Seewölfe Paket 18

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7.

Ilaria war es in mühseliger, zeitraubender Arbeit gelungen, das Brett in der Rückwand der Hütte zu lockern. Sie stieß es nach außen, dann löste sie noch ein zweites Brett, und der auf diese Weise entstehende Spalt war breit genug, ihre schlanke Gestalt hindurchzulassen.

Ihre fünf Freundinnen versuchten, sie zurückzuhalten.

„Tu’s nicht“, flüsterte eine von ihnen. „Solange wir hier gefangen sind, kann uns nichts zustoßen. Aber wenn du fliehst und die alte Hexe dich erwischt, schlitzt sie dich mit dem Messer auf.“

„Sei still“, raunte Ilaria ihr zu. „Begreifst du nicht? Die Spanier kommen, das hast du doch gehört. Sie bereiten eine Landung vor. Wir gehen dabei drauf, das versichere ich dir.“

„Aber – sie sind doch unsere Landsleute“, sagte ein anderes Mädchen, „Uns tun sie nichts an.“

„Sie werden glauben, daß wir zu der Bande gehören“, widersprach Ilaria. „Und dann fackeln sie nicht lange. Gebt euch keinen falschen Hoffnungen hin. Wir müssen die Gelegenheit nutzen und von hier verschwinden. Wartet, ich sehe nach, ob die Luft rein ist. Dann sage ich euch Bescheid.“

„Ilaria hat recht“, sagte eins der Mädchen leise. „Selbst wenn uns die Spanier am Leben lassen, haben wir keine rosige Zukunft vor uns. Sie würden uns höchstens in ein Bordell der Neuen Welt verfrachten, wie der Kapitän des Schiffes es vorhatte, das von Mardengo überfallen wurde.“

„Eben“, flüsterte Ilaria. „Wir sind nun mal Huren, daran ändert sich nichts. Aber wir haben heute nacht die einmalige Chance, unsere Freiheit zu erkämpfen. Die nehme ich wahr. Rührt euch nicht von hier weg.“

Damit schlüpfte sie ins Freie. Ihre Gefährtinnen blickten ihr durch die Öffnung in der Wand nach, konnten ihre Gestalt aber nur noch kurz sehen, denn die Finsternis deckte alles zu. Sie hielten den Atem an. Ilaria hatte Mut, aber würde das Vorhaben wirklich gelingen?

Oft genug hatten sie erwogen, von der Insel zu fliehen, aber jeder Plan war wieder verworfen worden, denn es genügte nicht, aus dem Lager zu entwischen und einen der Einmaster zu entführen – Pirates’ Cove lag einsam und verlassen im Golf von Neuspanien, wie Oka Mama und Mardengo ihnen immer wieder erklärt hatten. Wer keinen Proviant und kein Wasser mitnahm, würde die Fahrt zum Festland, die Wochen dauerte, niemals überstehen.

Aber Ilaria setzte alles auf eine Karte. Sie wollte das Durcheinander, das seit dem Eintreffen der Engländer und dem nun völlig überraschenden Erscheinen der Spanier herrschte, entsprechend ausnutzen.

Die Zeit mußte ausreichen, ein Boot zu beschaffen und den erforderlichen Proviant zu stehlen. Vielleicht gelang es ihr auch, die beiden Negersklaven dazu zu überreden, sich an dem Unternehmen zu beteiligen. Sie hatten große Angst, besonders vor Oka Mama, aber auch sie warteten nur auf eine Gelegenheit, Pirates’ Cove zu verlassen.

Ilaria tauchte im Mangroven- und Lianendickicht unter, sie wollte einen der Pfade erkunden, den die Piraten in den Urwald getrieben hatten. Wenn hier kein Wachtposten stand, war der Fluchtweg zur Küste und möglicherweise auch bis zur Ostbucht frei.

