Seewölfe Paket 14

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10.

„Wie geht es weiter?“ wollte Ben von Hasard wissen. Nebeneinander standen sie auf der Pier und richteten ihre Blicke auf die Stadt, die ihnen wie ein ferner orientalischer Traum erschien.

„Mein Vorschlag ist, zumindest mit unseren beiden Booten die Küstenfahrt westwärts am Delta entlang anzutreten“, entgegnete der Seewolf. „Und zwar bis nach Abukir oder Alexandria. Dort könnten wir für die Durchquerung des Mittelmeers vielleicht einen größeren Segler erstehen. Oder aber wir kriegen eine Passage auf einem Kauffahrer, der die Südküste Europas anläuft, beispielsweise Südfrankreich, Italien oder Spanien. Hier in Damiette erhalten wir nichts Entsprechendes, da ist jede Mühe vergeblich. Hier liegen nur die Dhaus und Feluken der Nil-Schiffer. Mit denen können wir nichts anfangen.“

„Aber es ist auch unmöglich, mit der ganzen Crew nach Alexandria oder Abukir zu segeln“, wandte Ben ein. „Auf dem Fluß konnten wir uns leidlich voranquälen, aber auf See sind wir zum Scheitern verurteilt. Siehst du das nicht ein?“

„Doch. Eine Trennung ist eben unvermeidlich. Das Los wird entscheiden, welche Männer ohne Boot bleiben. Ich schlage vor, wir bilden drei Gruppen, anders geht es nicht.“

Hasard drehte sich um und trat zu den Männern, die sich inzwischen auf der Pier versammelt hatten. Seine Miene wirkte steinern, ihm war alles andere als wohl zumute. Aber er wußte, daß es keine andere Lösung gab.

„Habt ihr gehört, was Ben und ich gesprochen haben?“ fragte er sie.

„Ja, Sir“, erwiderte Old O’Flynn stellvertretend für alle anderen. „Und ich muß hinzufügen, daß die Küstenfahrt mit der gesamten Mannschaft in nur zwei Booten wirklich viel zu gefährlich wäre – ein seemännischer Unsinn wäre das.“

„Ja, das ist uns allen klar“, sagte nun auch Shane.

„Augenblick“, sagte Dan. „Was ist mit dem Franzosen, den ich vorhin auf der Reede gesichtet habe? Wäre das nicht der richtige Kahn für uns? Wir könnten ihn wenigstens mal wahrschauen und fragen, was er davon hält, uns gegen Bezahlung mitzunehmen.“

„Meinetwegen.“ Hasard fuhr sich mit der Hand über die Stirn und wischte den feinen Schweißfilm ab, der sich gebildet hatte. „Aber bei dem Pech, daß wir haben, glaube ich nicht an einen Erfolg. Überhaupt, ich bin ziemlich mißtrauisch. Damiette ist eigentlich nur ein Hafen für die Araber- und Türkenschiffe, wie ich eben schon sagte. Ich frage mich ernsthaft, ob das ein echter Franzose ist – oder ob man uns wieder eine Falle stellt.“

Sein Argwohn war berechtigt, und dies war nun eben die Lehre, die man aus den Ereignissen in Ägypten ziehen mußte: Keinem Menschen durfte man mehr trauen, auch dem freundlichsten Kerl nicht, denn jeder konnte ein Schauspieler und Blender wie Ali Abdel Rasul sein, einer, der sich der überzeugendsten Masken und Verkleidungen bediente. Nichts war unmöglich, überall lauerten Heimtücken und Fallen. Hasard vergaß dies nicht einen Augenblick, und er war nicht bereit, sich auf neue fragwürdige Abenteuer einzulassen.

„Teilen wir erst mal die Gruppen ein“, sagte er. „Ben, du übernimmst die eine, Ferris, du die andere. Die dritte untersteht meinem Kommando. Wir sind vierundzwanzig Mann, die Zwillinge mitgerechnet, das läßt sich durch drei teilen. Acht Mann in jeder Gruppe also.“

„Dad!“ rief Philip junior. „Wir bleiben doch bei dir, nicht wahr?“

„Natürlich“, erwiderte sein Vater. „Also: Philip junior und Hasard junior, außerdem Dan, Shane, Gary, Batuti und Matt – ihr gehört zu meiner Gruppe. Wir nehmen auch Arwenack mit, er fühlt sich bei Dan und bei Batuti ja am wohlsten. Hat jemand Einwände zu erheben?“

Die hatte keiner anzumelden, Hasard konnte fortfahren. „Ben, du übernimmst Pete, Al, Smoky, Sam Roskill, Bob Grey, Will und Donegal“, sagte er. „Zufrieden?“

„Aye, Sir.“

„Ferris, demnach bleiben in deiner Gruppe noch genau sieben Mann: Ed, Stenmark, der Kutscher, Blacky, Jeff Bowie, Bill und Luke.“

„Richtig, Sir. In Ordnung.“

Der Seewolf nahm nun drei Hölzchen in die Hand, von denen das eine kürzer als die anderen war. Er hielt sie so, daß sie alle dieselbe Länge zu haben schienen, dann ließ er Ben und Ferris je eins davon ziehen. Wer das kürzere Hölzchen erhielt, würde mit seiner Gruppe ohne Boot sein.

