Seewölfe Paket 23

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7.

Jean Ribault, Karl von Hutten und die beiden Padres blieben bei dem Dicken und der „Mumie“ auf der Treppe vor der Residenz. Es tat sich schon allerlei – Büttel zogen Karren, beladen mit Säcken und Kisten, von der Münze zur Residenz und in den Innenhof. Andere Bedienstete schleppten Lebensmittel heran. Sonst hatten sich die Straßen bereits deutlich geleert. Die Läden vor den Fenstern waren geschlossen worden. Eine ungewohnte Stille lag über der Stadt.

Die Truppe – an die hundert Mann oder mehr – stand mit Front zur Residenztreppe.

Hasard ging mit Carberry und dem Stadtkommandanten langsam an der Front entlang und musterte die Männer aus harten Augen.

Vor einem Teniente blieb er stehen und blickte ihn scharf an.

„Name?“ fragte er.

„Alvaro Gomez.“

Hasard trat etwas zurück und legte die Hände auf den Rücken.

„Der Stadtkommandant hat Sie über die Order des Gouverneurs informiert?“ fragte er.

„Ja, wir sollen nach Sucre marschieren und dort auf weitere Order warten.“

„Richtig, was noch?“ Hasard wippte auf den Ballen.

„Äh – Schuß-, Hieb- und Stichwaffen sollten in der Garnison bleiben“, sagte der Teniente.

„Und? Haben Sie noch Waffen bei sich?“

„Ich? Nein, ich habe keine Waffen bei mir. Ich pflege Befehle zu befolgen.“

Es war die alte Weisheit: Menschen mit unruhigen Augen, die dem festen Blick des anderen ausweichen, haben etwas zu verbergen, ein schlechtes Gewissen oder führen etwas im Schilde.

Hasard nickte Carberry zu und sagte in der englischen Sprache: „Durchsuch ihn, Ed. Und wenn du etwas findest, dann kannst du mit ihm Schlitten fahren. Ich wette, daß er mich belogen hat.“

„Mal sehen“, knurrte der Profos, trat auf den Teniente zu und begann ihn von oben abzutasten.

Plötzlich fuhr seine Hand in den Koller. Als er sie zurückzog, hatte er eine kleine Pistole in der Hand. Er warf die Waffe hinter sich, geradezu lässig und gleichgültig.

„Einer, der Befehle zu befolgen pflegt, eh?“ sagte er verächtlich. „Ein Sprücheklopfer und ein Lügenmaul, wie?“

Der Teniente schwoll rot an. „Wie sprechen Sie denn mit mir, Sie – Sie ungehobelter Flegel? Ich bin Offizier!“

„Ach ja? Ist das was Besonderes oder wie?“ höhnte Carberry.

„Wenn ich meinen Degen hätte, würden Sie tanzen, Kerl!“ schnarrte der Teniente.

„Wie wär’s denn mit den Fäusten – Offizier Lügenmaul?“ Carberry trat etwas zurück. „Komm her, zeig’s mir mal, damit deine Leute sehen, was du für ein tapferes Kerlchen bist. Schau mal, sie grinsen schon! Sie lachen über ihren aufgeblasenen Offiziersgockel!“

Der Teniente, blind vor Wut, sprang vor und landete Vierkant im berühmten „Profos-Hammer“, der von unten gegen sein Kinn krachte, so daß er vom Boden abhob, die Flugbahn einer trägen Rakete beschrieb und wieder zur Landung auf dem Pflaster der Plaza ansetzte.

Der Aufprall schüttelte den Teniente durch und war recht unsanft. Carberry beachtete ihn nicht weiter. Er hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt, stand breitbeinig da und musterte aus schmalen Augen die Soldaten. Denen verging das Grinsen ziemlich schnell.

„Freut euch nicht zu früh, ihr Rübenschweine“, warnte er. „Ihr seid auch noch dran!“

Da und dort zwischen den Reihen klirrte plötzlich etwas zu Boden.

„Halt!“ zischte Carberry scharf.

Die Soldaten erstarrten.

Hasard musterte aus eisigen Augen den Stadtkommandanten, der zusehends einschrumpfte, und fragte: „Ist es bei Ihren Offizieren üblich, die Befehle des Gouverneurs zu umgehen oder zu mißachten, Don Alfonso?“

„Der – der Teniente Gomez war – war bestimmt eine Ausnahme“, stotterte der Stadtkommandant bleich, und die Spitzen seines Knebelbarts zitterten wie Espenlaub im Wind. „Ich – ich werde den Teniente für seine Insubordination bestrafen.“

„Eine Ausnahme, wie?“ fragte Hasard spöttisch. „Wollen Sie mich für dumm verkaufen?“ Er zog die Pistole und richtete sie auf den Stadtkommandanten. Sein eisiger Blick flog über die Soldaten. „Vortreten, wer noch eine Waffe hat! Oder es knallt, und Sie können Ihren Stadtkommandanten zu Grabe tragen!“

Es waren zwanzig Soldaten, die mit bleichen Gesichtern vortraten.

