wird, wenn du Hund ein häßliches Loch in deinem Schädel hast.“

„Wen von uns Sie auch erschießen“, fuhr der Sargento fort, „gegen die neun anderen haben Sie nicht die geringste Chance.“

„Ich lege dich um!“ zischte Gomez.

Der alte Soldat versuchte, sich vor den Sargento zu stellen. „Das ist noch nicht gesagt.“

„Aus dem Weg!“ brüllte Gomez ihm zu.

„Was Sie von uns verlangen, ist gegen jede Vernunft, Teniente“, sagte der Alte. „Wir sind Soldaten, und wir wollen nicht rebellieren, aber verheizen lassen wir uns auch nicht.“

„Weg! Oder ich erschieße dich!“ schrie Gomez.

Der Sargento sorgte selbst dafür, daß der alte Mann nicht gefährdet wurde. Trotz seines Protestes packte er ihn am Arm und zerrte ihn zur Seite. Der Alte stolperte und prallte mit einem der anderen Soldaten zusammen, der mit völlig entgeisterter Miene auf Gomez blickte.

„Teufel“, murmelte der Soldat. „Der tut’s wirklich.“

Gomez hielt die Pistole mit beiden Händen und war in seiner grenzenlosen Wut im Begriff, auf den Sargento abzudrücken. Doch genau in diesem Augenblick tauchte Hasard oben auf dem Felsquader auf.

Von den Steilfelsen aus hatten Hasard, Ribault und der Profos einen bisher unentdeckten Abstieg entdeckt, der sie auf den Pfad hinunterführte. Sie waren fast steckengeblieben, doch die Mühe hatte sich gelohnt – unbemerkt waren sie bis an den Felsklotz herangelangt, während sich auf der anderen Seite die Lage zuspitzte.

Jetzt war Gomez völlig überrascht, als der „schwarzhaarige Bastard“ seine Pistole auf ihn richtete und den Hahn spannte. Deutlich war das Knacken zu vernehmen.

„Lassen Sie die Pistole fallen, Teniente, oder ich schieße“, sagte Hasard.

„Der Bastard!“ brüllte Gomez wie von Sinnen.

Vergessen war der Sargento. Er richtete die Pistole auf den Seewolf und zog durch. Im selben Moment feuerte auch Hasard. Gleichzeitig wich er zur rechten Seite aus.

Gomez’ Kugel pfiff haarscharf an ihm vorbei. Hasard vermutete im ersten Hinsehen, daß auch seine Kugel fehlgegangen war. Aber er irrte sich. Gomez war getroffen.

Gomez wurde zurückgestoßen. Er taumelte quer über den Pfad und verlor die leergeschossene Pistole aus der Hand. Seine Hände griffen ins Leere und schienen irgendwo nach einem Halt zu suchen. Er röchelte und faßte sich an die Brust. Jetzt war auch der dunkle Fleck an seinem ungeschützten Hals zu sehen, der sich allmählich vergrößerte.

Nur noch einen einzigen Schritt tat Alvaro Gomez, dann hatte er – unter den Blicken seiner Männer – den Rand des Pfades erreicht. Keiner traf Anstalten, ihn festzuhalten. Er kippte über den Rand und verschwand in der Finsternis. Sein gellender Schrei tönte durch die Nacht und verebbte, dann war nichts mehr zu vernehmen, nicht einmal ein Aufprall.

In der Zwischenzeit war auch Jean Ribault neben Hasard aufgetaucht. Hasard wandte sich halb um. Carberry warf ihm einen Blunderbuss zu, Hasard fing ihn geschickt auf, spannte den Hahn und richtete ihn auf die Soldaten.

„Weg mit den Waffen!“ befahl er ihnen.

Der Sargento gehorchte als erster. Die anderen folgten seinem Beispiel.

Der Alte grinste sogar und sagte: „Na also. Jetzt sind wir Gefangene, aber wenigstens ist es Gomez nicht gelungen, dich abzuknallen, Sargento.“

„Damit wäre auch ich nicht einverstanden gewesen“, sagte Ribault mit ernster Miene.

„In Ordnung, Señores“, sagte Hasard. „Sie marschieren jetzt nach Potosi zurück.“

„Sie wollen uns – wirklich laufen lassen?“ fragte der Sargento erstaunt.

