Seewölfe Paket 11

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2.

Die Zeit verstrich quälend langsam, und Morgan Young spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren des Körpers trat und Hoffnungslosigkeit von ihm Besitz ergriff.

„Mein Gott, Romero“, flüsterte er. „Jesus, beeil dich, schlag kräftiger zu. Und wenn ich auch ein paar Kratzer dabei abkriege – es macht mir nichts aus.“

„Sei still“, zischte der junge Spanier ihm zu. „Ich bin fast soweit. Santa Madre, sage jetzt nichts.“

„Morgan“, flüsterte in diesem Moment Trench, einer von Youngs englischen Kameraden. „Die Zeit bis zur nächsten Wachablösung ist gleich um.“

„Nein!“

„Dann erscheint der Posten und überprüft unsere Ketten, dann …“

„Halt den Mund!“ unterbrach Young ihn scharf. So laut, daß seine Stimme das Heulen und Tuscheln des Windes fast übertönte.

„Madre de Dios“, flüsterte Romero. „Müßt ihr euch denn ausgerechnet jetzt herumzanken? Seid ihr des Teufels?“

„Ja“, murmelte Young. „Wir sind alle des Teufels. Wir sind Narren, die das kriegen werden, was alle Narren verdient haben: einen Gnadenschuß ins Genick oder sonstwohin.“

Romero hatte den einen Beinschäkel um Morgan Youngs Fußknöchel mit dem Scharfeisen aufgestemmt, so weit, daß der Engländer seinen Fuß jetzt herausziehen konnte. Jetzt arbeitete er an dem Schäkel des anderen, linken Beines, setzte das Auftreibwerkzeug an und schlug immer wieder mit dem kleinen Hammer zu, knapp, gezielt, mit verbissener Miene und aufeinandergepreßten Zähnen. Seine Hände und Arme schmerzten inzwischen heftig, er konnte es kaum noch aushalten.

Dann, als Young kaum noch mit einem Erfolg seiner Anstrengungen rechnete, wisperte der Spanier: „Es geht, Morgan. Versuch es. Es kommt jetzt auf dich ganz allein an.“

Morgan Young zog sofort die Beine an und zerrte sie aus den Beinschäkeln, die von Romero gerade weit genug aufgetrieben worden waren, daß er seine nackten Füße herausnehmen konnte. Von den Fußketten und dem schweren Eisengewicht befreit, vermochte Young nunmehr seinen ganzen Körper zum Pfahl hin zurückzuschieben und das Hinterteil durch die Öffnung seiner Arme zu pressen. Es war eine beinah akrobatische Verrenkung, die starke Schmerzen hervorrief, aber Young unterdrückte einen gequälten Laut, bezwang sich selbst, indem er sich innerlich wild als einen Schwächling und Dreckskerl beschimpfte, und arbeitete mit dem wütenden Eifer eines Besessenen weiter. Dabei kippte er um, weil die Pfahlkette ihn hemmte und ihm im Weg war.

Es gelang ihm aber tatsächlich, die Arme bis unter seine Oberschenkel zu schieben. Jetzt zog er seine Waden an und drückte sie mit den Füßen zusammen so fest unter seine Schenkel, daß er die kurze Kette, die seine Hände zusammenhielt, ganz unter den angewinkelten Beinen hindurchbefördern konnte. Ein Ruck noch – er glaubte, seine eigenen Knochen im Leib knacken zu hören – und er hatte die Arme mitsamt seinen Händen vorn.

Romero lag immer noch auf der Körperflanke, hatte ihn aber über die Schulter hinweg beobachtet. Er schob ihm jetzt den Schlegel und das Scharfeisen zu.

Morgan Young setzte sich auf und angelte sich die beiden Hilfsmittel mit den Füßen. Er zog sie so dicht zu sich heran, daß er sie greifen konnte, dann trieb er in aller Eile ein Glied der Kette auf, die ihn an den Pfahl gefesselt hielt.

Es war, wie er es sich ausgemalt hatte: Mit den Händen vor dem Körper konnte er problemlos arbeiten, obwohl die Handschellen und die kurze Kette ihn noch ein wenig behinderten.

Die Kette am Pfahl sprang unter seinen energischen Hieben auf, er war frei.