„Waffen heraus und fallen lassen!“ befahl Hasard.

Sie gehorchten. Wieder klirrte es. Zum größten Teil waren es Messer, darunter aber auch drei Pistolen.

Der Teniente hatte sich aufgerappelt und irrte quer über die Plaza, als habe er die Richtung verloren. Carberry sah, daß er schielte. Er holte ihn sich, packte ihn hinten am Kragen und schleppte ihn zum Brunnen. Dort nahm der Teniente ein Bad. Carberry tunkte ihn kräftig hinein, bis der Teniente nicht mehr schielte, dafür aber zitterte und schlotterte.

„Wollen wir noch ein bißchen boxen, Offizier?“ fragte Carberry grimmig.

„N-n-n-nein!“ schnatterte der Teniente.

„Dann steig aus und marsch zur Truppe – dorthin, wo die anderen Betrüger vor der Front stehen!“

„J-j-jawohl!“

Der Teniente war das, was man einen begossenen Pudel nennt. Das Wasser war eiskalt. Sein Kinn schwoll trotzdem mächtig an. Bibbernd baute er sich am rechten Flügel der „Betrüger“ auf und ließ die Zähne klappern.

„Die Kerle und der Teniente bleiben hier“, entschied Hasard. „Wegen Mißachtung eines Befehls des Gouverneurs werden sie sich vor einem Kriegsgericht zu verantworten haben.“ Er drehte sich zu der Residenztreppe um, wo inzwischen der Polizeipräfekt erschienen war und Meldung erstattet hatte, daß er den Befehl des Gouverneurs ausgeführt hätte. „Der Präfekt zu mir!“ rief Hasard – und auf englisch: „Karl, du bitte auch! Bring den Señor Jimeno mit!“

Karl von Hutten zeigte klar und dirigierte die beiden Männer auf die Plaza zu Hasard.

Hasard wandte sich an den Präfekten: „Das Gefängnis, Señor?“

„Dort drüben, Señor Großadmiral!“ rasselte der Polizeipräfekt und zeigte quer über die Plaza.

„Sehr gut“, sagte Hasard. „Sie haben die Ehre, die zwanzig Mann, den Teniente und den Señor Jimeno dort einzusperren, Señor Polizeipräfekt.“

„Ihr gehorsamster Diener, Señor Großadmiral!“ schnarrte der Präfekt.

Hasard seufzte. „Leider kann ich es Ihnen nicht ersparen, dort auch Aufenthalt zu nehmen, aber es wird nicht allzu lange dauern. Sie waren ein guter Mitarbeiter.“

„Befehle“, schnarrte der Polizeipräfekt, „sind dazu da, daß man ihnen gehorcht – äh – Pflichterfüllung!“

„So ist es“, sagte Hasard und salutierte eckig und mit ernstem Gesicht. Innerlich sah’s bei ihm anders aus. Es war die größte Komödie, die er je erlebt hatte. Er hätte vor Lachen bersten können.

Der Nußknacker salutierte ebenfalls. Weiß Gott, er konnte es noch besser als Philipp Hasard Killigrew, aber der war ja auch keine Marionette in diesem Theater merkwürdiger Figuren.

„Mir nach!“ befahl der Nußknacker, setzte sich an die Spitze und marschierte zum Gefängnis. Carberry und Karl von Hutten begleiteten den Trupp.

Hasard nickte dem Stadtkommandanten zu. „Sie können sich in Marsch setzen, Don Alfonso. Aber ich warne Sie, die Straße nach Sucre zu verlassen. Sie wissen ja, meine Leute haben Befehl, in einem solchen Fall sofort zu schießen. Trotzdem möchte ich unnötiges Blutvergießen vermeiden. Warten Sie in Sucre die weiteren Befehle des Gouverneurs ab. Verstanden?“

„Verstanden, Señor Großadmiral!“ Don Alfonso salutierte, angesteckt vom Präfekten.

Hasard dankte gemessen.