„Ja, das habe ich vor. Haben Sie etwas dagegen?“

„Natürlich nicht. Aber ich …“

„Señor“, sagte Ribault. „Sie können auch bleiben, wenn Sie wollen. Vielleicht ziehen Sie es vor, Don Ramón de Cubillo Gesellschaft zu leisten?“

„Auf keinen Fall!“

„Sargento“, sagte der alte Soldat. „Ich glaube, es wird Zeit, daß wir verschwinden.“

„Die Maultiere bleiben natürlich hier“, sagte Hasard. „Sie müssen es schon auf sich nehmen, den Rückweg zu Fuß anzutreten. Ich glaube aber, daß es Ihnen keine allzu große Mühe bereiten wird.“

„Danke“, sagte der Sargento, der jetzt seine Fassung wiedererlangte. „Sie haben mir das Leben gerettet, Señor. Und meinen Kameraden auch.“

„Dafür brauchen Sie sich nicht zu bedanken“, sagte der Seewolf kühl. „Ich habe etwas dagegen, wenn man guten Männern keine Chance läßt. Und zu den guten Männern zähle ich vor allem jene, die in den Minen von Potosi für Ihren König von Spanien krepieren müssen.“

Der Sargento senkte unwillkürlich den Blick.

„Ich verstehe“, murmelte er.

„Vielleicht denken Sie darüber einmal nach“, sagte Hasard. „Mein Gott – kein Vizekönig, kein Provinzgouverneur und kein Luis Carrero hat das Recht, unschuldige Menschen zu versklaven, auszurotten, zu schinden oder zu demütigen. Und auch Indios sind Menschen, Señores. Sie haben dieselben Rechte wie wir. Man hat sie ihres Landes beraubt, und jetzt sollen sie ausgerottet werden. Kann man einem Volk etwas Schlimmeres antun?“

„Wer sind Sie, Señor?“ fragte der Sargento.

„Ein Feind Ihres Königs“, erwiderte Hasard.

„Das merkt man“, sagte der alte Soldat. Hölle, er konnte es einfach nicht verbergen: Dieser schwarzhaarige Riese imponierte ihm!

„Und ein Feind aller derer, die sich anmaßen, über andersfarbige Menschen zu herrschen und die Peitsche zu schwingen“, fuhr der Seewolf fort.

Der Sargento blickte zu ihm auf und versuchte, mehr aus den Zügen dieses Mannes zu lesen. Was für ein sonderbarer Mann, dachte er, aber er hat doch recht, dieser Fremde. Wer sind wir eigentlich? Gott auf Erden? Eines Tages gibt es einen gewaltigen Knall, und das spanische Königreich existiert nicht mehr.

Auch der Sargento mußte sich eingestehen, daß er eine ungeheure Achtung vor dem schwarzhaarigen Riesen hatte. Unglaublich: Dieser Mann hatte das Unmögliche fertiggebracht und Potosi mit einem Schlag aus den Angeln gehoben – mit nur elf Männern! Das bewies einerseits, wie verletzlich Spanien doch war, und andererseits, daß auch Städte wie Potosi vor dem Zugriff eines Feindes nicht sicher waren. Ein starker Gegner – er war nicht zu überwältigen. Wenn man ihm fünfzig Soldaten nachgesandt hätte, wäre er auch mit diesen fünfzig fertig geworden.

„Noch etwas“, sagte Hasard. „Nehmen Sie Ihren Kameraden mit. Ich habe nicht das geringste Interesse daran, ihn hierzubehalten.“

Carberry verschwand auf sein Zeichen hin und kehrte über den Pfad zu der Brustwehr zurück, wo die anderen mit gespannten Mienen warteten.

„Ihr habt es ja gehört“, sagte der Profos. „Wir lassen die Dons verduften. Es ist aber auch richtig so. Was sollen wir mit so vielen Gefangenen?“

Pater David hatte den Gefangenen bereits aus der Höhle geholt. Er nahm ihm den Knebel ab, und der Mann stammelte: „Was habt ihr vor? Was wollt ihr mit mir machen?“

„Du kehrst nach Potosi zurück“, entgegnete der Gottesmann.