Sie verglichen ihre Lose miteinander. Ferris hielt das kürzere zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. Er nickte und versuchte zu grinsen. „Gut, das wär’s dann wohl.“ Er drehte sich zu seiner Gruppe um, die sich inzwischen von den beiden anderen Achter-Trupps abgesondert hatte. „Wir bleiben also ohne Boot, Leute, und müssen sehen, wie wir uns weiter durchschlagen.“

Der Profos kratzte sich an seinem mächtigen Kinn. „Das mit dem Franzosen – wir sollten es ruhig mal prüfen, finde ich. Ich denke, der Bursche wird uns nicht gleich einen Schuß vor den Bug setzen, wenn doch, haben wir ja immer noch zwei Höllenflaschen.“

Blacky sagte: „Vielleicht ist das doch eine reelle Chance für uns. Wie ist es, Sir, stellst du uns die eine Jolle noch zur Verfügung, damit wir bis zur Reede segeln können?“

„Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte der Seewolf und ihm wurde immer elender zumute.

Ferris Tucker trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Ja, also dann – wir verabschieden uns wohl schon mal voneinander, ich meine, das wäre doch das – äh, ach, verdammt, hol’s der Teufel, mir fallen jetzt nicht die richtigen Worte ein.“

Hasard räusperte sich. „Aber mir. Es ist doch wohl Ehrensache, daß wir alle euch zu dem Franzosen begleiten, und das mit dem Abschied können wir also vorläufig noch mal verschieben. Los, auf was wartet ihr noch? Zurück in die Boote!“

Sie stiegen wieder ein und lösten die Leinen, dann legten sie ab und setzten die Segel. Hölle und Teufel, dachte Ben Brighton, während sie Kurs auf die Reede von Damiette nahmen, was ist das bloß für eine beschissene Situation!

Sie waren zwar alle harte Kerle, und es war auch nicht das erste Mal, daß die Crew der „Isabella“ auseinandergerissen wurde, aber die bevorstehende Trennung ging ihnen allen doch sehr nahe.

Schweigend verrichteten die Männer in beiden Jollen die erforderlichen Manöver. Hoch am Wind liegend glitten sie auf den Hafen von Damiette zu, dessen Piers, Kaimauer und Häuser sich nun immer deutlicher vor ihnen abhoben.

Die Silhouette des französischen Schiffes zeichnete sich gestochen scharf im Sonnenlicht vor ihnen ab, und bald vermochten sie den Namen am Heck zu erkennen: „Mercure“.

„Merkur, der Götterbote“, brummte Ben Brighton. „Na, wunderbar. Vielleicht ist das ja ein gutes Omen.“

„Das weiß der Henker“, sagte Ferris Tucker. „Die Frage ist eben, ob er zurück nach Frankreich segelt oder nicht. Was mag wohl sein Heimathafen sein?“

Darauf konnte vorerst niemand eine Antwort geben, doch sie sollten es noch erfahren. Die „Mercure“ entpuppte sich vor ihren Augen als eine nicht besonders große Galeone mit drei Masten. Fockmast und Großmast waren vollgetakelt, der Besanmast führte ein Trapezsegel an einer langen Rahrute.

„Bewaffnet ist der Kamerad auch“, sagte Dan O’Flynn. „Ich sehe vier Stückpforten an der Backbordseite der Kuhl, also werden es auf der anderen wohl auch vier sein.“

„Außerdem hat er noch zwei Drehbassen achtern und zwei weitere vorn“, fügte Hasard hinzu.

„Wahrschau!“ erklang in diesem Augenblick ein Ruf von Bord der Galeone. „Wer seid ihr? Was wollt ihr?“ Der Ausguck hatte sie längst entdeckt, aber erst jetzt, da er ganz sicher war, daß die beiden Jollen das Schiff anliefen, meldete er sich.

Hasard erhob sich und legte beide Hände als Schalltrichter an den Mund.

