Seewölfe Paket 11

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Ed Carberry drehte den Kopf zur anderen Seite. Ja, das Beiboot der „Isabella“ lag noch dort am Strand, wo sie es zurückgelassen hatten. Die Indonesier konnten damit offenbar nicht viel anfangen.

Das Auslegerboot wurde abgestoßen, und die sechs Männer tauchten die Paddel ein. Mit rasch zunehmender Fahrt glitt der schlanke Bootskörper durch den mäßigen Wellengang. Unmittelbar unter seinem Kopf hörte Ed Carberry das rhythmische Klatschen der Wellen gegen den Rumpf.

Erneut stimmte der Brahmane ein monotones Gemurmel an. Dabei sprengte er mit weit ausholenden Handbewegungen sein heiliges Wasser nach links und rechts in die Fluten.

Dieses Gemurmel zerrte an Ed Carberrys Nerven. Er hatte die unbestimmte Ahnung, daß der Moment, in dem es endete, auch sein eigenes Ende bedeutete.

Urplötzlich empfand der Profos unendliche Einsamkeit. Eine Einsamkeit, wie er sie noch nie gespürt hatte. Angst kroch in dem bärenstarken Mann hoch, und er haßte sich für dieses Gefühl. Doch dann sagte er sich, daß es wohl keinen Menschen gab, der angesichts eines solchen Todes keine Angst verspürte.

Eine Ewigkeit schien verstrichen zu sein, obwohl das Boot erst vor wenigen Sekunden abgelegt hatte. Ed Carberry verlor jegliches Zeitgefühl. Das Murmeln des Brahmanen trug dazu bei, ebenso das gleichmäßige Klatschen beim Eintauchen der Paddel.

Der Profos gab sich einen inneren Ruck und zwang sich, seine letzten Gedanken der „Isabella“ zu widmen, die vor der Insel ankerte. Die stolze Galeone war seine Welt gewesen, und er wollte wenigstens in Gedanken dort sein, wenn es mit ihm zu Ende ging.

Daß Hasard und die anderen ihm nicht helfen konnten, stand für ihn fest. Es gab keine Rettung, denn für die Indonesier genügte ein schneller Stoß, um ihn über Bord zu befördern und zu ersäufen. Kein Beiboot konnte schnell genug sein, damit sie ihn dann noch rechtzeitig heraufholten.

Das Gemurmel des Brahmanen erhielt einen dunklen Unterton. Dieser Unterton wurde stärker, im nächsten Moment schien es, als mische sich eine zweite Stimme in die rituellen Redewendungen des Ayia Padang Mantra.

Ed Carberry wurde erst dann stutzig, als aus dieser vermeintlichen zweiten Stimme ein mächtiger, grollender Baß wurde.

Die sechs Indonesier stießen einen Entsetzensschrei aus, hielten jäh mit dem Paddeln inne und warfen die Köpfe herum.

Der Brahmane erbleichte, brach sein Gemurmel gleichfalls ab. Auch er drehte sich um – langsamer jedoch, geradezu schuldbewußt.

So konnte keiner von ihnen sehen, daß die Männer an Bord der englischen Galeone die Musketen wieder sinken ließen, die sie eben in Anschlag bringen wollten.

Das mächtige Grollen schwoll an und verdichtete sich zu einem urgewaltigen Donner, der Erde und Wasser gleichermaßen vibrieren ließ.

Schreckensbleich starrte der Brahmane zum Vulkankegel.

Im nächsten Atemzug bestätigte sich seine Ahnung.

Eine Rauchsäule stieg aus dem Krater hoch, bis sie vom Wind erfaßt wurde und zerfaserte. Das Grollen nahm indessen unvermindert zu.

Jäh zuckte ein Glutstrahl fast kerzengerade aus dem Krater. Er wurde von einem schmetternden Krachen begleitet.

Der Brahmane schrie einen gellenden Befehl.

Wie von Furien gehetzt, tauchten die Indonesier die Paddel ein und wendeten das Boot. In rasendem Rhythmus peitschten die Paddelblätter das Wasser.