Die Truppe rückte ab, an der Kathedrale vorbei nach Nordosten. Hasard schaute ihr hinterher und atmete durch. Auch das hatte also geklappt. Wenn er die Situation richtig einschätzte, dann würde Don Alfonso, der Stadtkommandant, eine ziemlich lange Zeit brauchen, bis er begriff, daß er auf einen Bluff hereingefallen war. Mit dem Abzug der Garnisonstruppe und der Stadtgardisten war die Stadt im gewissen Sinne entwaffnet. Die Bürger? Das waren keine Kämpfer, dazu hatten sie auch viel zu lange im Wohlstand gelebt.

Unsere Sache steht nicht schlecht, dachte Hasard, gestand sich jedoch ein, daß sie bisher mächtiges Glück gehabt hatten, ein geradezu unverschämtes Glück, zu dem allerdings beigetragen hatte, daß der dicke Gouverneur nicht aus der Rolle gefallen war. Er hatte prächtig mitgespielt. Dieser Señor Jimeno, der Bergwerksdirektor, hätte gefährlich werden können. Gut, daß der jetzt auf Nummer Sicher saß, der hätte mit seinen Aufseher-Rabauken zu einem Gegenschlag ausholen können.

Der Zweite Bürgermeister war keine Gefahr. Der war froh, einmal aus dem Schatten des Ersten Bürgermeisters heraustreten zu können. Und Don Carlos, der Erste Bürgermeister? Der hatte kein Rückgrat, und ein Held war er ebenfalls nicht.

Carberry und Karl von Hutten verließen das Gefängnis und steuerten über die Plaza auf Hasard zu – über eine vereinsamte Plaza, auf der die drei Männer jetzt fast verloren wirkten.

Carberry grinste und schlenkerte einen Bund mit vielen Schlüsseln.

„Habe alle bestens untergebracht, Sir“, meldete er, „und mich zum Gefängnisdirektor ernannt. Feiner Bau, Sir.“ Er hob den Schlüsselbund. „Ohne diese Dingerchen sind die Gittertüren kaum zu knacken. Da müssen schon ein paar Schmiede mit Hämmern und Brechstangen wuchten, um sie aufzubrechen.“

„Wäre Pech, wenn es Zweitschlüssel gibt“, sagte Hasard.

Carberry schüttelte den Kopf. „Gibt’s nicht, Sir. Der Polizeipräfekt hat mir versichert, es gäbe nur diese hier. Und das glaube ich ihm – der lügt nicht.“

„In Ordnung. Sind denn noch genug Zellen für weitere Besucher frei?“

„Allemal, Sir“, versicherte Carberry. „Du denkst an die Aufseher, wie?“

 

„An die, dann an die acht Soldaten, die wir im Stollen haben, und an die beiden Bürgermeister.“

„Da ist noch genügend Platz“, sagte jetzt Karl von Hutten.

„Gut.“ Hasard nickte. „Dann schlage ich vor, daß jetzt einer zum Stollen zurückkehrt und unsere Männer, die acht gefangenen Soldaten und unsere Maultiere holt.“

„Das übernehme ich“, sagte Karl von Hutten sofort und lächelte. „Ed hat ja Pflichten als Gefängnisdirektor.“ Er wurde wieder ernst. „Paßt mit den Aufsehern auf. Es war richtig, daß du diesen verdammten Jimeno sofort kaltgestellt hast.“

„Das ging mir vorhin gerade auch durch den Kopf“, sagte Hasard. „Der Bursche ist aus dem schlechten Holz eines Luis Carrero geschnitzt – oder umgekehrt. Also gut, ihr trefft uns im Hof der Residenz. Seid vorsichtig – auch du –, wenn ihr durch die Straßen geht. Wir wissen nie, ob nicht doch jemand schießwütig wird oder den Braten riecht. Falls so etwas passieren sollte, wäre Zimperlichkeit fehl am Platze und könnte für uns alle sogar tödlich sein. Wir bewegen uns auf einem sehr schmalen Grat, vergeßt das nicht!“

„Du kannst dich auf uns verlassen“, sagte Karl von Hutten. Er hob leicht die Hand und wandte sich westwärts.

Hasard und Carberry gingen zur Treppe der Residenz.

Etwa zwanzig Minuten später – Carberry hatte inzwischen auch den Ersten Bürgermeister in eine Zelle gesperrt – rückte die Spitze eines Zuges an, der durch die ganze Calle Lanza bis hin zum Silberberg reichte und kein Ende zu nehmen schien.

In Zweierreihen schleppten sie sich heran – Elendsgestalten, die aus einer anderen Welt zu stammen schienen, Maulwürfe aus einem Berg, der diese andere Welt darstellte.