„Ich … Wer hat mich niedergeschlagen?“

„Ich.“

„Dafür wird der Teniente Gomez mich zu Tode peitschen.“

„Der Teniente Gomez lebt nicht mehr“, sagte Pater David. „Er wird keinen Menschen mehr mißhandeln, Soldat. Wie heißt du?“

„Hernan Tores.“

„Gut, Hernan Tores. Geh hin, bete zu Gott und danke ihm dafür, daß du mit einem blauen Auge davongekommen bist.“

„Ihr seid – Spanier, Padre?“

 

„Ja. Einen schönen Gruß auch an Potosi, und man soll es aufgeben, gute Soldaten für sinnlose Unternehmen zu verheizen.“

„Ja, ja“, sagte Hernan Tores. „Ich wußte nicht, daß ein Padre so hart zuhauen kann.“

„Ein Padre kann dies und anderes mehr“, erwiderte Pater David mit gütiger Miene. „Aber jetzt geh endlich, mein Sohn, sonst verpaßt du den Anschluß.“

Er übergab Hernan Tores Carberry, und dieser führte ihn bis zu dem Felsbrocken. Hier durfte der Soldat zu seinen Kameraden klettern – vorbei an dem schwarzhaarigen Riesen und dem grinsenden Franzosen, die er in einer Mischung aus Entsetzen und Bewunderung anstarrte.

„Es ist alles meine Schuld“, sagte Tores.

„Nein“, entgegnete der Sargento. „Wir wären so oder so in die Falle gelaufen. Und wenn der Teniente seinen Wahnsinn weiter getrieben hätte, wären wir jetzt alle tot.“

„Wir haben Glück“, sagte Tores.

„Und wir haben Gnade gefunden“, sagte der alte Soldat mit einem neuerlichen Blick zu Hasard. Er nahm seinen Helm ab und deutete eine Verbeugung an. „Danke, Señor. Auch ich werde nicht vergessen, was Sie getan haben.“

Wenig später zogen die Soldaten ab und ließen die fünf Maultiere, die sie noch bei sich gehabt hatten, zurück.

Hasards Männer räumten in mühsamer Arbeit den Felsquader weg. Carberry legte sich mächtig ins Zeug, und er war es schließlich, der dem Klotz den entscheidenden Stoß versetzte. Donnernd rumpelte der Felsen über die Kante und raste in die Tiefe. Als er unten aufprallte, war ein grollender Laut zu vernehmen.

Hasard und seine Männer räumten noch einige kleinere Gesteinsbrocken aus dem Weg, dann begaben sie sich zu den fünf Maultieren.

„Feine Tierchen“, sagte Carberry. „Gesund und munter sehen sie aus. Na, dann haben wir also dreißig Maultiere.“

„Sicher“, sagte der Seewolf. „Aber diese zehn Viecher, die wir heute nacht erbeutet haben, werden wir bei der Indio-Familie lassen, bei der sich Fred befindet.“

„Fred Finley“, sagte Ribault grinsend. „Den hätte ich glatt vergessen, wenn du mich nicht an ihn erinnert hättest. Ob sein Knöchelbruch wohl geheilt ist?“

„Mit Sicherheit“, entgegnete der Seewolf. „Und vielleicht hat er inzwischen geheiratet.“

Ribault mußte lachen. „Ach, du meinst, er ist auch, ein Indio geworden? Warum nicht?“

„Ihr spinnt“, sagte der Profos. „Und ich habe keine Lust, mir das noch länger anzuhören.“ Er packte die Zügel der Maultiere. Sie sträubten sich ein wenig, folgten ihm dann aber brav und friedlich. „Euer Glück“, brummte er, „daß kein so störrisches Biest wie dieser Diego unter euch ist. Das hätte uns noch gefehlt.“

Sie kehrten auf das Plateau zurück. Die Brustwehr wurde beseitigt, die Maultiere konnten passieren und wurden in die Höhlen gebracht. Jetzt war der Weg wieder frei.

Hasard und die anderen Männer beobachteten noch einige Zeit den Pfad, aber die Soldaten tauchten nicht wieder auf. Sie waren wirklich froh, alles hinter sich zu haben, und sie dachten nicht im entferntesten daran, sich irgendeines Tricks zu bedienen.