Mit einem Funkenregen, der sich fächerförmig über den Vulkankegel ergoß, sank der Glutstrahl aus dem Krater in sich zusammen. Als das Auslegerboot den Strand erreichte, nahm auch das Grollen aus der Tiefe der Erde ab.

Der Brahmane sprang als erster aus dem Boot und schrie den sechs Indonesiern einen Befehl zu. Sie folgten ihm mit wilden Sprüngen und zogen den Bootskörper mit dem beträchtlichen Gewicht Edwin Carberrys an Land.

Die Riesenschar der Menschen, die am Palmenwald ausgeharrt hatten, war vor Entsetzen wie gelähmt.

Nur Kapitän Einauge und seine portugiesischen Landsleute bildeten eine Ausnahme. An ihrer Spitze stapfte Laurindo de Carvalho dem Brahmanen mit unverkennbarer Wut entgegen.

In fliegender Hast zerrten die sechs Indonesier unterdessen den gefesselten Profos vom Boot und schleiften ihn den Strand herauf.

„Halt!“ brüllte de Carvalho schon von weitem. „Bleibt stehen! Verdammt noch mal, wollt ihr wohl stehenbleiben!“

Aber die Inselbewohner schienen ihn nicht zu verstehen, obwohl er ihre Sprache benutzte. Sie beachteten die Portugiesen nicht einmal, während sie den Profos zum Palmenwald schleppten und ihn dort eilends von seinen Fesseln befreiten.

Jetzt stand er aufrecht, nur noch mit den Ketten an Hals und Handgelenken.

Laurindo de Carvalho hatte dem Brahmanen den Weg versperrt. Fassungslos beobachtete der Einäugige, was sich dort oben am Palmenwald abspielte. Dann wandte er sich mit einer ruckhaften Bewegung dem Hindu-Priester zu.

„Was ist in dich gefahren, Mann? Du verstößt gegen unsere Abmachung! Der Engländer sollte hingerichtet werden. Was fällt dir ein, dich einfach darüber hinwegzusetzen und …“

Der Brahmane unterbrach ihn mit einer energischen Handbewegung. Seine Augen waren schmal und furchtlos, während er den Portugiesen ansah.

„Geh mir aus dem Weg, Einauge. Dies ist etwas, was du niemals begreifen würdest.“

Das Grollen des Vulkans war mittlerweile fast verstummt.

„Ich verlange eine Erklärung!“ schnaubte de Carvalho, und seine Landsleute, die hinter ihm einen Halbkreis bildeten, nahmen eine drohende Haltung ein. „Ich persönlich habe mit dem Raja die Entscheidung getroffen. Der Engländer sollte hingerichtet werden, damit wir die verdammten Kerle endlich dazu bewegen, ihr Schiff herauszurücken!“

Ayia Padang Mantra schüttelte bedächtig den Kopf.

„Du wirst es nie begreifen, Einauge, weil du es nicht begreifen kannst. Selbst wenn du den Rest deines Lebens auf unserer Insel verbringst, wirst du den Göttern niemals so nahe sein wie wir.“

„Götter! Blödsinn!“ schrie der Portugiese zornrot. „Ich habe bislang eine Menge Verständnis dafür gehabt, aber jetzt reicht es! Bei so einem Schwachsinn hört meine Geduld auf. Kein Wunder, daß ihr nie zu einer vernünftigen Kriegsführung fähig wart. Ich denke nicht daran, mir das gefallen zu lassen. Wenn ich meine Fähigkeiten in der Seekriegsführung für euch einsetze, dann erwarte ich auch …“

Wieder unterbrach ihn der Brahmane.

„Deine Entscheidung und auch die Entscheidung des Raja sind gegen den Willen der Götter unbedeutend. Und die Götter haben gesprochen. Ihr Zeichen war unmißverständlich.“ Er deutete mit ausgestrecktem Arm zu dem Vulkankegel. „Ich selbst habe falsch gehandelt und werde in einer Zwiesprache mit den Göttern zu Rate gehen müssen, um zu einer Entscheidung zu gelangen, die von ihnen gebilligt wird.“

„Aber …“ setzte de Carvalho an.