„Morgan“, raunte Romero. „Laß jetzt die Handschellen. Du kannst sie später öffnen. Hilf mir.“

„Ja“, sagte der Engländer leise. Auf etwas unsicheren Beinen hastete er zu dem Kameraden hinüber, kniete sich neben ihn hin und erlöste ihn zuerst von dem Kugelgewicht und der Kette an den Beinen. Dann öffnete er auch die Pfahlkette. Dies alles ging viel schneller vonstatten als das, was der junge Spanier zuvor vollbracht hatte, denn Young befand sich ja in einer viel günstigeren Arbeitsposition.

„Ich habe einen Glockenschlag gehört!“ zischte plötzlich einer der Männer. Es war Sullivan, auch einer von Youngs Freunden von der „Balcutha.“

„Das ist die Wachablösung!“ flüsterte Jonny. „Morgan!“

„Ja, ich höre dich, Jonny.“

„Scheiß auf dein Ehrenwort – du kannst mich hinterher befreien!“

„Hinterher?“ stammelte Young verdattert.

„Ihr müßt erst diesen elenden Hundesohn von einem Don überwältigen!“ zischte Jonny ihm im Dunkeln zu. „Beeilt euch! Zum Tor! Er tritt gleich ein, und dann fallt ihr über ihn her!“

„Wir könnten uns auch hinhocken und so tun, als wären wir noch gefesselt“, flüsterte Romero. „Wenn er zu uns tritt, springen wir auf und …“

„Er schießt, bevor ihr auf den Beinen seid!“ schnitt Jonny ihm das Wort ab. „Glaub es mir, ihr müßt ihn am Tor packen! Schlagt ihn mit euren Handketten nieder! Das könnt ihr schaffen!“

Morgan Young hatte seine Fassung wiedererlangt. Er richtete sich auf und lief geduckt los. Romero folgte ihm. Sie gelangten beim Tor an und hatten kaum zu beiden Seiten des einzigen großen, grob zusammengezimmerten Flügels Aufstellung genommen, da wurde von außen der Riegel zurückgeschoben.

Sie hielten den Atem an.

Das Tor schwang spaltbreit auf, eine Gestalt trat ins Innere der Palisade. Nur schemenhaft war sie in der Finsternis zu erkennen, aber doch gerade gut genug, um ein Angriffsziel zu bieten.

Der Soldat zog das Tor hinter sich zu – dann stutzte er. Er hatte Morgan Young entdeckt, der sich von rechts her auf ihn zubewegte. Romero handelte jedoch geistesgegenwärtig. Er sprang den Spanier von hinten an und schlang ihm blitzschnell die Kette um den Hals, die auch seine Hände immer noch zusammengebunden hielt.

Der Spanier taumelte, drohte in den Knien einzuknicken und zusammenzubrechen und gab einen röchelnden Laut des Entsetzens von sich. Er hielt aber seine Muskete noch fest in beiden Händen und trachtete in diesem Augenblick, den Abzug zu betätigen.

Morgan Young griff ebenfalls an und stellte fest, daß der Hahn der Muskete bereits gespannt war. Sofort packte er zu und versuchte, dem Gegner die Waffe zu entreißen, während Romero die Kette fest um die Gurgel des Mannes zusammenzog.

Der Wachtposten konnte nicht mehr schreien, nur ein ersticktes Gurgeln drang noch über seine Lippen. Doch trotz Youngs verzweifelter Bemühungen, ihm die Muskete zu entwinden, konnte er seinen Zeigefinger doch noch um den Abzug krümmen.

Dröhnend löste sich der Schuß, überlaut in der dramatischen Szene des Ringes um Leben und Tod. Pulverqualm hüllte die Gestalten der drei Männer ein. Romero begann zu husten.

Young riß die Muskete noch an sich, jetzt, da es zu spät war. Der Soldat sank zu Boden. Romero ließ von der schlaffen, jetzt reglosen Gestalt ab, bückte sich und brachte die Pistole in seinen Besitz, die der Soldat im Gurt trug.

Young warf die Muskete fort, bemächtigte sich des Säbels und des Messers des Spaniers und wollte zu den Kameraden zurückeilen, die darauf warteten, befreit zu werden. Doch vor den Palisaden ertönten das Rufen von Stimmen und das Herantrappeln eiliger Schritte.