Tores schritt neben dem Sargento und dem alten Soldaten.

„Wer ist dieser schwarzhaarige Kerl?“ fragte er, während sie mit raschen Schritten dem Verlauf des abfallenden Pfades folgten.

„Das weiß keiner“, erwiderte der Sargento. „Er Spricht ohne jeden Akzent wie ein Spanier.“

„Aber er ist keiner“, sagte der Alte. „Dafür lasse ich mir notfalls die Hand abhacken.“

„Nicht nötig“, sagte der Sargento. „Ich bin selbst davon überzeugt, daß er ein Fremder ist. Vielleicht ein Italiener.“

„Nein. Ein Engländer.“

„Was?“ Der Sargento glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Ist das dein Ernst?“

„Mein voller Ernst. Aber am besten vergeßt ihr das gleich wieder. Wir sollten es für uns behalten.“

„Engländer in Potosi“, sagte der Sargento. „Das ist wirklich ungeheuerlich.“

„Ich bin froh, daß ich mit heiler Haut davongekommen bin“, sagte Tores. „Damit hätte ich nicht mehr gerechnet. Ich hatte schon mein letztes Gebet gesprochen. Jetzt kann ich mich vom Pfarrer neu taufen lassen.“

„Hast du eigentlich Don Ramón irgendwo gesehen?“ fragte ihn der Alte.

„Nein. Aber in einer Höhle jammerte jemand. Vielleicht war er das.“

„Ich kann ihn nicht bedauern“, sagte der Sargento. „Er ist ein widerlicher Sadist und ein perverser Hund. Wenn sie ihn ein bißchen piesacken, geschieht es ihm ganz recht.“

„Wie gut, daß der Teniente das nicht hören kann“, sagte der Alte. „Nun, er hat sein Fett bekommen. Recht so. Keiner weint ihm eine Träne nach. Oder?“ Er wandte sich um und blickte die anderen an. „Täusche ich mich?“

Sie schüttelten die Köpfe. Gomez hatte auch sie in den Tod treiben wollen. Statt dessen hatte er ins Gras gebissen. Er hatte es selbst so haben wollen, es war seine eigene Schuld. Man konnte ihn wirklich nicht bedauern, beim besten Willen nicht.

8.

Delon und Ventura waren die ganze Zeit über nicht untätig gewesen. Sie hatten den Geräuschen gelauscht. Draußen fand ein Kampf statt – die Soldaten aus Potosi waren da. Das führte zwangsläufig dazu, daß der Feind abgelenkt war und sich um seine Gefangenen nicht kümmern konnte.

Sie waren gefesselt und geknebelt, aber sie konnten auf dem Hosenboden durch die Höhle rutschen. Bis an die Wand. Hier gab es scharfkantige Vorsprünge, an denen sie – mit einigen Verrenkungen – ihre Handfesseln reiben konnten.

Ventura glaubte, die Stricke in kurzer Zeit durchscheuern zu können. Aber er irrte sich. Es war ein mühseliges Werk, das sehr viel Zeit erforderte. Immer wieder hielt er inne. Bald wollte er es aufgeben, denn der ersehnte Erfolg stellte sich nicht ein. Die Fesseln waren immer noch straff wie zuvor, sie hatten sich nicht einmal ein bißchen gelockert.

Delon rieb und scheuerte eifriger und kam schneller voran. Er befand sich auch in einer günstigeren Position. Der scharfkantige Stein, an dem er die Fesseln rieb, ragte nur wenige Zoll über dem Boden aus der Höhlenwand. Er konnte im Sitzen arbeiten, während Ventura sich halb aufrichten mußte – eine verkrampfte Haltung, die ihm viel Energie abverlangte.

Die Zeit verstrich. Draußen war es ruhig geworden. Vorbei waren die Schüsse und Schreie, vorbei auch das Reden der Männer. Stille war wieder eingetreten. Delon und sein Kumpan vermuteten, daß die Feinde sich schlafen gelegt hatten. Das war auch richtig: Nur Dan O’Flynn und Pater Aloysius gingen bei der Barriere Wache.