Der Brahmane ließ ihn einfach stehen und ging mit würdevoller Haltung weiter. Er schloß sich dem Raja und dessen Gefolge an. Die Indonesier bewegten sich bereits auf den Pfad im Palmenwald zu.

Edwin Carberry lief kettenklirrend in ihrer Mitte.

Bebend vor Wut stand Laurindo de Carvalho mit seinen Landsleuten noch immer am Strand. Er wagte nicht, zu der englischen Galeone zu blicken, denn er glaubte schon jetzt das überlegene Lachen jenes Sir Hasard zu sehen.

„Es hat keinen Zweck, Laurindo“, sagte Luiz Cardona leise, „es hat keinen Zweck, wenn wir uns jetzt auf die Hinterbeine stellen. Du weißt, wie halsstarrig die Inselbewohner sind, sobald es um ihre Götter geht. Also sollten wir gute Miene zum bösen Spiel machen und uns auf sie einstellen.“

De Carvalho starrte ihn an.

„Wie denn das? Diese hirnverbrannten Dummköpfe bringen es doch glatt fertig, die Engländer freizulassen! Und wie stehen wir dann da? Dann haben wir überhaupt kein Schiff mehr!“

Cardona nickte.

„Eben drum. Wenn wir hier herumstehen, erreichen wir überhaupt nichts. Ich schlage vor, daß wir uns vor allem erst einmal um die Gefangenen kümmern. Wenn der Brahmane wirklich auf die Idee verfallen sollte, sie freizulassen, können wir das wenigstens verhindern.“

Laurindo de Carvalho holte tief Luft und blies den Atem schnaufend aus.

„Dieser Tag“, sagte er erbittert, „ist der unglückseligste meines Lebens.“

Er konnte nicht wissen, um wieviel mehr sich diese Feststellung noch bewahrheiten sollte.

8.

„Jetzt verstehe ich die Welt nicht mehr“, meinte Old Donegal Daniel O’Flynn kopfschüttelnd. Wie alle anderen an Bord der „Isabella“ hatte er das Geschehen fassungslos beobachtet.

Doch es gab einen Mann auf der Galeone, für den eine Erklärung auf der Hand lag.

Der Kutscher, dessen Namen niemand kannte, verließ seinen Platz in der Nähe des Kombüsenschotts und steuerte auf den Seewolf zu.

„Sir, wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf …“

Hasard drehte sich um.

„Ja?“

„Ich glaube, Edwin Carberry und die anderen haben im Moment nichts zu befürchten. Wenigstens von den Indonesiern nicht.“

Hasard runzelte die Stirn.

„Das mußt du schon ein bißchen näher erklären.“ Er wußte, daß sich der Kutscher während seiner Dienstzeit bei Doc Freemont eine Reihe von Kenntnissen angeeignet hatte, die man getrost als außergewöhnlich bezeichnen konnte. Doc Freemont war ein gebildeter Mann, und an vielen langen Abenden vor dem Kamin hatte er mit seinem Kutscher Gespräche geführt, die beiden über die Einsamkeit hinweggeholfen hatten.

Seit vielen Jahren leistete der Kutscher nun schon seine Arbeit in der Kombüse der „Isabella“, und auch als Feldscher hatte er sich bestens bewährt – war es ihm doch gelungen, auch in dieser Beziehung einiges von Doc Freemont zu lernen.

 

„Ich habe einiges über den Hinduismus gehört und gelesen, Sir. Was sich soeben ereignete, hat unmittelbar mit der schwachen Vulkantätigkeit zu tun. Dem Hindu-Glauben entsprechend, wird dieser Vulkan vermutlich als irdischer Wohnsitz der Götter betrachtet. Und die Eruption erfolgte haargenau in dem Moment, in dem unser Profos geopfert werden sollte.“

„Geopfert?“ fragten die umstehenden Männer verblüfft. „Dieser portugiesische Schweinehund wollte uns doch nur unter Druck setzen, damit er sich unser Schiff unter den Nagel reißen kann!“ Es war Ferris Tucker, der grollend diese Feststellung traf.