Sie blinzelten oder kniffen die Augen zusammen, denn das Sonnenlicht war ihnen fremd geworden in der Dunkelheit der Stollen, in denen nur trübe Funzeln gebrannt hatten. Sie verdeckten auch ihre Augen mit den Händen, aber es waren magere Hände mit dünnen Fingern, und sie boten nur wenig Schutz vor der Sonne.

Sie gingen gekrümmt und mit schlurfenden Schritten, als laste das ganze Silber des verfluchten Berges auf ihren Schultern, die ohne Fleisch waren, knochig und dünn wie die mageren Finger, die Arme und Beine. Und zwischen den zerfetzten, zerrissenen und schmutzigen Lumpen, die um ihre Körper hingen, konnte man ihre Rippen sehen – Skelette.

Sie hatten die Gesichter von Greisen. Gelbliche Haut spannte sich über spitzen Wangenknochen und Jochbögen. Die Lippen waren farblos, die Wangen eingefallen, die Hälse faltig. Da war kaum einer ohne schwärende Wunden.

Und ihre Rücken waren gezeichnet – von den Peitschen der Aufseher.

Ja, das waren sie – die Geschundenen, die Mißhandelten, die Gedemütigten, die Versklavten: Menschen, die aus dem Totenreich kamen.

Die Aufseher? Sie waren ein Schlag ins Gesicht. Sie strotzten vor Kraft und Gesundheit. Ihre Füße waren nicht mit Lumpen umhüllt, sie trugen hochschäftige Stiefel aus weichem Leder. Und sie waren gekleidet wie die Noblen in Spanien. Silberne Halsketten mit Medaillons hatten sie umgehangen, an ihren Fingern blitzten Ringe, ihre Gürtelschnallen waren aus gehämmertem Silber.

Den Befehl des Gouverneurs hielten sie wohl für einen Witz – oder eine Laune. Und darum lachten sie, diese vollgefressenen Sklavenschinder, die links und rechts den Elendszug begleiteten.

Der Zug stoppte, denn die Spitze hatte die Residenz erreicht, und der Zweite Bürgermeister meldete dem Gouverneur die Ausführung des Befehls.

Der Dicke nickte schwach und senkte den Kopf.

„Mein Gott“, sagte Hasard, und zum ersten Male konnte er seine Erschütterung nicht verbergen.

Langsam ging er die Stufen hinunter, Carberry und Pater Aloysius folgten ihm. Jean Ribault blieb hinter dem Dicken und drückte ihm die Pistole ins Kreuz. Pater David wartete ab – er hatte sich zwischendurch um alles gekümmert, was im Hof stattfinden sollte. Dort auch warteten die Padres sowie Pater Augustin, die Pater Aloysius aus der Kathedrale geholt hatte – in weiser Voraussicht, denn sie würden sich um die Indios kümmern müssen, auch wenn sie das – mit Ausnahme Pater Augustins – bisher nicht getan hatten. Jetzt hatten sie die Pflicht, die Rolle des barmherzigen Samariters zu übernehmen.

„Geht’s nicht weiter?“ brüllte einer der Aufseher ziemlich frech. „Was soll der ganze Quatsch?“

Carberry und Hasard drehten sich ihm zu.

In unmittelbarer Nähe dieses Aufsehers taumelte ein Indio plötzlich aus der Reihe und brach zusammen. Der Aufseher, ein Kerl mit einem Stiernacken und einer wüsten Visage, wirbelte herum und schwang die Peitsche.

„Steh auf, du dreckiges Schwein!“ brüllte er.

Carberry war heran und entriß ihm die Peitsche, Sekunden später fetzte er sie dem Kerl durch die Visage, links-rechts, links-rechts. Der Kerl brüllte wie ein Stier, riß die Arme schützend vors Gesicht und wich zurück. Carberry setzte nach. Die Peitsche pfiff über die Hände des Aufsehers.

Ein anderer sprang heran – ein Messer in der Faust, um es Carberry in den Rücken zu stoßen.

„Ed!“ schrie Hasard.

Gleichzeitig hatte er die Pistole in der Faust und schoß. Der Messerstecher bäumte sich auf, nur noch einen Schritt hinter Carberry, der herumgezuckt war. Dann tänzelte der Kerl seitwärts, drehte sich einmal um seine Achse und schlug hin wie ein gefällter Baum. Das Messer entglitt seiner Hand.

Pater David, riesig und kantig, tauchte neben Hasard auf, in beiden Fäusten eine Pistole.

Die Aufseher lauerten, geduckt, unentschlossen, aber doch gefährlich. Immerhin, keiner wollte der nächste Tote sein.