„Philip Hasard Killigrew und seine Crew von der ‚Isabella‘!“ rief er zurück. Die französische Sprache beherrschte er leidlich gut, er gab sich Mühe, die richtigen Ausdrücke zu benutzen. „Ich möchte mit eurem Kapitän sprechen!“

„Dreht bei!“ rief der Franzose. „Wartet!“

„Na, dann warten wir mal“, sagte Hasard. Es klang nicht sehr zuversichtlich. Warum verließ ihn ausgerechnet jetzt, da sie sich trotz aller Widrigkeiten bis zur Mündung des Nils durchgekämpft hatten, der Mut? Er wußte es selbst nicht.

Ein paar Minuten vergingen, dann erschien über ihnen – am Schanzkleid des Hauptdecks der Galeone – eine bemerkenswerte Gestalt – ein kleiner, ungemein drahtiger und vital wirkender Mann, grauhaarig, mit einem ledrigen Gesicht, wasserhellen Augen und einer schmalen, etwas gekrümmten Nase. Diese Einzelheiten konnten die Seewölfe mit dem bloßen Auge erkennen, denn sie waren inzwischen nah genug heran.

„Mein Name ist Pierre Delamotte!“ rief der Kapitän. „Wer, zum Teufel, seid ihr, Männer? Engländer?“

Sehr freundlich klang das nicht, und Hasard bereute schon, den Franzosen überhaupt angepreit zu haben. Aber ein Zurück gab es jetzt nicht mehr.

„Killigrew heiße ich“, erwiderte er. „Das habe ich Ihrem Ausguck eben schon gesagt, Capitaine. Wir sind alle waschechte Engländer, bis auf unseren schwarzen Kameraden aus Gambia und Stenmark, den Schweden.“

„Dagegen habe ich nichts einzuwenden!“ sagte Delamotte laut, und diesmal war er schon etwas freundlicher. „Heraus mit der Sprache, was führt Sie zu mir, Monsieur Killigrew?“

„Wir haben unser Schiff verloren und sind dazu gezwungen, mit den Beibooten an der ägyptischen Küste entlangzusegeln“, erklärte der Seewolf, obwohl ihm auch dies nicht gerade leichtfiel. „Da die Mannschaft aber zu groß ist, wollte ich Sie fragen, ob Sie einen Teil meiner Crew zu sich an Bord nehmen können – gegen Bezahlung natürlich. Mit anderen Worten, wir möchten für acht Männer eine Passage buchen, oder aber sie heuern bei Ihnen an, Capitaine.“

 

Delamottes Miene hatte sich merklich aufgehellt, jetzt lachte er sogar.

„Das ist ja kaum zu fassen!“ rief er. „Mon Dieu, Sie schickt wirklich der Himmel, Monsieur Killigrew! Steigen Sie erst mal an Bord, damit ich Sie gebührend empfangen kann!“

So gingen die Jollen bei der „Mercure“ längsseits, und wenig später enterten die Seewölfe an der Jakobsleiter auf.

Delamotte empfing sie mit aufgeräumtem Gebaren auf dem Hauptdeck, führte sie dann aufs Achterdeck, ließ Wein bringen, stieß reihum mit ihnen an und sagte: „Ich will ganz ehrlich sein. Sie helfen mir aus der Klemme, meine Herren. Die ‚Mercure‘ ist nämlich total unterbemannt.“

Hier lag nun der Gedanke nahe, mit der kompletten „Isabella“-Crew auf der französischen Galeone anzuheuern, doch Hasard mußte rasch feststellen, daß Delamotte damit nun wieder überfordert gewesen wäre. Acht Männern konnte der Dreimaster Logis und Arbeit bieten, nicht aber einer Gruppe von vierundzwanzig Mann. So blieb es bei dem ursprünglichen Vorhaben: Ferris und seine Männer würden sich in die Musterrolle eintragen.

Vorher aber fragte Hasard Delamotte: „Sind Sie denn wirklich auf dem Rückweg nach Frankreich?“

„Aber gewiß doch“, erwiderte der Kapitän. „Unser Heimathafen ist Brest, wir haben Gewürze geladen. Eigentlich hätten wir schon längst ankerauf gehen und absegeln müssen, doch – wie gesagt – es fehlte uns an den nötigen Besatzungsmitgliedern. Ich wollte schon versuchen, an Land ein paar Leute zu pressen, so weit war ich, stellen Sie sich das vor! Aber jetzt sind Sie hier, meine Freunde, und ich muß Ihnen gestehen: Ich bin wirklich entzückt.“ Mit diesen Worten sah er zu Ferris Tukker, zu Carberry, der Sir John auf seiner linken Schulter sitzen hatte, zu Stenmark, dem Kutscher, Blacky, Jeff Bowie, Bill und Luke Morgan und nickte ihnen anerkennend zu.