„Laßt den Kutscher reden“, entschied Hasard.

„Danke, Sir.“ Der schmale, dunkelblonde Mann lächelte kaum merklich. „Natürlich wollte der Portugiese seinen persönlichen Zweck mit dem Menschenopfer verbinden. Aber für die Indonesier ist es in erster Linie ein kultischer Akt. Das, was sie dadurch erreichen wollen, geschieht nach ihrem Glauben nur dann, wenn die Götter ihre Zustimmung geben.“

„Genau so ist es!“ rief der alte O’Flynn aufgeregt. „Haargenau so!“ Jeder an Bord wußte, daß er allem Übersinnlichen besonders zugetan war.

„Ich frage mich nur, wie so was funktionieren soll“, knurrte Ferris Tucker.

„Eine wichtige Rolle spielen für Hindus die Dämonen“, fuhr der Kutscher fort, „wenn sie dem Meer ein Menschen- oder Tieropfer bringen, hat es den Zweck, die Meeresdämonen in ihre Schranken zu weisen. Das geschieht natürlich dadurch, daß ihnen die Götter nach dem Opfer wohlgesonnen sind und die Dämonen aus dem Feld schlagen. In unserem Fall glaubten die Indonesier also, daß sie mit Unterstützung ihrer Götter unser Schiff in Besitz nehmen könnten, weil sie vermutlich annahmen, daß die Dämonen auf unserer Seite waren.“

„Ich verstehe“, sagte der Seewolf. „Die Vulkantätigkeit war natürlich reiner Zufall. Aber trotzdem glauben sie, daß die Götter mit dem Opfer nicht einverstanden sind. Deshalb haben sie das Ganze abgeblasen.“

„So wird es sein“, sagte der Kutscher, „und der Portugiese sieht vermutlich seine Felle davonschwimmen, weil er die grausame Zeremonie aus einem ganz anderen Gesichtspunkt betrachtet hat.“

„Nein, nein!“ rief Old Donegal Daniel O’Flynn. „Der Vulkanausbruch war bestimmt kein Zufall! Es gibt nun mal Dinge auf dieser Welt, von denen wir uns überhaupt keine …“

„Hör auf, Old Donegal!“ brüllten die anderen. „Um Himmels willen, hör auf!“

Hasard sorgte mit einer energischen Geste für Ruhe.

Der alte O’Flynn schwieg beleidigt. Immer wieder mußte er es erleben, daß niemand für seine Geschichten Verständnis hatte. Aber verdammt merkwürdig war es doch, daß sie dem Kutscher zuhörten. Vielleicht lag es nur daran, daß er seine Worte ein bißchen besser zu wählen verstand. Aber das war noch lange kein Grund, sich über einen alten Mann lustig zu machen.

Old Donegal beschloß grimmig, ihnen bei passender Gelegenheit den Kopf zurechtzusetzen – dann nämlich, wenn er wieder einmal recht behalten hatte. Die unerklärlichen Dinge, die sie in Australien erlebt hatten, waren anscheinend schon völlig in Vergessenheit geraten.

„Wir brechen sofort auf“, ordnete der Seewolf an. „Obwohl es riskant ist, können wir nur drei Mann als Wache an Bord zurücklassen. Der Kutscher, Old O’Flynn und unser Moses übernehmen das. Außerdem bleiben natürlich Philip und Hasard an Bord. Wir brauchen alle verfügbaren Kräfte für den Einsatz auf der Insel. Klariert die große Jolle! Beeilt euch, wir erwischen keinen günstigeren Moment!“

Die Zwillinge protestierten ausnahmsweise nicht dagegen, daß sie zurückbleiben mußten. Ihnen war klar, daß an Land die Fetzen fliegen würden. Und dazu fehlten ihnen denn doch noch einige Lebensjahre.