Sie hatte keine Waffe, nicht einmal ein winziges Messer. Oka Mama wachte über die sechs Mädchen, nichts konnte ihr entgehen. Sie hatte sie in die Hütte gesperrt, weil sie ahnte, daß sie das Gefecht als Anlaß nehmen würden, sich heimlich davonzuschleichen. Sie hatte angenommen, daß es den Mädchen ohne Hilfsmittel nicht gelingen würde, die Hütte aus eigener Kraft zu verlassen – aber in diesem Punkt hatte sie sich getäuscht.

Ilaria haßte die Piraten, denen sie ausgeliefert war, aber noch mehr haßte sie Oka Mama, die keine Gelegenheit ausließ, die Mädchen und die Sklaven schlecht zu behandeln. Am liebsten hätte sie Oka Mama getötet, aber sie wußte, daß sie keine Chance gegen sie hatte. Die Alte sah gebrechlich aus, aber sie war es nicht. Sie war flink und wendig und konnte es im Kampf mit jedem Mann aufnehmen. Das zeigte auch die Tatsache, daß sie den großen Mann mit den Narben im Gesicht, der offenbar Carberry hieß, überwältigt hatte.

Durch die Ritzen zwischen den Brettern der Hütte hatten die Mädchen alles beobachten können. Den Gesprächen hatten sie entnommen, was sich ereignet hatte. Die Engländer waren in die Falle gegangen, jetzt erwartete sie ein grausames Ende.

Eigentlich hegte Ilaria im stillen eine tiefe Bewunderung für die Männer der „Isabella“. Sie hatte vernommen, daß sie englische Korsaren waren, und der Name Killigrew war ihr nicht neu. Dieser Philip Hasard Killigrew, der auch der Seewolf genannt wurde, sollte ein toller Kerl sein. Er hatte der spanischen Krone schon immer zugesetzt, aber daß er auch gegen Piraten kämpfte, war Ilaria bisher nicht bekannt gewesen.

Sie hätte sich gewünscht, von diesem. Killigrew mitgenommen zu werden, aber die Korsaren waren Gefangene der Piraten, und sie hatten keine Chance mehr, sich zu befreien. Ilaria mußte handeln. Ihre Gefährtinnen und sie waren auf sich allein angewiesen, und auch von den beiden Schwarzen durften sie keine große Unterstützung erhoffen.

Alles das ging Ilaria durch den Kopf, während sie sich durch das Gestrüpp arbeitete, um den Pfad zu erreichen. Fünf solcher Wege gab es auf Pirates’ Cove, und sie kannte ihren Verlauf Yard für Yard. Sie wußte auch, wo sich die Fallen befanden, aber sie war nicht darüber informiert, wo sich das Schatzversteck Mardengos befand. Die Piraten schwiegen sich darüber aus.

Ihr Gesicht war angespannt und leicht verzerrt. Kein Gold und Silber wollte sie – nur ihre Freiheit. Sie trug eine Perlenkette, die einer der Piraten ihr großzügig geschenkt hatte, aber sie war bereit, auch die zurückzulassen, wenn nur die Flucht gelang.

Plötzlich registrierte sie rechts neben sich eine Regung und wollte herumfahren, aber es war zu spät. Sie konnte nicht mehr reagieren. Starke Hände schossen aus dem Gebüsch hervor und packten sie, die eine riß sie am Arm zu Boden, die andere preßte sich gegen ihren Mund.

„Keinen Laut“, flüsterte eine Männerstimme auf spanisch. „Keine Dummheiten – es geschieht dir nichts, wenn du vernünftig bist.“

Lieber Gott, dachte sie, jetzt haben sie mich doch entdeckt. Jetzt ist alles aus.

„Ich nehme die Hand von deinem Mund, wenn du mir versprichst, nicht zu schreien“, raunte ihr der Mann zu. „Wirst du still sein?“

Ilaria nickte. Seltsam, sie kannte die Stimme nicht und wußte nicht, welcher Pirat das war, der sie überrumpelt hatte. Er zog die Hand zurück, und sie konnte ihren Kopf wenden und ihm ins Gesicht blicken.