Der erste Aufseher taumelte herum und konnte nichts sehen. Carberrys Schläge waren auch über seine Augen gefetzt.

„Ich bin blind!“ heulte er.

„Das ist jeder, der Wasser in den Augen hat, du Schwachkopf!“ röhrte Carberry und fällte den Kerl mit seinem Profos-Hammer. Dann zog er sein Entermesser, wartete ab.

Die Indios standen und starrten. Sie faßten es nicht.

Pater Aloysius ging gelassen zu dem Indio, der zusammengebrochen war, beugte sich über ihn, unterfing ihn, richtete sich wieder auf und trug ihn an der Residenztreppe vorbei durch das Portal in den Innenhof.

Hasards klirrende Stimme sagte: „Die Aufseher! Lassen Sie Ihre Messer und Peitschen fallen. Ich gebe Ihnen fünf Sekunden Zeit, dann schieße ich!“ Er hatte seine zweite Pistole gezogen, ebenfalls eine doppelläufige.

„Auch in meinen Pistolen steckt Blei!“ rief Pater David donnernd.

„Bei mir gibt’s durchschnittene Hälse!“ röhrte Carberry und glitt bereits auf den Aufseher zu, der ihm am nächsten stand.

Der reagierte auch als erster und ließ seine Peitsche fallen, Lidschläge später, sehr hastig, folgte das Messer.

Das war’s.

Drei Männer bezwangen an die zwanzig, dreißig Kerle und kauften ihnen den Schneid ab, den sie aber wohl nur wehrlosen, entkräfteten Indios gegenüber gehabt hatten. Im übrigen befanden sich an die zehn Kerle im Spital – verletzt von der Sprengung des Pulverturms.

Messer und Peitschen klirrten und fielen zu Boden.

„Vor mir antreten!“ befahl Carberry scharf. „Und das ein bißchen plötzlich, oder ich schneid euch die Ohren ab, ihr Strolche!“

„Wir – wir haben nichts getan!“ jammerte der Kerl, der als erster Messer und Peitsche weggeworfen hatte.

Carberry funkelte ihn an. „Nichts getan?“ Er deutete mit dem Entermesser zu den Indios. „Wer hat diesen armen Kerlen denn den Rücken zerdroschen, eh? Und wer hat denn eben seine Peitsche fallen lassen? Ihr doch! Oder etwa nicht?“

„Das durften wir, das war erlaubt! Das sind doch nur dumme Affen, zu faul, um ordentliche Arbeit zu leisten!“ stieß der Aufseher hervor.

„Ich zeig dir mal, was ich darf“, sagte Carberry fast freundlich – und explodierte wie ein Pulverfaß.

Der Aufseher, der Indios für dumme und faule Affen hielt, flog davon, als habe ihn eine Culverine ausgespien. Er durchbrach ein Kellerfenster der Calle Lanza, Scherben klirrten, die Stiefel verschwanden, ein dumpfer Aufprall war zu hören, dann splitterte und krachte Holz. Darauf war Ruhe.

Sie dauerte keine Minute.

Eine Frauenstimme keifte: „Raus, du Scheißkerl! Verschwinde, du Hurenbock! Oder ich hole die Polizei, weil du eine ehrsame Witwe vergewaltigen wolltest!“

Carberry lauschte mit vorgeschobenem Kopf. Wo war der Kerl bloß gelandet? Etwa in einem Bett?

Der Kerl wankte aus der Haustür. Um seinen Hals hing ein geschnitzter Holzrahmen – die Vorder- oder Rückseite einer Bettstelle, jetzt allerdings durchbrochen und zersplittert.

Du meine Güte, dachte Carberry.

In der Tür tauchte die Gestalt einer Frau auf. Sie trug ein Nachthäubchen, obwohl es später Mittag war. Aber vielleicht hatte sie sich gerade zur Nachmittagsruhe hingelegt und fühlte sich mit Nachthäubchen wohler.

Sie schwang eine Nudelrolle und drosch sie dem Kerl von hinten über den Schädel. Und schon krachte die Tür zu.

Der Kerl kippte samt Holzrahmen vornüber und rasselte die fünf Stufen hinunter. Dort blieb er liegen.

Carberry faßte sich und befahl: „Aufsammeln den Kerl – den anderen da hinten auch! Abmarsch zum Gefängnis!“

Zwei oder drei sprangen hinzu und schleiften den „Vergewaltiger“ mit. Das gleiche geschah mit dem ersten Aufseher, der angeblich nichts mehr sehen konnte. Pater David begleitete Carberry ins Gefängnis, um ihm den Rücken zu decken. Aber die so starken Kerle waren nichts weiter als Waschlappen.