Hasard wandte sich noch einmal kurz zur Insel um.

Der Strand war wie leergefegt – dank des Entsetzens, das den Indonesiern in den Knochen saß.

Noch immer stieg eine dünne Rauchsäule aus dem Krater des Vulkans, als der Kiel der großen Jolle auf den Ufersand knirschte. Das urgewaltige Grollen aus der Tiefe der Erde war jedoch verstummt.

Der Seewolf und seine Männer sprangen außenbords und zogen die Jolle höher auf den Strand. Ferris Tucker lief zu dem kleineren Beiboot, mit dem Ed Carberry und seine Begleiter an Land gegangen waren. Während sich der hünenhafte Schiffszimmermann davon überzeugte, daß das Beiboot unversehrt war, verteilten die anderen die Waffen.

Außer Pulverflaschen und Kugelbeuteln erhielt jeder eine Muskete und eine Pistole, überdies baumelten Entermesser oder Säbel an ihren Gurten. Ferris Tucker kehrte zurück und schulterte seine Zimmermannsaxt, die er als furchtbare Waffe einzusetzen verstand.

Hasard selbst hatte seinen Radschloßdrehling und den schweren Säbel mitgenommen. Auf eine Muskete verzichtete er, weil er größere Beweglichkeit brauchte. Mit dem Drehling verfügte er ohnehin über sechs Schuß, die er nacheinander abfeuern konnte, ohne nachladen zu müssen.

Sie verloren keine Zeit. Unbehelligt erreichten sie den Palmenwald. Dort fanden sie auf Anhieb den Pfad, von dem sie wußten, daß er zur Ansiedlung der Inselbewohner führen mußte.

Der Seewolf und seine Männer marschierten mit weitausgreifenden Schritten, und der weiche Boden dämpfte die Geräusche. Nur das leise Klirren der Waffen war zu hören.

Eine unnatürliche Stille lastete über der Insel. Selbst aus der grünen Dichte des tropischen Waldes drang kein Laut, keine der schrillen Vogelstimmen, die sonst in jedem Urwald zu hören waren.

Zügig umrundeten sie die plateau-ähnliche Anhöhe aus Lavagestein. Auf der anderen Seite stießen sie auf die Fortsetzung des Pfades. Hasard hatte es nicht riskieren wollen, die Anhöhe auf direktem Weg zu überqueren. Möglicherweise gab es irgendwo doch noch Wachtposten. Darauf, daß sich die Indonesier aus Angst vor dem Vulkan verkrochen hatten, konnte er sich nicht allein verlassen.

Die Zeit schien rasend schnell zu verstreichen. Hasard wußte, daß es das bohrende Gefühl war, etwa doch noch zu spät zu kommen. Auf dem Weg durch den Dschungel sprach keiner seiner Männer ein Wort. Jeder hegte die gleichen Gedanken – Gedanken an die Freunde und Gefährten, die noch immer in Ketten lagen oder gar schon getötet worden waren.

Die Luft war drückender geworden, ein seltsames Zwielicht war heraufgezogen. Der Himmel, soweit er durch die dichten Baumkronen zu erkennen war, hatte sich grau gefärbt. Kein düsteres Grau, wie es im heimischen Europa einen Regenschauer ankündigte. Dies hier war eine unnatürliche, eher schweflige Färbung, die sich mit zunehmender Intensität auf das Land herabzusenken schien.

Unvermittelt verlangsamte der Seewolf seine Schritte, hob die rechte Hand, gab das Zeichen zum Halten und winkte Ben Brighton zu sich heran.

Ben folgte der Aufforderung auf leisen Sohlen.

„Ich denke, wir haben das Dorf vor uns“, flüsterte Hasard und deutete nach vorn. Über dem Dickicht, zwischen den Reihen der lianenumwucherten Baumstämme, waren hellere Flecken von Bambusholz zu erkennen.

„Wir sollten uns schon jetzt in zwei Gruppen aufteilen“, gab Ben ebenso leise zurück.