Sie war grenzenlos überrascht. Ein halbnackter Mann kauerte neben ihr im Dickicht – und was für ein Mann! Groß, breitschultrig, stark, schwarzhaarig, gutaussehend mit harten, markanten Zügen: von solch einem Kerl träumten selbst hartgesottene Kurtisanen. Unwillkürlich schloß Ilaria die Augen, dann öffnete sie sie wieder und gab einen leisen Seufzer von sich.

„Du hattest mir versprochen, keinen Laut von dir zu geben“, sagte er.

„Allmächtiger! Wer bist du?“

„Philip Hasard Killigrew. Aber verrate mich nicht.“

Fast wurde ihr schwindlig. „Du – bist das? Aber Mardengo hat dich doch – gefangengenommen.“

„Ganz ruhig bleiben“, zischte Hasard, dann lächelte er. „Wir haben uns eines kleinen Tricks bedient. Weißt du, warum ich dir das erzähle? Ich habe das Gefühl, ich kann dir trauen.“

„Ja, ja!“ versicherte sie eifrig. „Ich heiße Ilaria.“

„Gut, Ilaria. Bist du auch eine Gefangene?“

„Sozusagen. Aber wer ist der Mann, der sich als der Seewolf ausgegeben hat?“

„Ferris Tucker“, entgegnete Hasard gedämpft. „Mein Schiffszimmermann. Und der, der sich Ferris nennt, ist Dan O’Flynn.“

Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, da steige ich nicht durch. Aber das spielt auch keine Rolle. Du willst deine Freunde befreien. Ich helfe dir dabei, aber unter einer Bedingung.“

„Daß ich dich mitnehme?“

„Mich – und meine fünf Freundinnen“, flüsterte sie.

„Heiliger Strohsack.“ Hasard hatte erst jetzt Gelegenheit, sie ausgiebig zu betrachten. Hübsch war sie, dunkelhaarig, rundum gesund und von Mutter, Natur großzügig mit Rundungen bedacht, eine echte Spanierin, aus Andalusien ihrem Akzent nach, eine Lady mit Feuer im Blut. „Das wird ja immer lustiger“, murmelte er. „Und die beiden Schwarzen nehmen wir natürlich auch mit, wenn uns die Flucht gelingt, oder?“

„Ja.“

„Warum hält man euch hier fest? Seid ihr Geiseln?“

Unwillkürlich schlug sie die Augenlider nieder. „Nein.“ Zum erstenmal in ihrem Leben schämte sie sich ihres Metiers. Es war seltsam, aber dieser schwarzhaarige, atemberaubend verwegene Mann krempelte ihr gesamtes Gefühlsleben um. Sie war verwirrt.

„Mardengo hat uns von einem spanischen Schiff entführt, das er überfiel“, wisperte sie. „Wir sollten eigentlich in einem Wirtshaus der Neuen Welt unsere – unsere Arbeit tun, aber nun sind wir eben auf dieser verdammten Insel gelandet.“

„Ich verstehe“, sagte er leise, dann hielt er ihr die Hand hin, die bisher noch ihren Arm festgehalten hatte. „Das ändert aber nichts. Wir sind Verbündete, und ich tue alles, um euch an Bord der ‚Isabella‘ zu holen, die ich zurückerobern werde.“

Sie übersah die Hand und fiel ihm um den Hals. Ihre Küsse bedeckten sein Gesicht, er versuchte, sich sanft dagegen zu wehren, aber ihr Temperament ließ sich nicht zügeln. Es gelang ihr, ihn umzuwerfen. Ihr weicher, warmer Körper preßte sich auf ihn.