Delon schloß die Augen. Ununterbrochen bearbeitete er die Stricke, das harte, scharfe Gestein schnitt ihm auch in die Haut. Blut rann ihm über die Hände. Die Gelenke begannen wie verrückt zu schmerzen. Er kümmerte sich nicht darum. Wie besessen feilte er an dem Tauwerk herum. Seine Finger waren wie abgestorben, die Stricke schienen tief ins Fleisch einzudringen. Delon achtete nicht darauf, er hatte nur sein Ziel vor Augen.

Aus den Nachbarhöhlen drangen Schnarchgeräusche herüber. Irgend jemand schien auch im Schlaf zu wimmern. Don Ramón, diese feige Ratte, dachte Delon verächtlich. Zur Hölle mit ihm!

Wenn das Vorhaben gelang, mußte er Ventura befreien. Gemeinsam würden sie von diesem Plateau der Hölle fliehen, das sie anderenfalls wahrscheinlich nicht mehr lebend verlassen würden.

Delon hatte seine eigenen Vorstellungen von der Art, wie die Bastarde, wie er sie nannte, weiterhin mit ihnen verfahren würden. Denen war nicht daran gelegen, sie auch noch als zusätzlichen Ballast mitzuschleppen.

Und wenn die Kerle sie nicht töteten, dann würden das die drei Indios besorgen. Den ganzen Tag über waren sie herumgeschlichen und hatten Delon und Ventura immer wieder mörderische, haßerfüllte Blicke zugeworfen.

Flucht – das war die einzige Rettung. Eins war dabei jedoch gewiß: Er, Delon, würde für den dicken Don Ramón keinen Finger rühren. Ventura war mit Sicherheit der gleichen Ansicht.

Und wenn der Hund tausendmal der Provinzgouverneur gewesen war – jetzt zählte er keinen Silberling mehr. Sein Leben war nichts wert, und es brachte ihnen nichts ein, wenn sie ihn mitschleiften. Er würde sie durch sein Gejammer ohnehin nur verraten. Außerdem war er zu langsam. Nein, der Dicke würde hierbleiben. Sollten die Indios ihn zerfleischen.

Delon öffnete die Augen wieder und blickte zu Ventura, dessen Gestalt er im Dunkel mehr ahnen als wirklich sehen konnte. Ventura schien Schwierigkeiten zu haben. Er würde es wahrscheinlich nicht schaffen, seine Fesseln vor dem Hellwerden aufzureiben. Nur er, Delon, mußte es fertigbringen. Von ihm hing alles ab.

Dan O’Flynn und Pater Aloysius unterhielten sich leise miteinander. „Wie spät ist es deiner Meinung nach?“ fragte der Gottesmann.

„Gegen drei Uhr, schätze ich.“

„Glaubst du, daß wir heute nacht noch Besuch erhalten?“

„Von weiteren Soldaten?“

„Ja, natürlich“, brummte Pater Aloysius. „Nicht vom Heiligen Geist.“

„In Arica weiß man nichts“, murmelte Dan. „Wir haben die Boten ja abgefangen. Daß von Potosi aus eine Nachhut unterwegs ist, ist ziemlich unwahrscheinlich. Und die zehn, die wir haben laufenlassen, kehren bestimmt nicht zurück.“

„Also bleibt alles ruhig“, sagte der Gottesmann. „Ja, das denke ich auch. Im Morgengrauen können wir wohl wieder aufbrechen. Aber was wird dann aus den Gefangenen?“

„Die nehmen wir mit, soviel mir bekannt ist.“

„Wie weit ist es noch bis zur Küste?“ überlegte Pater Aloysius. „Drei bis vier Wochen werden wir wohl unterwegs sein. Wenn ich daran denke, daß der Profos den Dicken wieder antreiben wird, wird mir anders.“

„Es könnte auch sein, daß Hasard Don Ramón irgendwo auf dem Altiplano zurückläßt“, sagte Dan.

„Und die beiden anderen?“

„Es wäre wohl das beste, wenn sie auch in den Bergen bleiben würden.“ Dan sann darüber nach. Welche Probleme brachte das mit sich? Würden dieser Delon und dieser Ventura nicht versuchen, ihnen trotzdem zu folgen? Oder eilten sie geradewegs nach Arica, um Alarm zu schlagen? Gewiß – das würde ihre Rache sein. Und diesmal erreichten sie Arica, zumal Hasard und sein Trupp ja nicht nach Arica, sondern nach Tacna gingen. Don Ramón de Cubillo hingegen stellte keine Gefahr dar, wenn er ausgesetzt wurde, denn er bewegte sich ja mit der Geschwindigkeit einer Schnecke.