„Sie könnten jetzt also sofort ankerauf gehen?“ erkundigte sich Ferris noch einmal der Vorsicht halber.

„Natürlich“, erwiderte Delamotte. „Es ist mir eine Freude, denn Damiette geht mir allmählich auf die Nerven. Ich kann den Singsang der Muezzins nicht mehr ertragen, verstehen Sie?“

„Ja, das verstehen wir sehr gut“, sagte Hasards rothaariger Schiffszimmermann grinsend. „Da geht’s uns nicht anders.“

„Wollen wir darum die erforderlichen Formalitäten gleich erledigen?“ fragte Pierre Delamotte.

Das wollten die Seewölfe, sie waren einverstanden, denn Delamotte schien ihnen ein Mann zu sein, auf dessen Schiff man die Überfahrt bis nach Brest getrost antreten konnte. Delamotte, das sollte sich noch herausstellen, war eine Mischung aus Spitzbube, Geschäftsmann und Spaßmacher, dabei aber auch ein harter Brocken von Kerl und ein exquisiter Seemann. Mit den Spaniern stand er grundsätzlich auf dem Kriegsfuß, weil diese ihm schon mehrere Male Ladungen, die er aus dem Orient nach Frankreich bringen wollte, beschlagnahmt oder, wenn man es anders ausdrücken wollte, „entsteißt“ hatten. Er segelte auf eigene Rechnung, und wenn er eine Ladung bis nach Brest durchbrachte, erzielte er einen ansehnlichen Gewinn.

So schien die Ferris-Tucker-Gruppe nun doch das beste Los gezogen zu haben. Sie blieb auf der „Mercure“ und trat an das Schanzkleid, während Hasards und Bens Gruppen wieder an der Jakobsleiter in die Boote abenterten.

Es gab einen kurzen, wehmütigen Abschied, und ausgerechnet Batuti, diesem Herkules von Menschen, rollte dabei eine dicke Träne über die Wange. Er schämte sich ihrer nicht, und er fand auch nicht, daß es etwas Schlimmes war, wenn man bei einem solchen Anlaß rührselig wurde.

Schließlich ging es seinen Kameraden nicht anders, nur wollten sie es nicht so offen zeigen. Da wurde gehüstelt und gefrotzelt, man sprach leere Worte und versuchte zu lachen. Dan O’Flynn wollte einen Witz anbringen, aber der mißlang, und Ferris Tucker trat schon wieder von einem Fuß auf den anderen.

„Na, dann macht’s mal gut!“ rief Hasard zuletzt noch. Besonders geistreich war das auch nicht – aber was sollte er sonst sagen? „Es bleibt dabei, wir treffen uns entweder bei Doc Anthony Freemont oder bei Nathaniel Plymson in der ‚Bloody Mary‘ wieder!“

„Aye, Sir!“ rief Ferris. „Also, gute Reise!“

„Ja, die wünschen wir euch auch.“

Doc Freemont oder Plymson in der „Bloody Mary“ – das klang fast so, als stünden deren Häuser drüben, im Hafen von Damiette, als könne man zu ihnen hinüberspucken. Doch sowohl Freemont als auch Plymson saßen daheim in Plymouth und hatten keine Ahnung davon, daß die Seewölfe ihre Adressen als gemeinsamen Treffpunkt vereinbart hatten.

„Auf Wiedersehen“, sagte Ben Brighton. „In drei, vier Wochen schätze ich.“

„Und wenn es fünf werden?“ fragte Blacky von Bord der Galeone aus. „Ist das schlimm?“

„Ach wo“, antwortete Ben. „Nur besteht die Gefahr, daß wir uns in der Zwischenzeit bei Plymson sinnlos vollaufen lassen. Wir sind nämlich auf jeden Fall eher da als ihr, und wenn wir den ganzen Weg mit den verdammten Jollen pullen müssen.“

Wieder wurde ein gezwungenes Lachen laut, und Carberry sagte: „Plymson, ja, der wird sich über unseren Besuch freuen. Wenn er’s doch schon wüßte.“

Ferris mußte jetzt doch grinsen. „Laß nur, Ed, es ist viel schöner, wenn unser Auftauchen zur Überraschung für ihn wird. Die Augen werden ihm aus dem Kopf fallen, das schwöre ich dir.“

Daran und an der Vorstellung, was für eine belemmerte Miene der feiste Plymson wohl ziehen würde, wenn er sie sah, zogen sie sich nun hoch, und sie gaben sich Mühe, den Frosch herunterzuwürgen, der ihnen beim Anblick der ablegenden Jollen im Hals saß.