„Wir können die anderen nicht mitnehmen!“ stieß Romero in höchster Erregung aus. „Wir können sie nicht befreien, wir …“

„Morgan! Romero!“ rief Jonny ihnen zu. „Haut ab! Haltet euch nicht auf und rettet wenigstens eure Haut! Von draußen könnt ihr später immer noch was für uns tun! Los, verschwindet!“

Young und der junge Spanier zögerten nicht länger, sie drückten das Tor wieder auf und liefen ins Freie.

Dicht vor ihnen war das Geschrei der spanischen Posten, aus der Finsternis wurden Gestalten sichtbar. Young riß den Säbel hoch, um sie abzuwehren, aber Romero hatte bereits die Pistole in Anschlag auf die anstürmenden Männer gebracht und drückte auf den vordersten von ihnen ab.

Der Soldat brach mit einem Wehlaut zusammen. Die anderen stutzten, legten selbst mit ihren Musketen und Pistolen an und zielten auf die beiden Sträflinge, deren Körperkonturen sie vor der Palisade erkennen konnten.

Morgan Young rannte nach links davon, Romero folgte ihm.

Drei Musketenschüsse krachten, und Young war es so, als schlüge eine Kugel dicht hinter seinen Hacken in den Erdboden. Doch er wurde nicht verletzt, und auch Romero blieb unversehrt. Zu hastig gezielt waren die Schüsse der Soldaten, die alle fehlgingen, zu schlecht waren die Sichtverhältnisse.

Es krachte noch zwei- und dreimal, und die Kugeln bohrten sich mit plokkenden Lauten in die Pfähle der Palisadenwand, an der die beiden Flüchtlinge wie von tausend Teufeln gehetzt vorbeirannten.

„Zum Hafen!“ rief Romero seinem Begleiter auf englisch zu.

„Unmöglich!“ schrie Morgan Young über seine rechte Schulter zurück. „Sie sperren uns den Weg dorthin ab. Sie knallen uns ab, ehe wir eins der Boote erreichen!“

Er lief weiter, so schnell er konnte, quer über die Lichtung hinweg, die die Kettensträflinge hier in Airdikit dem Dschungel abgerungen hatten. Er hastete zwischen den Hütten hindurch, die das Gros der Offiziere und Soldaten beherbergten, blieb nicht stehen, warf nur noch einmal einen Blick zurück und registrierte, daß der junge Spanier ihm weiterhin folgte.

Tatsächlich wäre es heller Wahnsinn gewesen, den Durchbruch bis zum Hafen zu versuchen. Das erste, was die Spanier auf den alarmierenden Musketenschuß hin getan hatten, war, den Zugang zum Hafen abzuriegeln, denn sie konnten sich ja ausmalen, daß im Fall eines Ausbruchs die Sträflinge eine der Pinassen oder Schaluppen zu kapern versuchten, die an den hölzernen Anlegern vertäut lagen.

 

So blieb Young und Romero nur noch eine Möglichkeit, nämlich in den Busch zu fliehen.

Young fürchtete bei allem Schneid, den er zu beweisen vermochte, den Dschungel. Das hatte er auch seinen Freunden von der „Balcutha“, Romero, Jonny und den anderen Verschwörern gegenüber offen zugegeben. Denn Morgan Young wußte, welche Gefahren im Urwald von Sumatra lauerten, und jeder andere Mann, der ehrlich seine Meinung aussprach, mußte bestätigen, daß es nahezu Selbstmord bedeutete, hier in der Nacht unterzutauchen.

Hier, im Feuchtigkeit ausströmenden Dickicht, lauerten der Tiger und andere Raubkatzen, hier konnte ein Schlangenbiß dem menschlichen Leben ein jähes, schmerzhaftes Ende bereiten. Hier gab es Krokodile und andere grauenvolle Kreaturen. Und die Mangrovensümpfe zwischen der Strafkolonie und dem Meer, die sich bis in unendliche Weiten auszudehnen schienen, waren die Brutstätte für eine Anzahl abscheulicher Krankheiten, gegen die der Mensch machtlos war, wenn er einmal von ihnen befallen wurde.

Aber Young und Romero hatten keine andere Wahl. Wenn sie den Soldaten entkommen wollten, die jetzt ihre Verfolgung aufgenommen hatten, konnte dies nur im Dschungel geschehen.