Während Dan und der Pater über diesen Punkt nachdachten, war es Delon gelungen, seine Handfesseln zu lockern. Wie wild wetzte er sie an dem scharfen Felsen. Die Hände und die Gelenke brannten wie Feuer, aber jetzt, endlich, sprangen die Stricke auf.

Er ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken und hob langsam die Hände. Sie waren völlig gefühllos, er hatte Schwierigkeiten, sie zu bewegen. Aber schließlich gelang es ihm, sich den Knebel aus dem Mund zu zerren. Er atmete auf. Wieder war er ein Stück weiter. Jetzt kamen die Fußfesseln an die Reihe. Aber zuerst mußte er seine Finger massieren, damit er sie wieder richtig bewegen konnte.

Jede Regung tat weh. Er biß die Zähne zusammen. Die Gelenke bluteten immer noch, doch er hatte keine Zeit, sie zu verbinden. Das würde er später tun. Jetzt kam es darauf an, so schnell wie möglich zu verschwinden, bevor die Kerle aufwachten oder auf den Gedanken verfielen, ihre beiden Gefangenen zu kontrollieren.

Allmählich spürte Delon die Finger wieder, und er begann, die Knoten der Fußfesseln zu lösen. Zunächst hatte es den Anschein, als würde es nicht gelingen, dann aber dröselte er den einen Knoten auf, und die Stricke lockerten sich. Der Rest war ein Kinderspiel.

Endlich war er frei, die Fesseln und der Knebel lagen auf dem Höhlenboden. Er kroch zu Ventura und gab diesem durch ein Zeichen zu verstehen, er solle sich auf den Boden setzen. Ventura sank herunter. Er hatte wieder versucht, die Handstricke aufzuwetzen, aber für ihn war es ein viel zu langwieriges, unmögliches Unterfangen. Erleichtert verfolgte er mit seinem Blick, wie sich Delon vor ihn hinkniete, ihn von den Handfesseln befreite und ihm den Knebel aus dem Mund nahm.

„Danke, Amigo“, raunte er ihm zu. „Hölle, ich dachte schon, ich werde verrückt.“

„Sei still“, flüsterte Delon. „Sie dürfen uns nicht hören.“

Wenige Augenblicke später war Ventura auch von seinen Fußfesseln befreit. Über die weitere Verfahrensweise brauchten sie sich nicht abzusprechen. Sie mußten ungesehen entkommen, natürlich mit zwei Maultieren, die sie schnell davontragen und etwaige Verfolger abhängen würden.

Geduckt verließen sie die Höhle und schlichen hinüber zu den angehobbelten Maultieren. Sie hatten sie fast erreicht, da geschah etwas, mit dem sie absolut nicht gerechnet hatten. Laute, trompetenartige Geräusche ertönten – Diego, das Maultier, hatte sie bemerkt und schlug auf seine Weise Alarm.

 

Dan O’Flynn und Pater Aloysius, die sich nach wie vor auf ihrem Wachtposten befanden, fuhren herum und entdeckten die beiden Gestalten bei den Maultieren.

„He!“ stieß Dan hervor.

Delon und Ventura waren wie vom Donner gerührt, aber jetzt war es Delon, der als erster reagierte.

„Weg!“ zischte er.

Sie ergriffen die Flucht und jagten über das Plateau westwärts, dorthin, wo der Pfad in Richtung Arica verlief.

„Halt!“ brüllte Dan. „Oder ich schieße!“

Aber Delon und Ventura dachten nicht daran, stehenzubleiben. Sie hetzten weiter. Die Distanz zwischen ihnen und dem Gegner wuchs. Im Dunkeln hatten sie die Chance, zu entkommen, gleich konnte man sie nicht mehr sehen.

Wir schaffen es, dachte Delon triumphierend, sie erwischen uns nicht mehr, diese Hunde!

Frei! schrie es in Ventura. Ab zwischen die Felsen, da kriegen sie uns nicht!