„Ilaria“, flüsterte er. „Nichts gegen deine Zärtlichkeiten, aber dazu ist jetzt wirklich keine Zeit. Wir können uns später noch ausführlich unterhalten.“

„Oh, du hast recht.“ Sie richtete sich auf. Ihre Augen schienen zu funkeln, sie lächelte. „Wir werden uns unterhalten, Hasard, am besten in deiner Kammer an Bord der ‚Isabella‘. Ich habe dir viel zu erzählen, sehr viel. Und meine Phantasie kennt keine Grenzen.“

 

„Das glaube ich dir gern.“ Er erhob sich und räusperte sich leise. Natürlich würde er sie enttäuschen müssen, die Autorität des Kapitäns durfte schließlich nicht untergraben werden. Aber das konnte er ihr später erklären – falls alles klappte.

„Schnell jetzt“, drängte er sie. „Wir müssen ins Lager und die Wachen überwältigen.“

„Warte.“ Sie brachte ihr Gesicht dem seinen wieder ganz nahe. „Das geht so nicht. Vor allem darfst du Oka Mama nicht unterschätzen. Lieber stirbt sie, als daß sie zuläßt, daß deine Kameraden befreit werden. Verstehst du?“

„Wir müssen sie ablenken – sie und die Kerle.“

„Ich weiß, was wir tun können“, flüsterte sie. „Du mußt mir vertrauen, bitte. Laufen wir zur Landzunge an der Ostbucht.“

„Das ist zu weit.“

„Nein. Ich kenne alle Pfade, und ich weiß, wo die Fallen sind. Sie befinden sich in erster Linie im nordwestlichen Bereich der Insel. Wir haben freie Bahn – und wenn wir das Katapult auf der Landzunge bedienen und die Feuertöpfe auf die Werft und die Skull-Insel schleudern, läßt die Alte hier alles im Stich. Wir können im Nu zurückkehren und die Hütten öffnen.“

Was sie sagte, klang überzeugend. Hasard hatte keine andere Wahl, er mußte auf ihren Vorschlag eingehen. Denn sie hatte recht – die Zahl der Wächter im Lager war nicht sehr groß, aber immer noch zu groß. Ehe er sie überwältigt hatte, schlugen sie möglicherweise Alarm. Dann genügte es, wenn nur ein paar der Kerle vom Fluß ins Lager zurückkehrten, und das ganze Unternehmen war zum Scheitern verdammt.

Viel klüger war, die Piraten durch eine gezielte Aktion abzulenken. Somit war auch das Risiko geringer, daß die Arwenacks in den Hütten in Gefahr gerieten. Hasard mußte jedes Risiko vermeiden, Ilarias Auftauchen war ihm gerade recht.

Er nahm sie bei der Hand, und gemeinsam hasteten sie durch den Dschungel. Sie begegneten niemandem, kein Posten verstellte ihnen den Weg. Nur kurze Zeit verging, und sie hatten die Landzunge im Norden der Bucht bereits erreicht, wie Ilaria gesagt hatte. Hasard wußte jetzt, daß er ihr wirklich trauen durfte.

8.

Don Augusto Medina Lorca hatte vorsichtshalber die Marssegel der „Santa Veronica“ aufgeien lassen. Jetzt ließ er auch die Fock und den Besan wegnehmen – es war ratsam, mit langsamer Fahrt unter Land zu gehen.

Die „Santa Veronica“ glitt zwischen Korallenbänken dahin, es war fast ein Wunder, daß sie noch nicht aufgelaufen war. Der Pirat, der neben Don Lope de Sanamonte auf dem Achterdeck stand, hielt unwillkürlich den Atem an. War das die Möglichkeit? Ohne es zu beabsichtigen, hatte er das Flaggschiff in eine der Passagen gelenkt, die durch die Barriere führten und nur Mardengo und seinen Piraten bekannt waren.

Der Seemann auf dem Galion, der die Aufgabe hatte, die Wassertiefe auszuloten, schrie plötzlich: „Señor Capitán! Achtung – wir halten auf ein Riff zu!“ Trotz der Dunkelheit konnte er den flachen Buckel erkennen, der tiefschwarz aus den Fluten aufragte – direkt vor ihnen.