Ohne zu zögern, sprang Young deshalb in das Dickicht jenseits der Hütten, durchtrennte mit raschen Säbelhieben ein paar Lianen und widerspenstiges Dornengerank und drang tief in das Gestrüpp vor. Romero schloß sich ihm ohne Widerworte an. Auch er hatte begriffen, daß im Urwald die einzige Chance lag, sich den Feinden zu entziehen.

Wenn das halbwegs mißglückte Unternehmen doch noch gelingen sollte, dann konnte es nur auf diese Weise geschehen.

Young drehte sich kurz zu seinem Begleiter um und gab ihm das Messer des Soldaten. Er selbst fuhr fort, sich mit dem Säbel einen Weg durch das dichte, verfilzte Gesträuch zu bahnen, und Romero unterstützte ihn dabei, so gut es mit dem Messer ging. Sie sprachen nicht miteinander, sondern hackten und schnitten mit ihren Beutewaffen nur schwitzend auf Zweige, Blätter und Luftwurzeln ein.

Über ihnen rumorte der stürmische Wind in den Wipfeln der gigantischen Bäume, hinter ihnen war das wütende Geschrei der Verfolger. Natürlich hatten die spanischen Soldaten gesehen, wie die beiden im Dikkicht verschwunden waren. Sie waren ihnen nah genug auf den Fersen, verließen ebenfalls die Lichtung und benutzten den Pfad, den Morgan Young mit dem Säbel geschaffen hatte.

Es war mehr eine Bresche als ein Pfad, aber sie erlaubte doch ein erheblich schnelleres Vorankommen. Daß er den Gegnern ungewollt geholfen hatte, ging Morgan Young erst auf, als er ihre Stimmen ganz dicht hinter seinem Rücken vernahm.

Er verstand inzwischen genug Spanisch, um zu begreifen, was sie riefen.

„Bleibt stehen, oder wir schießen euch nieder!“

„Ergebt euch!“

„Ihr seid verloren!“

Young achtete nicht darauf. Nichts konnte ihn dazu veranlassen, sich den Feinden freiwillig zu stellen. Nur der Tod konnte seiner Flucht ein Ende bereiten. Wenn der eisige Hauch des Todes ihnen beiden schon im Nacken saß, so zog er das schnelle Sterben doch einer Rückkehr ins Gefangenenlager vor. Dort würde man ohnehin Gericht über sie halten, dort wartete am Ende der Henker auf sie, denn sie waren ja nicht nur aus dem Palisadenlager ausgebrochen, sondern hatten auch einen Soldaten getötet. Daß Romero ihn mit der Kette erwürgt hatte, stand für Young außer Zweifel.

Wieder krachten Schüsse. Sirrten die Kugeln links und rechts an Young und dem jungen Spanier vorbei – oder täuschten sie sich? War es vielmehr der Wind, der ihnen mit seinem Pfeifen und Heulen etwas vorgaukelte?

Young hörte auf, mit dem Säbel wie mit einer Machete auf das Dikkicht einzuhauen. Er ließ die Waffe sinken, duckte sich tiefer und schlüpfte in ein dorniges, hartes Gebüsch, das auf morastigem Boden wuchs.

Romero war immer noch dicht hinter ihm.

Das Gebüsch ritzte mit seinen Dornen Youngs Haut, und er drohte, darin steckenzubleiben. Verbissen arbeitete er sich jedoch weiter voran und ließ sich sogar auf alle viere nieder, um besser voranzukommen. Er schob den Säbel vor sich her und robbte durch den schwarzen Schlamm, der ihn von oben bis unten beschmutzte.

Plötzlich krachte wieder ein Schuß, und er hörte Romero hinter sich aufschreien.

Er stieß einen Fluch aus und wandte den Kopf. Hinter sich konnte er den jungen Mann gerade noch zusammenbrechen sehen, dann schien Romeros Gestalt eins zu werden mit dem Dickicht und dem Morast.

Romero bewegte sich nicht mehr.

Morgan Young wollte zu ihm zurückkriechen, aber wieder blitzte es in der Dunkelheit auf, und eine Kugel schwirrte heran. Der Engländer ließ sich in den Schlamm fallen. Das Geschoß flog über seinen Rücken weg.

Im Mündungsfeuer der Muskete hatte er Romero genau erkennen können. Der Zufall hatte gewollt, daß er auch gleich das Loch gesehen hatte, das in dem Schädel des Jungen klaffte.

Romero war tot.