Carberry fuhr von seinem Lager hoch und stieß sofort Jean Ribault mit dem Ellenbogen an, der neben ihm lag. Ribault fluchte, richtete sich aber ebenfalls auf und vernahm die Rufe, die von der Barriere aus ertönten.

„Was ist da los?“ fragte er.

„Diego hat offenbar im richtigen Moment Blähungen gehabt“, sagte der Profos. „Holle, wenn mich nicht alles täuscht, reißen unsere Gefangenen gerade aus!“

Hasard war bereits auf den Beinen und wollte ins Freie stürmen, stoppte aber ab, als er sah, wie Dan und Pater Aloysius die Musketen hoben. Er durfte ihnen nicht in die Schußlinie geraten.

Dan und der Pater feuerten. Die Musketen krachten fast gleichzeitig. Im Aufzucken der Mündungsblitze konnte Hasard die beiden flüchtenden Gestalten deutlich erkennen. Sie hatten den Pfad fast erreicht, aber Dan und auch der Pater waren hervorragende Schützen.

Delon wurde ein Stück nach vorn geschleudert und brach zusammen. Er blieb auf dem Bauch liegen. Ventura krümmte sich, humpelte noch ein paar Schritte weiter und fiel dann ebenfalls hin. Er wälzte sich auf den Rücken und stöhnte auf.

Pater Aloysius hatte keinerlei Hemmungen gehabt, auf Ventura, den er aufs Korn genommen hatte, abzudrücken. Bei ihm galt das biblische Auge um Auge, Zahn um Zahn.

„Recht so“, sagte er grimmig und ließ die Muskete wieder sinken. „Das ist die Strafe des Herrn. Warum haben sie sich bloß eingebildet, sie könnten fliehen, ohne daß wir es merken?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Dan. „Aber die haben wohl gedacht, wir würden sie so oder so töten.“

„Das beweist, wes Geistes Kind sie sind“, sagte Pater Aloysius. „In ihrer Vorstellungswelt gibt es nur Galgenstricke und Schlagetots, wie sie es sind.“

Delon vernahm noch diese Worte, und er spuckte einen Fluch aus. Er wollte sich auf den Rücken drehen, irgend etwas unternehmen, davonkriechen, aber ein glühender Hammer schien in seinen Rücken zu schlagen, und von einem Moment auf den anderen erlosch sein Lebenslicht. Er sackte ganz auf den Boden und hörte nicht mehr, wie sich die Männer näherten und über ihn beugten.

Hasard war als erster bei ihm.

„Tot“, sagte er, dann wandte er sich Ventura zu.

Ventura war noch am Leben. Voll Haß blickte er zu dem Riesen hoch und würgte ein paar Worte hervor: „Fahr – zur – Hölle …“

„Bestimmt nach euch“, sagte Hasard grimmig.

„Du – Bastard …“

Pater David war ebenfalls zur Stelle und beugte sich über Ventura.

„Willst du dein Gewissen nicht wenigstens jetzt erleichtern?“ fragte er. „Bereue deine Sünden. Bitte um Vergebung.“

Ventura hustete. Er wollte noch eine üble, lästerliche Verwünschung ausstoßen, doch seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr. Er bäumte sich noch einmal auf, dann war es auch mit ihm aus. Schlaff sank er zusammen und blieb reglos liegen.

Pater David und Pater Aloysius bekreuzigten sich und murmelten ein Gebet. Hasard richtete sich auf und drehte sich zu den Kameraden um. Er sprach es zwar nicht aus, aber er war für diese Lösung beinahe dankbar. Denn diese beiden Kerle vom Typ des Luis Carrero wären für sie eine ständige Belastung und Bedrohung gewesen.

Daß Luis Carrero inzwischen nicht mehr lebte, wußten weder Hasard noch die Kameraden. Der Oberaufseher von Potosi hatte versucht, von der „Estrella de Málaga“ zu fliehen. Es war ihm auch gelungen, aber unweit der Ankerbucht der „Estrella“ und der „San Lorenzo“ hatte Plymmie, die Wolfshündin, ihn eingeholt und ihm die Kehle zerfetzt. So hatte auch Carrero sein verdientes Ende gefunden, doch Hasard und die Männer des Potosi-Trupps würden es erst erfahren, wenn sie wieder an Bord ihrer Schiffe waren.