Die Boote dümpelten immer weiter von der „Mercure“ fort – und dann gab Delamotte den Befehl, den Anker zu lichten. Ferris, der Profos, Blacky und die fünf anderen begaben sich auf ihre Posten. Die Spillspaken wurden in das Gangspill gesteckt, die Männer gingen im Kreis, und ruckend tauchte der Stockanker der Galeone aus dem Wasser auf. Schon kurze Zeit später wurden die Segel gesetzt, und die „Mercure“ lavierte auf See hinaus.

Noch einmal kehrten Ferris Tukker und seine sieben Begleiter an das Schanzkleid zurück und schrien ihr „Arwenack“ über die Reede von Damiette, als letzten Gruß an die Kameraden.

Hasard, Ben und die Männer in den Booten antworteten: „Arwe-nack! Arwe-nack!“

Noch zweimal stieß die Ferris-Tucker-Crew den alten Schlachtruf der Seewölfe aus, dann kehrten sie alle acht auf ihre Posten zurück.

„He“, sagte Ferris dabei zu Carberry. „Was wischst du dir denn im Gesicht herum?“

„Mir ist was ins Auge geflogen.“

„Sand?“

„Nein, ein Belegnagel, du Affenarsch!“ sagte der Profos wild.

In den beiden Booten blickten die Seewölfe recht betrübt und ratlos drein, aber Hasards Befehl purrte sie aus ihren bitteren Überlegungen hoch und holte sie zurück in die Wirklichkeit.

„An die Schoten!“ rief er. „Wir brechen ebenfalls auf!“

Keine halbe Stunde nach dem Auslaufen der „Mercure“ segelten also auch sie los, umrundeten Ras el-Bahr an der Mündung des östlichen Nil-Armes und steuerten an der Küste entlang westwärts.

11.

Die „Arwenack“-Rufe waren im Hafen von Damiette keineswegs ungehört geblieben. Hier, zwischen den Dhaus und Feluken, lag eine spanische Galeasse namens „San Antonio“. Ihr Kapitän Juan de Faleiro stand schon seit einiger Zeit an Deck und beobachtete die französische Galeone durch sein Messing-spektiv.

Ein hagerer Mensch war dieser de Faleiro, mit einem wahren Geiergesicht und stechenden dunklen Augen. Seine Glatze hatte er durch eine Perücke verdeckt, seine Kleidung war aus teuersten Stoffen gearbeitet, seine Hände waren gepflegt. Die Mannschaft sagte von ihm, er bestünde aus Gift und Galle, und in der Tat war er ein skrupelloser Menschenschinder, dem das Leben anderer so gut wie gar nichts bedeutete.

Seine Messerlippen hatten sich zu einem hämischen Grinsen verzogen. Er war jetzt Anfang der Fünfzig und hatte viel erlebt, doch seinen Ehrgeiz hatte nichts brechen können.

Seinerzeit, vor fünfzehn Jahren, hatte er eine Galeere kommandiert, die „Tortuga“, und auf jenem Schiff hatten einige Männer eines gewissen Philip Hasard Killigrew als Sklaven schuften müssen. Ein gewisser Dan O’Flynn, der mit zu dieser Bande von Hundesöhnen gehört hatte, hatte ihn, de Faleiro, damals niedergeschossen, als er den Befehl erhalten hatte, einen gewissen Ferris Tucker auszupeitschen.

Nach dem Schuß war Dan O’Flynn über Bord gesprungen, und jener Philip Hasard Killigrew und ein Mann namens Ben Brighton, die ihre Crew von der „Tortuga“ befreien wollten, hatten ihn aus dem Wasser gefischt. Schließlich war ihr Vorhaben gelungen – sie hatten ihre Männer befreit.

Und de Faleiro? Nun, der war damals von der Schußverletzung genesen, doch die spanische Marinebehörde hatte ihn im April 1577 zum Sündenbock gestempelt, weil es zwei lumpigen Engländern gelungen war, die „Tortuga“ zu entern, mit ihr dann die Silber-Galeone „San Mateo“ zu kapern und auf dieser nach England zu verschwinden.

Damit war de Faleiros Laufbahn als Seeoffizier so ziemlich am Ende gewesen – Grund genug für diesen ehrgeizigen Mann, die Engländer aus tiefster Seele zu hassen und zu verdammen. Er hatte es nie zum Kommandanten einer großen Kriegs-Galeone gebracht, sondern war ins Mittelmeer abgeschoben worden und Galeeren-Capitan geblieben.