„Beidrehen!“ rief Don Augusto. Das Manöver wurde unverzüglich und in größter Eile durchgeführt, der Rudergänger legte Hartruder, um dem drohenden Auflaufen zu entgehen.

Tatsächlich schafften sie es: Die „Santa Veronica“ blieb in unmittelbarer Nähe der gefährlichen Bank in ausreichend tiefem Wasser liegen. Sämtliche Segel hingen im Gei. Die Männer hielten Umschau und begriffen, welch enormes Glück sie gehabt hatten. Zu allen Seiten ragten die Korallen aus dem Wasser. Die „Santa Veronica“ saß in einer Falle.

„Beidrehen!“ schrie Don Augusto auch den Besatzungen der nachfolgenden Galeonen zu, und sofort stellten sie ebenfalls verzweifelte Bemühungen an, sich zu retten.

Zwei Galeonen liefen dennoch auf. Es krachte, knackte und knirschte, und sie saßen auf dem Riff fest. Das wütende Gebrüll der Mannschaften tönte durch die Nacht, irgend jemand schien auch verletzt zu sein, ganz deutlich waren Schmerzenslaute zu vernehmen.

Don Lope packte den Piraten und stieß ihn gegen die Balustrade.

„Du Hund!“ brüllte er ihn an. „Du hast uns also doch hereingelegt! Das wirst du mir büßen!“

Der Mann setzte sich zur Wehr. Er sah seine Chance gekommen, sich zu befreien. Auf See wäre er nicht weit gelangt, hier aber, vor der Insel, konnte er wagen, außenbords zu springen und bis nach Pirates’ Cove zu schwimmen. Auf die kurze Distanz würden die Haie ihn nicht behelligen, er wußte, daß er es schaffen konnte.

Er wollte Mardengo verständigen, und sie würden die Verwirrung an Bord der spanischen Schiffe ausnutzen, um sich anzupirschen. Dann würden sie als erstes die „Santa Veronica“ entern, Don Augusto und Don Lope als Geiseln festnehmen, die Mannschaft töten und die Gefangenen aus der Vorpiek befreien.

Der Pirat entging Don Lopes wütendem Fausthieb, duckte sich und rammte ihm beide Fäuste in den Magen. Don Lope stöhnte auf, die Pistole entglitt seiner Hand und polterte auf die Planken.

Don Augusto war noch durch seine Beobachtungen abgelenkt. Sein Blick war nach achtern gerichtet, er sah, daß die vier anderen Galeonen es geschafft hatten, rechtzeitig vor dem Riff beizudrehen.

Der Rudergänger der „Santa Veronica“ eilte Don Lope zu Hilfe. Er sah, wie der Pirat die Pistole aufzuheben versuchte, schnellte vor und packte ihn. Sie überrollten sich auf dem Deck und hämmerten aufeinander ein, dann war auch Don Lope wieder auf den Beinen.

Noch einmal versuchte der Pirat, sich freizukämpfen, aber Don Lope war heran und hieb ihm einen Belegnagel auf den Hinterkopf, den er aus der Nagelbank des Besanmastes gerissen hatte. Mit einem leisen Stöhnen sank der Mann zusammen. Der Rudergänger ließ ihn los, richtete sich auf und blickte mit Don Lope und Don Augusto, der jetzt ebenfalls nahte, auf den reglos daliegenden Piraten.

Don Lope hob mit wutverzerrtem Gesicht seine Pistole auf, spannte den Hahn und zielte auf den Mann. Wieder war es Don Augusto, der ihn zurückhielt.