Der Seewolf nickte und wandte sich um. Worte waren nicht erforderlich. Knappe Handzeichen genügten.

Für seine eigene Gruppe teilte Hasard Ferris Tucker, Smoky, Pete Ballie, Al Conroy und Big Old Shane ein. Al und der Schmied von Arwenack trugen zwei handliche Kisten, die der Stückmeister gern als seine Trickkisten bezeichnete. Wie es Al Conroys Handwerk entsprach, bestand der Inhalt aus höchst brisanten und effektvollen Kleinigkeiten.

Zu Ben Brightons Gruppe gehörten Batuti, Blacky, Gary Andrews, Jeff Bowie, Will Thorne und Stenmark.

Vorsichtiger jetzt, fast lautlos, setzten sie ihren Weg fort, bis sie den Rand des Dschungels erreichten. Im Schutz der mächtigen Baumstämme verharrten sie.

Wie auf dem Präsentierteller lag das Dorf vor ihnen. Das Gewirr der Bambushütten, der breite Hauptweg und die steinernen Tempel – alles zusammen wirkte wie ausgestorben. Dennoch waren die Menschen hier, hatten sich in ihre Hütten verkrochen und warteten auf das Ergebnis der Beratung, die der Brahmane in einer stummen Zwiesprache mit den Göttern führte.

Nirgendwo war zwischen den Hütten eine Bewegung zu erkennen – nichts, was darauf schließen ließ, daß die Seewölfe bemerkt worden waren.

Hasard gab seinem ersten Offizier das vereinbarte Zeichen.

Hart am Rand des Dickichts pirschten sich Ben Brighton und seine Männer zur linken Seite des Dorfes vor – jeden Augenblick bereit, in Deckung zu gehen.

Auf die gleiche Weise drang Hasard mit seiner Gruppe in die entgegengesetzte Richtung vor. Mit dieser alten, doch bewährten Taktik hatten sie das Dorf in der Zange, wenn es hart auf hart ging. Sie bewegten sich so geräuschlos wie nur möglich. Nach vielen gefahrvollen Abenteuern in tropischen Breiten war dies kein Neuland für sie. Sie kannten den Dschungelkampf mit all seinen Besonderheiten und Tücken.

Die einzigen Lebewesen, die sie sahen, waren Hühner und Hängebauchschweine in den Verschlägen hinter den Hütten. Auch die Tiere waren unerklärlich ruhig, kauerten in Ecken und beobachteten die Männer bei ihrem leisen Vordringen mit ausdruckslosen Augen.

Etwa in der Höhe der Dorfmitte hob Hasard die Hand. Sofort verharrten die Männer und suchten Deckung im Unterholz.

Der Seewolf spähte nach vorn. Steinmauern waren zu erkennen, nur wenig höher als die Palmblattdächer der Hütten. Es konnte sich um keinen der Tempel handeln, denn die befanden sich weiter im Zentrum der Ansiedlung. Hasard wandte sich zu Ferris Tucker um, der unmittelbar hinter ihm war.

„Ich sehe mir das genauer an. Wartet hier auf mich.“

Der Schiffszimmermann nickte.

Hasard verlor keine Zeit. Ohne das leiseste Geräusch zu verursachen, pirschte er sich weiter voran. Unbehelligt legte er die nächsten zwanzig, fünfundzwanzig Yards zurück und fand hinter einem mächtigen Mangrovenstamm Deckung.

Das steinerne Gebäude war jetzt zum Greifen nahe vor ihm.

Er brauchte nicht zweimal hinzusehen. Er kannte genügend asiatische und auch ostasiatische Länder, um zu wissen, daß dies nur der Palast des Raja sein konnte. Das Wort Palast war zwar reichlich übertrieben, im Vergleich zu den Hütten aber angebracht.

Während Hasard beobachtete, glaubte er plötzlich, fernes Stimmengemurmel zu hören. Er hielt den Atem an. Möglich war auch, daß diese Stimmen aus dem Palast kamen. Zum Herumrätseln war keine Zeit. Er mußte der Sache auf den Grund gehen.