De Faleiro wußte nur zu gut, daß der „Arwenack“-Ruf das Kampfgeschrei seiner erklärten Feinde war. Er war wie vom Blitz getroffen, als er ihn vernahm. In starrer Haltung stand er da und setzte das Spektiv nicht mehr ab.

„Kaum zu fassen“, murmelte er immer wieder. „Das sind sie, die Bastarde.“

Leider befand sich ein Teil seiner Offiziere gerade an Land, sonst hätte er sofort von der Pier in Damiette ablegen lassen, um die „Mercure“ zu verfolgen. Er wußte nämlich, daß der Franzose nach Brest wollte, hatte dies in der Stadt erfahren, und so konnte er sich leicht ausrechnen, welchen Kurs das Schiff nehmen würde.

Durch die Optik seines Rohres hatte Juan de Faleiro nur zu gut erkennen können, daß ein rothaariger Riese, ein großer Blonder, ein schwarzhaariger Kerl und ein hagerer Mann an Bord der „Mercure“ gegangen waren, zusammen mit den anderen, von denen er annahm, daß sie mit dazugehörten, obwohl er ihre Gesichter bislang noch nicht gesehen hatte, weil sie sich immer ungünstig gedreht hatten. Hin und wieder blendete ihn obendrein die Sonne, so daß er seine Beobachtungen vorerst auf die Personen jener vier Männer beschränken mußte.

Der Rothaarige war Ferris Tucker, die drei anderen hießen Stenmark, Blakky und der Kutscher, soviel war de Faleiro von damals her bekannt. Auf Ferris Tucker war der Spanier dermaßen fixiert – seinetwegen war er ja angeschossen worden –, daß er sich nicht weiter um die beiden Boote kümmerte, die zu einer entlegenen Pier zurücksegelten und dann ebenfalls den Hafen verließen.

Rache, dachte de Faleiro, fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit, aber sie vergehen auch wie im Flug, und einen alten Haß können sie nicht ersticken. Kein Jahrhundert würde die Wunden heilen, die man ihm seinerzeit zugefügt hatte.

So faßte er den Entschluß, die Verfolgung der „Mercure“ aufzunehmen, sobald seine Offiziere wieder an Bord der „San Antonio“ zurückkehrten. Er würde bei diesem Vorhaben eindeutig im Vorteil sein, denn mit seiner Galeasse konnte er rudern und segeln und war schneller als die Dreimast-Galeone. Schlief der Wind ein, so leisteten die Ruder weiterhin Vortrieb, die Galeasse war also windunabhängig.

An vierzig Riemen, zwanzig auf jeder Schiffsseite, arbeiteten auf der „San Antonio“ hundertsechzig Gefangene, also pro Riemen vier Mann. Armiert war sie leidlich, auf dem Vorkastell befanden sich zwei 24-Pfünder. Allerdings konnten diese nur voraus im Jagdschuß feuern, wanderte das Ziel aus, mußte das Schiff nachdrehen. Auf der achteren Plattform standen auf jeder Seite je drei Relingsbüchsen, auf den Laufplanken außerhalb der Duchten auf beiden Seiten je vier Drehbassen. An Bord waren zwanzig Seeleute zur Bedienung der beiden Lateinersegel, für Ankermanöver und alle anderen erforderlichen Arbeiten, ferner fünfzig Seesoldaten für den Enterkampf und für die Bedienung der Stücke.

Somit, dachte de Faleiro mit einem befriedigten Blick auf sein Schiff, sind wir für ein Gefecht ausreichend gerüstet. Wir werden es diesen elenden Hurensöhnen schon zeigen. Diesmal bin ich der Sieger.

Davon war er schon jetzt fest überzeugt.

Am 29. Mai, als die Seewölfe mit ihren beiden Jollen Damiette erreicht hatten, spielte sich auf der Marsplattform der gesunkenen „Zeland“ der letzte Akt in dem Drama der Schiffbrüchigen ab.

 

Reuter und Pravemann hockten hungrigen Wölfen gleich nebeneinander auf ihren Plätzen, die sie seit Stunden nicht mehr verlassen hatten. Sie kauerten einfach nur da und rührten sich nicht. Jack Finnegan und Paddy Rogers versuchten immer wieder, eine Unterhaltung zu beginnen, doch selbst untereinander wußten sie nicht mehr, was sie sich sagen sollten.