Pater Aloysius kehrte zu Hasard zurück.

„War ein Schwächeanfall“, sagte er leise. „Die Padres kriegen ihn wieder hin.“

Hasard nickte. „Sag ihnen, daß wir gekommen sind, um sie zu befreien. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben. Sie sollen Ruhe bewahren und nicht ungeduldig werden. Im Hof erhielten sie Essen und Trinken, Silbergeld, Kleidung, Decken und Wegzehrung. Wer Wunden habe, solle sich von den Padres verbinden lassen.“

Pater Aloysius reckte sich auf, und seine Stimme hatte den klaren Klang einer Glocke. Die Indios lauschten. Sie begriffen es nicht. Oder doch?

Hasard schluckte.

Die Männer dort vorn an der Spitze – sie hörten den Pater am deutlichsten – wischten sich über die Gesichter. Sie weinten, mein Gott, sie konnten noch weinen. Es schüttelte sie durch, aber ihre Beherrschung verloren sie nicht.

Was wärst du jetzt an ihrer Stelle für ein Mensch, dachte Hasard, der hören würde, daß die Hölle zu Ende sei?

Würdest du jubeln?

Würdest du schreien?

Würdest du Rache wollen?

Würdest du wahnsinnig werden?

Er wußte es nicht. Nur eins wußte er: Menschen, die aus einer solchen Hölle zurückkehrten, mußten anders geworden sein – an Leib und Seele. Hier sah er es ja! Er sah keine straffen, jugendlichen, lachenden Menschen. Er sah nur Schatten dieser früheren Menschen. Schatten, Schatten.

In ihm sammelte sich berstende Wut – und er würgte sie herunter.

Was du tun konntest, hast du getan, sagte der eine Philip Hasard Killigrew. Du hättest die Schinder aufhängen sollen, sagte der andere Philip Hasard Killigrew.

Da war noch ein Killigrew, der sagte: „Bist du Richter?“

„Nein, bin ich nicht“, murmelte Hasard – die Stimme von Pater Aloysius war verklungen.

Er schaute den Mann an, der bei ihm stand, aufrecht, aber das Gesicht verkantet. Sanft fragte Pater Aloysius: „Was bist du nicht, Bruder?“

Hasards Erstarrung löste sich.

„Es ist nichts“, sagte er, und sein Kopf ruckte hoch: „Es ist noch einiges zu tun.“

Pater Aloysius lächelte mit den Augen. „Da hast du recht, Bruder Hasard. Dann laß es uns anpacken.“

Und sie geleiteten die Spitze der Elenden in den Hof der Residenz. Dort stand auch der Prior der Kathedrale. Er murmelte Worte aus dem heiligen Buch. Und er segnete. Er segnete unaufhörlich, seine Kreuze in der Luft reihten sich aneinander wie die Kugeln seiner Gebetskette, die beide aus schwerem Silber waren, über seinen Bauch hingen und im Sonnenlicht blitzten.

Er sagte: „Sie sprachen: Wir haben hie nichts denn fünf Brote und zween Fische. Und er sprach: Bringet sie mir her. Und er hieß das Volk sich lagern im Gras, und nahm die fünf Brote und die zween Fische, sah auf gen Himmel, und dankte, und brach’s, und gab die Brote den Jüngern, und die Jünger gaben sie dem Volk. Und sie aßen alle, und wurden satt …“

Hasards scharfe Stimme schnitt in die Segnungen und das Gebet: „Sie sind ein Heuchler, Kirchenmann! Was beteten Sie denn, als diese Menschen im Berg schufteten, hungerten, zusammengeschlagen wurden und für Sie das Silber holten, das jetzt um Ihren Hals und über Ihrem fetten Bauch hängt? Waren Sie da der Sohn Gottes, der fünf Brote und zween Fische brach, um den Hunger zu stillen?“

 

Der Prior starrte ihn an. Seine rosigen Wangen – und auch sein Gesicht – hatten einen purpurnen Ton angenommen.

„Du bist ein Ketzer, Fremder!“ zischte er. „Du versündigst dich! Der Herr wird seinen Bannstrahl über dich ausschütten!“

Hasard schaute hinauf in den Himmel, der von einer fast überirdischen Bläue war.