So zerbrach sich der Seewolf auch über Luis Carrero den Kopf. Wie sollte er mit ihm verfahren? Carrero hatte einen hundertfachen Tod verdient. Aber er, Hasard, war nicht sein Richter. Höchstwahrscheinlich würde er den Kerl auf einer einsamen Insel aussetzen. So dachte er, während er zu den Höhlen zurückkehrte.

Und was sollte mit Don Ramón de Cubillo geschehen? Er war eine Last für sie, ein Klotz am Bein, wie Carberry richtig gesagt hatte. Welchen Sinn hatte es überhaupt, ihn bis nach Tacna mitzuschleppen? Er war als Geisel wertlos.

Hasard nahm sich vor, den Dicken auf dem Altiplano auszusetzen – mit genügend Proviant und einer Waffe. Sollte er zusehen, wo er blieb oder wohin er sich wandte – falls er es überhaupt jemals schaffte, sich selbst durchzuschlagen.

Toparca, Chupa und Atitla traten vor Hasard hin. Toparca begann zu sprechen. Hasard winkte Karl von Hutten zu, und dieser näherte sich, um die Worte des Indios zu übersetzen.

„Ihr habt uns eine Arbeit abgenommen“, sagte Toparca. „Wir hätten sonst diesen Hunden die Kehlen durchgeschnitten.“

„Ohne meine Genehmigung?“ fragte der Seewolf.

„Ich hätte es getan“, erwiderte Chupa. „Auch auf die Gefahr hin, mir deinen Zorn zuzuziehen, weißer Bruder.“

„Ihr müßt uns verstehen“, sagte Atitla. „Wir können nicht dulden, daß diese Bestien in Menschengestalt weiterleben. Darum verlangen wir auch, daß du den Dicken herausgibst.“

„Das kann ich nicht tun“, entgegnete Hasard. „Begreift ihr das nicht? Ich habe schon versucht, es euch auseinanderzusetzen. Wenn sie sich wie die Tiere benehmen, dürfen wir es ihnen nicht gleichtun. Im übrigen hatte er uns geholfen, den Stadtrat von Potosi auszuschalten und es uns dadurch ermöglicht, euch zu befreien. Dafür versprach ich ihm eine Chance zum Überleben.“

Pater Aloysius war zu ihnen getreten und schaltete sich jetzt ein.

„Wir haben die Kerle auf der Flucht erschossen, aber nicht vorsätzlich getötet“, erklärte er den drei Indios. „Da besteht ein Unterschied. Habt also Geduld und haltet euch zurück. Der Herr wird über jene richten, die euch gequält haben. Und wenn ihr etwas gegen den Willen meines Freundes Hasard unternehmt, kriegt ihr es mit mir zu tun.“

Betreten blickten sie zu Boden. „So haben wir es auch nicht gemeint“, sagte Toparca schließlich. „Es ist nur – der Haß, der in uns ist.“

„Ich kann euch sehr gut verstehen“, sagte Hasard. „Aber keiner von uns wird seine Gegner mutwillig umbringen. So verhält es sich auch mit den Soldaten. Wenn sie nicht versucht hätten, unsere Stellung zu stürmen, wären sie alle noch am Leben.“

„Dieser Narr von einem Teniente“, sagte Karl von Hutten. „Es hat ihn einen Dreck gekümmert, was mit seinen Soldaten geschah. Ein Glück, daß du ihn erschossen und die Überlebenden hast laufenlassen.“

„Schon gut“, sagte der Seewolf einsilbig.

Sie suchten wieder ihre Schlafplätze auf. Dan setzte die unterbrochene Wache an der Barriere fort. Pater David und Pater Aloysius bestatteten die beiden Toten unter Steinen. Erste graue Schleier im Osten kündigten das Heraufziehen des neuen Tages an – und der Trupp konnte sich bald wieder auf den Marsch begeben.

Am Morgen dieses 2. Januar war Hasard wieder früh auf den Beinen und unternahm einen Rundgang über das Plateau. Er blieb stehen und betrachtete jene Stelle, wo der Pfad von Potosi her auf das Plateau führte und sie ihre Barriere errichtet hatten.