Und jetzt nahten die Verfolger – ein Trupp, der gut vierzehn, fünfzehn Mann zählen mochte. Sie drangen in das Dornengestrüpp ein, um auch Youngs Flucht ein Ende zu setzen.

Wieder blaffte ein Schuß.

3.

Auf der „Isabella“ waren sämtliche Luken und Niedergänge verschalkt und auch die Manntaue ordnungsgemäß gespannt. Ed Carberry schloß seinen Kontrollgang über die heftig schwankenden Decks mit einem Brummeln ab, das wohl so etwas wie Anerkennung ausdrücken sollte. Immerhin hatten die Männer schnell und gut gearbeitet, das mußte man ihnen lassen. Jeder Handgriff hatte da gesessen, und so sehr der Profos auch herumwetterte, er mußte doch wieder einmal gestehen, daß es eine hervorragende, prächtig aufeinander eingespielte Crew war, die die „Isabella“ voranbrachte und manövrierte.

Schweren Schrittes erklomm Carberry jetzt das Achterdeck und erstattete seinem Kapitän Meldung, wie die Borddisziplin es verlangte.

„Gut, Ed“, sagte der Seewolf. „Wir sind also für den Ernstfall gerüstet. Im Augenblick sieht es zwar noch nicht so aus, als würden wir den Sturm voll zu spüren kriegen, aber du weißt ja, wie das in den Tropen ist. Das Wetter kann unversehens, von einem Moment auf den anderen, über uns hereinbrechen.“

„Ja, Sir.“ Carberry dachte an den Taifun, den sie vor Jahren südlich von Formosa erlebt hatten, und konnte sich eines leichten Schauders auf seinem Rücken nicht erwehren. Ärgerlich schüttelte er das „dämliche Kribbeln“ aber wieder ab und fragte: „Kann ich die Freiwache jetzt zum verspäteten Backen und Banken im Logis anrücken lassen?“

„Ja.“

„Danke, Sir.“

„Du solltest selbst auch einen Happen zu dir nehmen, Ed“, sagte Hasard. „Ben wird dich solange ablösen. Du kannst dir ruhig Zeit lassen, denn ich möchte, daß du nachher bei der Mittelwache voll bei Kräften bist.“

„Da kannst du ganz beruhigt sein, Sir“, versicherte ihm der Profos, der es selbst beantragt hatte, die Mittelwache mit übernehmen zu können, die im Anschluß an die erste Nachtwache von Mitternacht bis vier Uhr morgens dauerte. Eine doppelte Wache abzureißen, das war für Carberry auch dann keine Strafe, wenn sie den Sturm wirklich noch abwettern mußten – im Gegenteil. Lieber war er gleich von Anfang an dabei, als daß er sich mitten im schönsten Schlaf aus der Koje scheuchen ließ. Verantwortungsgefühl und Disziplingeist gingen ihm eben über alles, wie sich das für ein Profos gehörte, auch wenn die Arbeiten an Deck und die Segelmanöver ohne sein Gebrüll ebenso sauber und ordentlich ausgeführt wurden.

Hasard las in den Zügen seines Profos’ und lächelte.

„Ed“, sagte er. „Der Kutscher soll eine Extraration Rum austeilen und sie von mir aus mit heißem Wasser verdünnen – damit euch das Essen leichter ’runterrutscht.“

Carberry grinste, daß einen das kalte Grausen packen konnte, zeigte klar und rief: „Aye, Sir, schönen Dank, ich werde das sofort weitermelden!“

Damit stieg er wieder auf die Kuhl zurück und hangelte in den Manntauen zum Vordeck. Ständig um sein Gleichgewicht bemüht, erreichte er das Schott, riß es auf und verschwand im Niedergang. Er rammte das Schott hinter sich zu und paßte auf, daß die Verschalkung sich nicht löste.

Dann suchte er das Logis auf und blieb im Eingang stehen.

Es war stockfinster in dem Mannschaftsraum. So sehr Carberry auch die Augen zusammenkniff und Ausschau hielt – er konnte niemanden erkennen.

„Nun?“ fragte er deshalb barsch. „Seid ihr alle da, ihr Helden?“

„Aye, Sir“, antwortete ihm Smoky, der Deckälteste. „Batuti, Gary Andrews, Bob Grey, Sam Roskill, Stenmark, Luke Morgan, die Zwillinge und der Kutscher – die Freiwache ist vollzählig versammelt.“

„Sollen wir wieder ’raus und mit anpacken, Mister Carberry?“ fragte Philip junior, einer von Hasards beiden Söhnen.