„Ob der Herr das wohl tun wird, Kirchenmann?“ fragte er, und sein Blick flammte den Prior an. „Bisher hat er’s nicht getan, und ich glaube fest, daß er mir recht gibt, wenn ich sage, daß Sie ein Heuchler sind!“

Der Prior zerrte das Kreuz hervor, hielt es Hasard entgegen und rief beschwörend: „Ketzer! Der Bannstrahl des Herrn trifft dich! Sinke dahin und sei verflucht!“

Es war so: Totenstille lag über dem Hof. Die Padres aus der Kathedrale starrten und stierten. Die Indios standen vor den Tischen, die unter der Last dessen, was diese Hungernden kaum noch kannten, fast zusammenbrachen. Hasards Männer hatten schmale Augen. Don Ramón saß auf einem Klappstuhl und atmete heftig. Der Zweite Bürgermeister stand neben ihm mit hölzernem Gesicht.

Hasard hatte die Arme über der Brust verschränkt und schaute auf das Kreuz, das ihm der Prior entgegenhielt. Er schaute, bis dieses Kreuz zu zittern begann, und dann sank das Kreuz nach unten.

„Kirchenmann“, sagte er ruhig. „Ich weiß nicht, was Sie unter einem Ketzer verstehen. Es ist mir auch gleichgültig. Nun gut, ich bin nicht dahingesunken, und niemand hat mich verflucht. Der Bannstrahl des Herrn ist – bisher jedenfalls – auch ausgeblieben. Lassen Sie mich also meine Arbeit tun, die ich mir vorgenommen hatte: diese versklavten Menschen zu befreien und ihnen die Möglichkeit zu geben, zu ihren Familien zurückzukehren, von denen sie mit Gewalt und Totschlag getrennt wurden. Ich schätze, das ist im Sinne Gottes, wie ich ihn verstehe. Sie können gehen. Wir brauchen Sie nicht – mit Verlaub gesagt: Sie kotzen mich an!“

„Sie rebellieren gegen Seine Majestät den König!“ empörte sich der dickliche Prior.

„Ihr König ist ein Popanz!“ sagte Hasard grob. „Ein Silberschlucker, der nicht satt wird, ein Größenwahnsinniger, der Menschen anderer Hautfarbe ausrotten läßt. Aber lassen wir das – Sie begreifen es nicht. Sie leiern Ihre Gebete, schlagen Ihre Kreuze, fressen sich einen dicken Bauch an, behängen sich mit Silber, und es kümmert Sie einen Dreck, ob ein paar hundert Schritte von Ihnen entfernt in diesem verfluchten Berg Menschen verrecken!“ Und sehr langsam wiederholte Hasard: „Es – hat – Sie – nicht – gekümmert! Und darum passen Sie nicht hierher, wenn ‚fünf Brote und zween Fische‘ verteilt werden, was ja nur noch als Witz aufgefaßt werden kann, als Beweihräucherung des eigenen Versagens. Sie sind hier so fehl am Platz wie der Teufel vor dem Altar des Herrn!“

„Un-unverschämtheit!“ keuchte der dickliche Prior und umklammerte das große schwere Kreuz aus purem Silber, das zudem mit Diamanten und Edelsteinen besetzt war.

„Ed“, sagte Hasard sanft, „bitte geleite diesen Menschen, der mit seiner Dummheit schon genug bestraft ist, in eine Zelle mit Gittern. Dort möge er nachdenken – oder es bleiben lassen.“ Sein Blick wanderte über die Padres. „Sie können hierbleiben und helfen, wie’s beliebt. Aber ich hindere niemanden, wenn er seinem Prior folgen möchte. Es ist Ihre Entscheidung, nicht meine.“

„Mir nach, Brüder!“ befahl der dickliche Prior triumphierend. „Wir sind Märtyrer für unseren Herrn und für unseren König! Wir nehmen das Los der Kerkerzelle auf uns, wie es Märtyrern geziemt – aufrechten Hauptes und ungebrochenen Bekennermutes.“

„Amen!“ sagte Pater Aloysius trocken.

„Amen“, sagte auch der Profos, der vor einigen Minuten zurückgekehrt war und still zugehört hatte. Innerlich war ihm die Galle hochgestiegen.

Nun hatte der Prior seinen Padres zwar „Mir nach!“ befohlen, aber keiner traf Anstalten, sich von der Stelle zu rühren. Sie hatten die Köpfe gesenkt und begutachteten ihre Füße, an denen sie teils Sandalen, teils Schuhwerk trugen.

Sie schwiegen.

„Mir nach!“ schrie der Prior noch einmal, schrill jetzt, und es fehlte auch das gesalbte Öl in seiner Stimme, jenes gesalbte Öl, mit dem er den Indios, verkündet hatte, daß Gottes Sohn das Volk, das im Gras lagerte, mit „fünf Broten und zween Fischen“ gesättigt habe.