Über Jan Martens Tod war seit der letzten Nacht kein Wort mehr gefallen, Piet Reuter hatte aufgehört, Finnegan deswegen als Mörder zu beschimpfen. Finnegan war jedoch weit davon entfernt, zu glauben, daß dies ein gutes Zeichen sei. Es war lediglich die Ruhe vor dem Sturm, der unweigerlich über sie hereinbrechen mußte.

Lähmendes Schweigen lastete drückend auf dem Mars. Die Haie umkreisten weiterhin den Großmast und die Marsplattform, in der beharrlichen Hoffnung, daß es bald Beute für sie geben würde.

Piet Reuter war es schließlich, der das lange anhaltende Schweigen brach.

„Her mit dem Wasser“, sagte er rauh und wies auf die Holzpütz, in der ein jämmerlicher Rest von dem aufgefangenen Naß stand. „Jetzt sind wir wieder dran.“

Finnegan schüttelte den Kopf. „Irrtum. Ihr habt zweimal eure Ration gehabt.“

„Und ihr sauft, soviel ihr wollt, wenn wir schlafen.“

„Das ist nicht wahr.“

„Das ist doch wahr“, sagte der Holländer mit dem Starrsinn eines Kindes. „Du weißt es, Finnegan.“

„Ich weiß nur, daß wir vernünftig bleiben sollten.“

„Vernünftig?“ Dirk Pravemann lachte heiser. „Fängst du wieder mit deinen schlauen Sprüchen an?“

„Her mit dem Wasser“, sagte Reuter, und diesmal klang es drängend. „Ich habe Durst, Mann. Gewaltigen Durst.“

„Ich auch“, flüsterte Pravemann gierig.

„Aufpassen, Paddy“, zischte Finnegan seinem Freund zu. Sie standen beide auf und nahmen eine abwehrende Haltung ein. Finnegan schob den Wasserkübel wieder ein wenig näher zum Rand der Plattform.

Reuter und Pravemann waren nun auch auf den Beinen und schoben sich langsam heran. Der Bootshaken, dachte Reuter, es ist schade, daß wir ihn nicht doch ergattert haben, aber Marten, dieser Idiot, mußte ihn ja von den Haien zerbeißen lassen. Ist nicht schade um den Kerl, der Teufel soll ihn holen.

Wasser, dachte Pravemann, mein Gott, die Zunge liegt mir wie ein Klumpen im Mund. Habe ich überhaupt noch eine Zunge? Sind mir die Zähne ausgefallen? Himmel, ich lalle beim Sprechen! Was ist los?

„Ihr begeht einen schweren Fehler“, warnte Finnegan die Holländer noch einmal. „Ihr könnt die Pütz nicht erkämpfen. Ihr kriegt sie nicht.“

„Rück sie freiwillig raus!“ schrie Reuter, und plötzlich lief er im Gesicht blutrot an.

Finnegan begriff, daß alles Reden keinen Sinn mehr hatte. Selbst auf einen Kompromiß hätten sich Reuter und Pravemann in ihrem jetzigen Zustand nicht mehr eingelassen. Der dünne Faden, der ihre fünf Sinne bis zuletzt noch zusammengehalten hatte, war offenbar gerissen. Sie waren nicht mehr Herr ihres Tuns, der Wahnsinn hatte ihren Geist verblendet.

Achteinhalb Tage hatten genügt, sie um ihren Verstand zu bringen, die Gewalt regierte die Stunde.

Reuter stieß mit einemmal einen gurgelnden Laut aus und stürzte sich auf Finnegan. Finnegan duckte sich, blockte den Hieb ab, der seine Brust treffen sollte, konterte und warf den Kerl zurück bis an den Mast.

Rogers wollte mit eingreifen, mußte sich jedoch auf Pravemann konzentrieren, der ihn in diesem Moment mit ungeahnter Schnelligkeit angriff. Sofort versuchte Pravemann, Rogers empfindlich zu treffen, und riß seinen Fuß hoch.

Es war eine gemeine, niederträchtige Art der Attacke, doch genau dies und nichts anderes hatte Rogers von dem Kerl erwartet, und aus diesem Grund war er in gewisser Weise sogar vorbereitet.

Er packte Pravemanns Bein, ehe der Fuß seine Lenden traf, und drehte ihn kurz, aber ruckartig, nach links. Der Holländer schrie gellend auf. Rogers ließ ihn los, Pravemann stürzte, Rogers warf sich auf ihn, und im nächsten Augenblick wälzten und balgten sie sich auf dem Boden der Plattform.

Reuter unternahm derweil seinen nächsten Ausfall gegen Jack Finnegan.