„Luke halten“, sagte der Profos. „Dich hat keiner gefragt, und du hast nur zu reden, wenn du was gefragt wirst, du Hering.“

„Jawohl, Sir.“

„Kutscher!“ rief Carberry. „Was drückst du dich in deiner Koje herum? Sollen diese Himmelhunde Kohldampf schieben, während die Deckswache pünktlich ihren Fraß gekriegt hat?“

„Melde, daß ich nicht in meiner Koje liege, sondern auf entsprechende Anweisungen warte, Sir“, entgegnete der Kutscher – und die anderen konnten sich ihr Lachen kaum verkneifen.

„Dann schieb ab in die Kombüse und roll mit deinen Essenskübeln an, Mensch!“

„Zu Befehl, aber es wird kalt serviert, weil ich bei diesem Seegang die Feuer unter den Kesseln nicht anheizen kann.“

„Versteht sich“, sagte Carberry und schob dabei grimmig sein Rammkinn vor. Er hielt sich am Türrahmen fest, um nicht aus der Balance zu geraten. „Aber ich habe eine zusätzliche Order von Hasard erhalten, und die lautet: Besanschot an, damit wir deinen saukalten Brei auch ’runterwürgen können!“

„Besanschot an“, wiederholte der Kutscher. „Eine Extraration Rum für die Freiwache?“

„Mit heißem Wasser verdünnt!“ rief der Profos.

„Aye, Sir!“

„Und daß mir auch die Deckswache ihre Ration Schnaps kriegt!“

„Aye, Sir, sofort!“

„Das ist keine Belohnung, bildet euch bloß nichts darauf ein, ihr Satansbraten!“ brüllte der Narbenmann. „Mit irgendwas muß man deinen Labskaus ja wegspülen, Kutscher, sonst kleistert er uns die Kehlen zu!“

„Jawohl – bin schon unterwegs“, sagte der Kutscher, und damit löste er sich von seinem Halt, stolperte quer durchs Logis und stieß prompt mit dem Profos zusammen.

Carberry fluchte, daß es durch die Vordecksgänge bis in die Frachträume hinunterschallte, torkelte rückwärts, ruderte mit den Armen und prallte mit dem Rücken gegen die Gangwand, die dem Eingang des Logis’ gegenüberlag. Hier verlor er endgültig das Gleichgewicht und rutschte zu Boden. Mit einem dumpfen Laut setzte er sich auf die Planken.

Der Kutscher stieg über seine Beine und entzog sich Carberrys zornigen Hieben und Tritten, ehe es zu spät war.

„Kutscher, du verlauster Heringsbändiger!“ brüllte der Profos ihm nach. „Warte, wenn ich dich zu fassen kriege! Ich zieh dir die Haut in Streifen ab!“

Er wollte noch einen ganzen Schwall seiner schönsten Verwünschungen anhängen, unterbrach sich aber, weil ihm jetzt etwas mitten ins Gesicht flatterte. Das raschelte und schnatterte, wirbelte und kratzte, und er mußte sich mit den Händen schützen, bis es sich schließlich friedlich auf seiner Schulter niederließ.

Etwas zwackte den Profos liebevoll ins rechte Ohrläppchen, und eine heisere Stimme sagte: „Backbrassen, wir laufen auf Grund. Backbrassen, backbrassen, ihr Stinkstiefel.“ Das war Sir John, der karmesinrote Aracanga, wie er leibte und lebte.

Carberry wollte sich den Papagei von der Schulter nehmen, aber der Vogel entzog sich seinem Zugriff und flog ins Logis zurück, wo er vorher bei Philip junior und Hasard junior, den Zwillingen, gesessen hatte.

„Sir John“, sagte Carberry nur mühsam beherrscht. „Eines Tages rupfe ich dich, du Nebelkrähe, und dann landest du beim Kutscher im Kochtopf, zusammen mit diesem krummbeinigen Kombüsenhengst, dem ich anständig den Hintern versengen werde.“

Er erhob sich, stapfte ins Logis zurück und ließ eine Warnung an die Männer und die beiden Jungen los, die sich den Mund zuhalten mußten, um nicht laut loszuprusten.

„Wer jetzt lacht, der wandert ab in die Vorpiek“, sagte er.