„Ich töte ihn!“ schrie Don Lope. „Er hat uns betrogen! Wir brauchen ihn nicht mehr!“

„Wir brauchen ihn doch noch“, sagte Don Augusto. „Wie sonst, mein bester Don Lope, sollen wir wieder aus dem Riff herausfinden?“

Darauf wußte auch Don Lope keine Antwort. Don Augusto gab dem Rudergänger einen Wink und ließ den Piraten fesseln. Er bedeutete Don Lope, mit ihm ein Stück zur Seite zu treten.

Während Don Lope noch seinen Zorn zu bezwingen versuchte, sagte er: „Der Kerl muß uns hier herausführen, sonst lasse ich ihn langsam an der Großrah hochziehen, verlassen Sie sich darauf, mein Freund. Sobald er wieder bei Bewußtsein ist, bearbeiten wir ihn. Viel schlimmer ist, daß zwei unserer Schiffe auf dem Riff festsitzen.“

„Wir müssen sie herunterziehen“, sagte Don Lope.

Don Augustos Lächeln war fast mitleidig. „Das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Die Flut scheint vorbei zu, sein, wenn mich nicht alles täuscht, und bei ablaufendem Wasser haben wir keine Chance, die Galeonen freizuschleppen. Außerdem müssen wir wissen, wie groß die Schäden sind und ob es überhaupt Zweck hat, sie eventuell durch Warpen vom Riff zu holen.“

Die Kapitäne der beiden havarierten Galeonen waren inzwischen nicht untätig gewesen. Sie hatten ihre Schiffe untersucht. Der eine Mann, der bei dem Auflaufen verletzt worden war, wurde vom Feldscher versorgt. Boote waren abgefiert worden, und die Kapitäne setzten zur „Santa Veronica“ über. Vorsichtig lavierten die Bootsmannschaften zwischen den Korallenbänken hindurch, sie mußten aufpassen, daß sich das Mißgeschick nicht wiederholte.

Don Augusto und Don Lope ließen die Kapitäne an Bord der „Santa Veronica“ rufen, und die Besprechung fand auf dem Achterdeck statt. Die Lecks der beiden verunglückten Galeonen waren groß, es hatte keinen Sinn, zeitraubende Versuche zu ihrer Rettung zu unternehmen, die im übrigen von einem schnellen Instandsetzen der Schiffe begleitet sein mußten.

„All das hat keinen Sinn“, sagte Don Augusto. „Wir bergen die Mannschaften von den Schiffen und verteilen sie auf die anderen Galeonen. Die Leute, die sich auf dieser Insel verborgen halten – wer immer sie sind –, haben unseren Verband längst gesichtet. Wenn ich mich nicht irre, befindet sich an der Küste eine Flußmündung oder eine Bucht, und dort scheinen Schiffe zu ankern.“

Dies wurde durch den Ausguck der „Santa Veronica“ bestätigt, der seine entsprechenden Beobachtungen zum Achterdeck hinunterrief. Auf die relativ geringe Entfernung zwischen Riff und Insel konnte man im blassen Licht des Mondes zumindest die Masten der Schiffe sehen, die hinter der Biegung des trichterförmigen Einschnittes ankerten.

„Diese Schiffe sehen wir uns an“, sagte Don Augusto. „Vorwärts, wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Die Kapitäne verließen das Flaggschiff und kehrten zu ihren Galeonen zurück. Don Augustos Befehl wurde weitergegeben, und die Besatzungen der unversehrten Galeonen bargen die Schiffbrüchigen vom Riff.

Don Augusto ließ unterdessen eine Pütz mit Seewasser füllen, die ein Seesoldat dem bewußtlosen Piraten über den Kopf schüttete. Der Kerl kam zu sich und stöhnte entsetzt auf, als er Don Lope mit der Waffe in der Hand vor sich stehen sah. Er wollte sich bewegen, aber die Fesseln hinderten ihn daran.