Lautlos schlich er weiter und bahnte sich jetzt vorsichtig seinen Weg durch das Unterholz, denn die rückwärtigen Fensterhöhlen des Palasts waren nur einen Steinwurf weit entfernt.

Je mehr er sich der jenseitigen Gebäudeecke näherte, desto deutlicher waren die Stimmen zu vernehmen. Und wenige Minuten darauf hatte Hasard Gewißheit.

Es waren Stimmen, die Portugiesisch sprachen!

Vorsichtig schob sich der Seewolf weiter, bis er die Seitenmauer des Palasts im Blickfeld hatte. Jetzt war er kaum noch überrascht, als er sie dort stehen sah.

Laurindo de Carvalho und seine Landsleute.

Der Einäugige stolzierte unruhig auf und ab und redete gestikulierend, während die anderen an der Mauer lehnten.

Hasard erblickte die Fensteröffnung knapp über dem Erdboden. Die Tatsache, daß einer der Portugiesen mit schußbereiter Muskete vor diesem Fenster stand, ließ keinen Zweifel offen. Dies mußte das Verlies sein, in dem Ed Carberry und die anderen gefangengehalten wurden. Immerhin schienen sie also noch am Leben zu sein.

Hasard atmete auf.

Von dem Gerede de Carvalhos kriegte er nur Wortfetzen mit. Was er heraushören konnte, war die Empörung des Portugiesen darüber, daß er von den Beratungen im Königspalast ausgeschlossen war.

Der Seewolf lächelte kalt. Also hatte der Kutscher mit seinen Mutmaßungen recht gehabt!

Hasard hielt sich nicht länger auf. Er wandte sich ab und kehrte ebenso geräuschlos wie zuvor zu seiner Gruppe zurück. Mit gedämpfter Stimme informierte er sie über seine Beobachtung. Die Augen der Männer leuchteten. Auf einen Wink des Seewolfs öffneten Al Conroy und Big Old Shane die Kisten.

Assistiert von den anderen, erledigte der Stückmeister seine Arbeit im Handumdrehen. Sie rammten Bambusstöcke in den weichen Boden und banden die Raketen in ihren Führungsrohren daran fest. Diese Mitbringsel aus dem Reich der Mitte richteten zwar keinen Schaden an, waren dafür aber in ihrer Wirkung bislang immer äußerst eindrucksvoll gewesen.

 

„Fertig!“ flüsterte Al Conroy schließlich. Die glimmende Lunte hielt er schon in der Hand.

Hasard zog seinen Radschloßdrehling und gab das Zeichen. Gemeinsam mit den anderen pirschte er los. Al Conroy blieb zurück, und deutlich war das Zischen der ersten Zündschnüre zu hören.

Das chinesische Feuer würde auch für Ben Brighton das vereinbarte Zeichen zum Angriff sein.

Der Feuerzauber begann, als sie die Rückseite des Königspalasts erreichten.

Fauchend zog die erste Rakete ihre Bahn bis hoch über das Dorf. Während die nächsten Raketen ebenfalls zischend aufstiegen, detonierte die erste mit einem Krachen, der an Kanonendonner erinnerte. Feurige Blitze zuckten über den Hütten auf, ein Funkenregen in allen schillernden Farben des Regenbogens schwebte langsam nieder.

Noch bevor dieser erste Funkenregen erloschen war, detonierte die zweite Rakete. Und dann ging es Schlag auf Schlag. Ein ohrenbetäubendes Stakkato von Detonationen hallte über die Ansiedlung der Insulaner.

Entsetzensschreie wurden laut. Wie von allen Teufeln gehetzt, verließen die ersten Indonesier ihre Hütten und suchten mit Frauen und Kindern Zuflucht im nahen Dschungel.

Chaos setzte ein. Unter dem andauernden Krachen des chinesischen Feuers schwoll das panikartige Stimmengewirr an. Auch Flüche auf portugiesisch waren jetzt zu hören.