Diese Drohung war durchaus ernstzunehmen, und daher zwangen sich die Männer zu eisernem Schweigen. Philip und Hasard grinsten zwar, aber das konnte der Profos in der Finsternis nicht sehen.

 

Nur das Rauschen des Seewassers an den Bordwänden, das Heulen des Windes und das Knarren der Planken und Verbände war zu vernehmen. Der Profos ließ sich an einem der schmalen Tische nieder. Für ihn war der Fall vorläufig erledigt.

Aber wenn der Hund von einem Kutscher mir noch mal gegen den Vorsteven rauscht, dann kriegt er seinen ganzen Kübel mit dem kalten Labskaus über den Kopf gestülpt, dachte der Narbenmann ergrimmt.

Morgan Young hatte gedankenschnell gehandelt. Als der Musketenschuß gefallen war und es erneut im Dickicht aufgeblitzt hatte, hatte er sich zur rechten Seite gerollt. Der Morast schmatzte unter seiner raschen Bewegung, und ein paar Spritzer von dem schwarzen Schlamm kriegte der Engländer direkt ins Gesicht. Er geriet erneut mit dem Dornengerank in Konflikt und zog sich weitere Schrammen an Armen und Beinen und auf dem Oberkörper zu, aber er rettete sich das Leben, denn die Kugel ging haarscharf links an ihm vorbei.

In seinem ersten Entsetzen über Romeros Tod und in seinem grenzenlosen Haß gegen die Soldaten hatte er aufspringen und mit dem Säbel in der Faust auf sie zustürzen wollen, um so viele wie möglich niederzusensen und dann selbst zu sterben.

Sie hatten Romero in den Kopf geschossen, ehe dieser es geschafft hatte, richtig in dem dornigen Gestrüpp unterzukriechen. Sie hatten Justiz an ihm geübt, aber es war die Justiz des Wahnwitzes, denn der junge Mann war in Youngs Augen ein gutherziger, aufrechter Bursche gewesen.

Daß er den spanischen Wachtposten mit der Kette erwürgt hatte, stand für den Engländer auf einem anderen Blatt.

Aber so glühend der Haß und der Wunsch nach Rache auch waren, in Morgan überwog in diesem Augenblick doch der Selbsterhaltungstrieb. Er warf sich herum, kroch in der Richtung weiter, die er vorher schon eingeschlagen hatte, und entfernte sich von seinen Gegnern.

Sie schossen wieder auf ihn, aber da sie seine Gestalt nicht einmal mehr als schattenhaftes Etwas erkennen konnten, feuerten sie aufs Geratewohl in den Dschungel. Young hörte die Kugeln hinter sich in den Morast schlagen und links und rechts neben sich durch das Dickicht sirren, um mehrere Fuß Distanz von ihm entfernt. Dennoch hatte er mächtiges Glück, daß er nicht von einem Zufallstreffer erwischt wurde.

Er kämpfte sich durch den Morast und durch brackige Tümpel, schob den Säbel mehr wie einen Fremdkörper oder einen nutzlosen Ballast vor sich her und setzte ihn nicht mehr als Buschmesser ein, weil er Angst davor hatte, von seinen Verfolgern gehört zu werden, und er ihnen den Weg durch die grüne Hölle nicht ebnen wollte.

Er war über und über beschmutzt und durchnäßt und begann, sich vor sich selbst zu ekeln. Er dachte an die Tiere des Urwaldes, die ihn vielleicht schon jetzt aus ihren Schlupfwinkeln heraus beobachteten, um ihn zu verfolgen und später über ihn herzufallen, und allein die Vorstellung bereitete ihm Furcht.

Aber er hörte, wie sich die Stimmen der Spanier hinter ihm im Gesträuch verloren. Es wurde jetzt nicht mehr geschossen. Sie hatten ihn endgültig aus den Augen verloren, waren ratlos und schienen stehengeblieben zu sein.

Seine Taktik, sich nur noch kriechend durch das Dickicht voranzubewegen, hatte sich als richtig erwiesen. Er hatte ihnen ein Schnippchen geschlagen und war schlauer gewesen als sie! Diese Erkenntnis verlieh ihm einen gewissen inneren Auftrieb.