„Wir sitzen in dem Riff gefangen“, sagte Don Augusto. „Aber du wirst uns wieder herausführen.“ Er wies auf die Großrah. „Anderenfalls lasse ich dich an der Rah hochziehen, und zwar ganz langsam, damit du das Zappeln richtig lernst.“

„Nun?“ sagte Don Lope drohend. „Entscheidest du dich?“

Der Pirat blickte Don Augusto an, in seinen Augen war ein Ausdruck der Panik und des Unglaubens zu lesen. Er preßte die Lippen zusammen, dann senkte er den Kopf.

„Bootsmann!“ rief Don Augusto. „Halten Sie ein Tau bereit, natürlich mit einer Schlinge! Wir wollen ein Exempel statuieren!“

„Ja, Señor!“ schrie der Bootsmann.

Die Augen des Piraten weiteten sich. Es gab viele Arten zu sterben, aber der Tod durch Erhängen war einer der schlimmsten. Er hatte Angst. Hastig nickte er und sagte: „Nein, ich habe es mir überlegt. Ich führe euch. Es gibt einen Weg durch das Riff.“

„Dann los!“ stieß Don Augusto hervor. „Alle Mann auf ihre Posten! Schiff klar zum Gefecht! Die Segel setzen, wir laufen die Insel an und sehen nach, was es mit den Schiffen auf sich hat!“

Er dachte nicht daran, sich leise zu verhalten, und er ließ auch nicht die Laternen löschen. Man sollte wissen, daß er da war, er verließ sich auf die Stärke seines immer noch aus fünf gefechtsbereiten Schiffen bestehenden Verbandes.

Nach den Anweisungen des Lotsen glitt die „Santa Veronica“ langsam durch die Passage, die nur ein Ortskundiger ohne Risiko befahren konnte. Den nachfolgenden Galeonen ließ Don Augusto Lichtsignale geben; sie schoben sich ebenfalls vorsichtig zwischen den Bänken hindurch und hielten sich im Kielwasser der „Santa Veronica“.

Die „Santa Veronica“ schwamm frei. Don Augusto ließ mehr Tuch setzen. Er ließ den Kurs korrigieren und steuerte in südöstlicher Richtung mit raumem Wind die Mündung des Flusses an – da geschah es. Die Dinge entwickelten sich anders, als er geplant hatte.

Große, unheimliche Schatten tauchten wie Schemenwesen auf – die Schiffe hatten die Flußmündung verlassen. Gato hatte wieder das Kommando auf der „San Carmelo“, Mardengo hatte die „Isabella“ übernommen. Die „San Carmelo“ und die beiden Einmaster steuerten auf die „Santa Veronica“ zu und nahmen sie in die Zange; auf der „San Carmelo“ waren die Stückpforten geöffnet und die Geschütze ausgerannt.

Gato wußte, daß es wahrscheinlich das letzte Gefecht der „San Carmelo“ war, denn ihr Rumpf füllte sich immer mehr mit Wasser und die Krängung nahm zu. Doch selbst wenn sie sank, konnten er und seine Kerle sich mit Leichtigkeit schwimmend zur Insel retten. Mardengo konnte auf die „San Carmelo“ verzichten. Wenn sie unterging, hatte er immer noch die „Isabella“ und die Einmaster. Außerdem rechnete er damit, wenigstens eine spanische Galeone aufzubringen und zu entern – vielleicht sogar die „Santa Veronica“, die bedeutend größer und in einem besseren Zustand war als die „San Carmelo“.

Wichtig war vorerst nur eins: Der Feind mußte überrascht, nachhaltig eingeschüchtert und vernichtend geschlagen werden. Gato befolgte Mardengos Anweisungen in allen Punkten. Ohne zu zögern, feuerte er den ersten Schuß aus einer der Culverinen ab. Ein greller Mündungsblitz zerriß die Dunkelheit, Rauch stieg auf, schwer rollte der Donner über die See. Die Siebzehnpfünderkugel krachte in die Bordwand der „Santa Veronica“, es prasselte und splitterte. Die Spanier schrien auf.