Er duckte sich, tauchte unter den Armen des Gegners durch, sprang vor und trachtete, den Engländer vom Mars zu befördern. Finnegan war jedoch auf der Hut und wich aus. Reuter fiel auf den Bauch, rutschte ein Stück und glitt um ein Haar über den Rand der Plattform.

Er hielt sich verzweifelt fest. Unter sich sah er die Dreiecksflossen der Haie, und plötzlich hatte er sein grausiges Ende deutlich vor Augen. Dann aber richtete er seinen Blick nach links und entdeckte die Pütz in seiner unmittelbaren Nähe.

Er gab einen undefinierbaren Laut von sich, halb Lallen, halb Grunzen, dann packte er die Pütz und versuchte, sie an seinen Mund zu bringen.

Jack Finnegan war schneller. Er trat mit dem linken Fuß zu und traf Reuters Hand. Reuter heulte auf, ließ los – die Pütz segelte über den Rand der Marsplattform und senkte sich in einem Bogen auf die Wasserfläche. Klatschend tauchte sie ein und versank für alle Zeiten. Nur die Haie, die sich für kurze Zeit in der falschen Annahme, dies sei eine Beute, um sie herum versammelten, kündeten noch davon, daß es sie überhaupt gegeben hatte.

Reuter klammerte sich an Finnegans Bein fest.

„Du Satan!“ schrie er. „Du willst uns alle umbringen! Nicht nur Marten hast du abgemurkst – du willst auch uns weghaben, Dirk und mich und dann auch deinen Bastard von einem Freund!“

Finnegan wollte sich losreißen, doch Reuter biß ihm ins Bein. Seine Augen weiteten sich und glänzten irre, er war zu allem fähig.

Finnegan unterdrückte einen Schmerzenslaut. Er holte mit der Faust aus, schlug zu, traf Reuters Schläfe und konnte sich jetzt, da der Mann stöhnend zurücksank, aus dem Griff befreien.

Paddy Rogers rang immer noch mit Pravemann, denn dieser entwikkelte in seinem Zustand unglaubliche Kräfte. Zuletzt lagen sie hart am Rand der Plattform. Pravemann war jetzt unter dem schweren Mann, doch es gelang ihm, das Knie hochzureißen. So traf er Rogers in den Unterleib. Rogers stöhnte auf und ließ den Gegner los. Dirk Pravemann kroch unter ihm weg.

Aber er hatte die falsche Richtung genommen, robbte ins Leere und hatte plötzlich keinen Halt mehr. Er stieß einen Fluch aus, krallte sich noch mit seinen dürren Händen fest, rutschte aber ab, dann stürzte er mit einem Schrei, der dem eines Menschen schon nicht mehr ähnlich war, ins Wasser.

Reuter griff Finnegan noch einmal an, um ihn ins Wasser zu stoßen, er tobte und bediente sich der gemeinsten, lästerlichsten Ausdrücke, um den Engländer zu beleidigen. Jack Finnegan packte mit beiden Händen zu, stemmte Reuter hoch und ließ den Kerl höchst unsanft auf den Planken landen. Eigentlich hätte Reuter jetzt ohnmächtig werden müssen, doch er erwies sich als zäher, als Finnegan angenommen hatte.

Rogers griff nach der Marsverstrebung, um sie Reuter über den Hinterkopf zu ziehen, doch dieser sprang bereits wieder auf und warf sich mit einem Laut, der einer Mischung aus Kreischen und Keuchen ähnelte, auf seinen Gegner.

Noch einmal wich Finnegan aus, um nicht von der Plattform gestoßen zu werden. Piet Reuter raste an ihm vorbei und konnte nicht mehr rechtzeitig genug seinen Lauf stoppen. Er hatte sich verrechnet. Schreiend stolperte er über den Rand, bewegte sich zuckend in der Luft und entzog sich dann ihren Blicken.

Sie hörten das Geräusch, mit dem er ins Wasser klatschte, und vernahmen auch sein Gebrüll. Pravemann schrie nicht mehr. Die Haie wühlten das Wasser auf, das Rauschen drang bis zu den beiden Überlebenden hinauf.

„Sieh nicht hin, Paddy“, sagte Finnegan. „Es ist zu schrecklich.“

„Ja. Aber …“

„Wir können sie nicht mehr retten, unmöglich.“

„Das weiß ich. Ich meine was anderes.“ Rogers kratzte sich am Hinterkopf und suchte nach den richtigen Worten. Du sollst dir diesmal keine Vorwürfe bereiten, verstehst du? Es ist nicht unsere Schuld, daß sie abkratzen. Es hätte sie so oder so erwischt. Wir können nichts dafür. Fast wären wir selbst verreckt.“