Er grinste gequält. Es ging also doch. Man konnte ihnen entwischen, wenn man nur wollte. Sie kannten sich im Dschungel, den sie gewöhnlich mieden, nicht besser aus als er. Es gab keine Pfade, der Busch war ein einziger Irrgarten, in dem man sich tage-, wochen-, monatelang vor ihnen verstecken konnte. Man mochte ihn als die Hölle schlechthin, andererseits aber auch als Verbündeten ansehen, wenn man sich auf der Flucht befand. Young fing an, sich an dieser Vorstellung festzuklammern und sich mehr und mehr selbst davon zu überzeugen, daß erst der Urwald die Entscheidung herbeigeführt hatte: die Rettung vor dem schwerbewaffneten Feind.

Um Romero tat es ihm leid, aber er sagte sich auch, daß er um den jungen Mann nicht trauern durfte. Sein Tod hatte schließlich einen Sinn gehabt. Er, Morgan Young, würde sich durchschlagen und irgendwann Helfer finden, mit denen zusammen er auch Trench, Josh Bonart, Sullivan, Christians und all die anderen aus der Strafkolonie herausholen konnte.

Die Soldaten würden Romeros Leichnam jetzt aufheben und ins Lager zurückschleppen, wo sie ihn hinwarfen und voll Genugtuung ihrem Kommandanten zeigten. Aber für Don Felix Maria Samaniego und die Lageroffiziere mußte es ein harter Schlag sein, daß zwei Sträflinge die Flucht gewagt hatten – und daß einer von ihnen, ausgerechnet einer der „verdammten englischen Bastarde“, nun spurlos verschwunden war. Das störte sein Image und kratzte an seinem Selbstbewußtsein. Airdikit war kein ausbruchssicheres Lager mehr. Die Dinge waren ins Wanken geraten. Die Spanier würden die Wachen verschärfen, aber vielleicht gab es bald neue Fluchtversuche.

Young schob sich schwer atmend weiter voran. Die Ketten an seinen Armen behinderten ihn, und auch der Säbel wurde ihm zur Last, aber er schwor sich, die Waffe nicht zurückzulassen. Aus zwei Gründen nicht: erstens konnten die Spanier sie im Busch finden, und dann hatten sie wieder eine Spur, die sie weiterverfolgen konnten. Zweitens brauchte er den Säbel, um sich notfalls gegen Raubtiere und giftige Schlangen zur Wehr zu setzen.

Er bedauerte, den Schlegel und das Scharfeisen in der Palisade zurückgelassen zu haben. Damit hätte er jetzt seine Handschellen öffnen können. Aber er hatte eben den Fehler begangen, das Werkzeug einfach fallenzulassen, als sich der Wachtposten dem Tor des Palisadenlagers genähert hatte.

Er hoffte, daß einer seiner Mitgefangenen es fertiggebracht hatte, die Geräte in seinen Besitz zu bringen. Aber er glaubte nicht recht daran. Wenn einer von ihnen es geschafft hatte, würden die Soldaten sie doch alle durchsuchen und auf die Hilfsmittel stoßen, die die Flucht ermöglicht hatten.

Morgan Young konnte sich vom Boden erheben und in aufrechter Haltung seinen Weg fortsetzen. Er teilte das Dickicht, das jetzt mehr aus Mangroven und anderen Gewächsen mit schweren ledrigen Blättern als aus Dornensträuchern bestand, mit seinen zerkratzten Händen und wankte keuchend voran.

Er hatte die Orientierung verloren, stellte aber fest, aus welcher Richtung der Wind wehte und taumelte ihm bald, nachdem er einen großen Bogen geschlagen hatte, entgegen.

Der Wind war auflandig, soviel wußte er ja, er mußte also aus südlicher Richtung wehen. Auf dem Weg, den Young sich jetzt mühsam durch den Busch bahnte, mußte er also unweigerlich zur Küste gelangen.

Dort wollte er versuchen, ein einfaches Foß zu bauen, mit dem er zu einer der Inseln übersetzen konnte. Von der Existenz der Inseln wußte er, weil man sie ihm auf der „Balcutha“, auf der er als Decksmann gefahren war, beschrieben hatte.

Erst auf einem dieser einsamen Eilande würde er vollends vor den Spaniern sicher sein, soviel vermochte er sich auszumalen. Er gab sich keinen Illusionen hin. Sie würden weiterhin nach ihm forschen, wahrscheinlich die ganze Nacht über.

Blieb er auf Sumatra, wurde eine gnadenlose Jagd daraus.