 

Das Gefecht war eröffnet. Wieder dröhnten die Kanonen der „San Carmelo“ – weitere vier Geschütze der Backbordbatterie wurden gezündet. Wieder saßen sie im Ziel, und Don Augusto sah seine Seeleute und Soldaten auf dem Hauptdeck zusammenbrechen.

„Feuer!“ schrie er. „Schießt diesen Hund zusammen!“

„Aber Señor!“ rief der Ausguck. „Es ist die ‚San Carmelo‘, die uns angreift!“

„Was?“ Don Lope war erschüttert. „Das kann doch nicht wahr sein.“

Jetzt erkannte es auch Don Augusto im Zucken der Mündungsfeuer: Die „San Carmelo“ näherte sich seinem Flaggschiff von Backbord und war im Begriff, ihn zusammenzuschießen.

„Don Helder!“ schrie Don Augusto. „Was, zum Teufel, ist da drüben los?“

Doch Don Helder Avarez antwortete ihm nicht. Er konnte es nicht, er war tot – wie die anderen Männer der „San Carmelo“. Keiner hatte das Massaker überlebt. Mardengo hatte das Schiff nicht sehr weit südlich von Daytona überfallen, seine gefangenen Kumpane befreit und mit ihnen den Angriff gegen die Spanier gewagt, der mit seinem Sieg geendet hatte. Nach dem Verlust der „Grinthian“ hatte er wieder ein Schiff gebraucht, und die „San Carmelo“, auf der Schäden auszubessern gewesen waren, hatte sich ihm geradezu als Beute angeboten.

Don Augusto Medina Lorca wußte von diesen Ereignissen nichts, aber er konnte sich in diesem Augenblick zusammenreimen, welches Schicksal Don Helder und seiner Mannschaft widerfahren war. Das triumphierende Gebrüll der Kerle an Bord der „San Carmelo“, ließ keinen Zweifel offen – man hatte es mit Piraten zu tun. Im Aufleuchten der Mündungsblitze waren auch ihre halbnackten Gestalten zu erkennen.

„Das ist – Mardengos Bande!“ stieß Don Lope hervor und ließ einen würgenden Laut vernehmen. Größer hätte seine Überraschung nicht sein können, er hatte nicht mehr damit gerechnet, noch einmal mit Mardengo zusammenzutreffen.

„Feuer!“ schrie Don Augusto noch einmal, und so spuckten nun auch die Rohre der „Santa Veronica“ Feuer und Eisen aus.

Inzwischen hatten sich zwei der vier Galeonen des Verbandes zu ihrem Flaggschiff gesellt, und sofort griffen ihre Kapitäne in das Gefecht ein. Doch inzwischen war auch Mardengo zur Stelle.

Er hatte den Heckanker der „Isabella“ lichten lassen, anschließend aber einige Schwierigkeiten mit dem Herummanövrieren und Wenden des großen Schiffes gehabt, denn seine Kerle mußten sich erst mit der Takelung und dem Ruder vertraut machen.

Jetzt aber glitt die „Isabella“ mit der Strömung aus der Mündung und steuerte mitten zwischen die Gegner. Die Stückpforten waren geöffnet, die Zwanzigpfünder und die Culverinen der Backbordseite donnerten fast gleichzeitig in einer kompletten Breitseite. Mardengo setzte auch die Drehbassen ein, er hielt mit Gato zusammen auf die „Santa Veronica“.

Don Augusto geriet schwer in Bedrängnis, doch er wehrte sich nach Kräften. Eine Galeone unterstützte ihn, die beiden anderen griffen die Einmaster an, die nun ebenfalls mit ihren Bug- und Heckgeschützen feuerten.

Im Nu tobte ein erbittertes Gefecht, in dem beide Seiten keinen leichten Stand hatten. Vor Pirates’ Cove war der Teufel los. Keiner wußte, wie das Gefecht enden würde, eine Entscheidung war noch nicht abzusehen.