Sie schwiegen weiter, diese Padres, und ihre Köpfe blieben gesenkt.

Und die Indios warteten geduldig, die Augen auf die Tische gerichtet. Die ganze lange Schlange der Geschundenen bis hin zum Silberberg wartete.

Hasard war es satt. Und er hatte keine Zeit zu verlieren.

„Ab mit dem Kerl, Ed!“ sagte er fast wild. „Soll er in der Zelle sein Märtyrertum besingen! Die Padres haben schweigend gegen ihn abgestimmt – also: was soll’s!“

„Recht so – was soll’s!“ sagte der Profos und nickte dem Prior zu, wobei er gleichzeitig zum Portal deutete. „Wenn ich bitten darf!“

„Ich weiche der rohen Gewalt!“ rief der Prior mit Flammenblick, als sei er einer der Erzengel.

„Dann tu’s endlich, du Clown“, sagte Carberry respektlos, „du klaust uns hier nur die Zeit!“

Der dickliche Prior warf den Kopf hoch – sehr theatralisch machte er das –, raffte sein Gewand und wich „der rohen Gewalt“, von der ihn nicht mal ein Hauch angeweht hatte.

Als er vor Carberry durchs Portal verschwand, schien es, als atmeten die Padres auf, zumindest hatten sie plötzlich sehr fröhliche Gesichter.

So geriet das Ganze wieder in Bewegung. Die Indios rückten vor und passierten einer nach dem anderen den ersten Tisch, wo Pater David stand und die Silbermünzen austeilte. Er schöpfte gewissermaßen aus dem vollen. Am nächsten Tisch empfingen die Indios eine Kumme mit dampfender Hühnersuppe, in der die dicken Fleischbrocken schwammen. An den nächsten Tischen ließen sie sich nieder, umsorgt von den Padres. Nach den ersten Stärkungen wurden ihre Wunden versorgt, Kleidung wurde verteilt.

Und es ging von Mund zu Mund, welches unerhörte Wunder hier im Hof geschah.

Das größte, unfaßbare Wunder war jedoch, daß sie frei sein sollten, endlich frei, entronnen der Hölle des Berges und den Knuten der Schinder. Es hatte den Anschein, als kehre ihr Wille zum Leben zurück, sie verloren ihre gebeugte Haltung, ihre Augen, noch etwas scheu, streiften die Fremden, die das Wunder vollbracht hatten. Dankbarkeit schimmerte auf, Bewunderung, Vertrauen, Freude.

Und es geschah, daß plötzlich drei Indios der geduldig aufrückenden Männer aus der Reihe brachen und lachend auf Pater Aloysius zustürzten, ihn umarmten und fast erdrückten.

„Toparca!“ rief Pater Aloysius überrascht und zugleich tief erschüttert. „Chupa! Atitla! Ihr lebt?“

Ja, sie lebten, sie hatten überlebt – drei Männer aus dem Tacna-Tal. Drei! Von wie vielen?

„Einhundertfünfzig Männer aus unserem Tal haben sie weggeholt“, sagte Pater Aloysius zu Hasard. Dem harten Mann aus der Bergwelt des Tiroler Landes liefen Tränen über das tiefbraune Gesicht mit den tiefen, wie eingeschnitzten Furchen und Falten. Er schämte sich dieser Tränen nicht.

Hasard wandte sich still ab, die Zähne zusammengebissen, die Wangenmuskeln sprangen wie Knoten hervor. Er wußte: die Bilder hier würde er nie vergessen, sie brannten sich ihm ein mit schmerzhafter Deutlichkeit, schneidend scharf und unverwischbar.

Karl von Hutten traf ein mit Dan O’Flynn, Matt Davies, Gary Andrews, Stenmark, Mel Ferrow, den acht gefangenen Soldaten und den fünfzehn Mauleseln.

„Alles ruhig in der Stadt“, meldete er. „Sie haben sich in ihre Häuser verkrochen.“

„Das wollte ich ihnen auch geraten haben, bei Gott!“ sagte Hasard grimmig. „Ich glaube, ich wäre fähig, diese verdammte Stadt in Schutt und Asche zu legen.“

„Warum tun wir’s nicht?“ fragte Karl von Hutten düster. Seine dunklen Augen standen im merkwürdigen Kontrast zu seinen blonden Haaren. Ein Mann zwischen zwei Träumen war er – Sohn einer indianischen Häuptlingstochter und des Deutschen Philipp von Hutten. Seine Eltern waren von den Spaniern umgebracht worden.