Al Conroy schloß mit langen Sätzen zur Gruppe des Seewolfs auf. Spätestens jetzt mußten Ben Brighton und die anderen vom jenseitigen Dorfrand vordringen. Auch die Gefangenen mußten jetzt begriffen haben, daß der Augenblick der Entscheidung da war.

Hasard und seine Männer erreichten die Palastecke, als die Portugiesen auszuschwärmen begannen.

Wie vom Donner gerührt, prallten sie zurück, als sie die Seewölfe erblickten.

Zwei der Portugiesen hatten den Riegel entfernt und waren im Begriff, die Tür zu öffnen. Verständlich, daß sie ihre Gefangenen in Sicherheit bringen wollten, denn diese Gefangenen bedeuteten letztlich noch immer das Faustpfand, dessen Gegenwert eine englische Galeone bester Bauart war.

Aber diese Rechnung würde Hasard ihnen gründlich durchkreuzen. Jetzt und auf der Stelle.

Laurindo de Carvalho, schon auf dem Weg zur Vorderseite des Palasts, wirbelte herum.

Die Seewölfe wichen zu breiter Front auseinander.

Und das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite. Während die Portugiesen ihre Waffen noch hochrissen, krachten die ersten Warnschüsse. Ohne Ergebnis.

De Carvalho schrie einen gellenden Befehl und zog gleichzeitig seine Pistole aus dem Gurt.

Die Portugiesen gehorchten und ergaben sich nicht. Ihre Musketen und Pistolen flogen hoch.

Das Krachen des chinesischen Feuers verebbte.

Hasard, der eine erste Kugel als Warnschuß aus seinem Drehling abgefeuert hatte, stürmte voran, auf die Portugiesen zu, hakenschlagend.

Seine Männer hatten die Musketen fallen lassen und griffen zu den Pistolen. Reaktionsschnell warfen sie sich zu Boden.

Mündungsblitze zuckten dem Seewolf auf seinem rasanten Sturmlauf entgegen. Er spürte den Gluthauch einer Kugel, die haarscharf über ihn wegsirrte.

Breitbeinig stand de Carvalho da. Unter der Augenklappe war sein Gesicht zu einem teuflischen Grinsen verzerrt, als er den Seewolf herannahen sah. Für einen Sekundenbruchteil blickte Hasard in die großkalibrige Pistolenmündung. Der Zeigefinger des Einäugigen krümmte sich.

Weiter entfernt sah Hasard Ben Brighton und seine Männer herbeieilen. Hinter sich hörte er die Pistolenschüsse seiner Gruppe und das erste Klirren von Säbeln und Entermessern.

Eine feurige Lanze stieß aus der Pistole de Carvalhos.

Im selben Moment schnellte Hasard vor, überschlug sich knapp über dem Boden, rollte sich ab und war im nächsten Atemzug federnd auf den Beinen.

Donnernd entlud sich der Radschloßdrehling.

Ein Ausdruck grenzenlosen Entsetzens malte sich in de Carvalhos Gesichtszügen. Langsam, unendlich langsam sank er in sich zusammen, die Pistole entfiel seinen kraftlos werdenden Fingern.

Hasard wirbelte herum. Mit dem Einäugigen konnte er kein Mitleid empfinden. Nicht nach allem, was geschehen war.

Er ließ die Waffe sinken. Seine Männer hatten bereits für klare Verhältnisse gesorgt.

Drei, nein vier Portugiesen waren es, die mit langen Sätzen ihr Heil in der Flucht suchten. Die anderen lagen reglos am Boden. Von ihnen war keine Gegenwehr mehr zu erwarten. Sie hatten de Carvalho und seinen hinterhältigen Plänen zur Seite gestanden und dafür ihr Leben gelassen.

Aus dem Verlies erschienen die Gefangenen mit klirrenden Ketten. Ihre Gesichter strahlten, freudiges Gebrüll zur Begrüßung wurde laut.

Ferris Tucker begann sofort mit der Arbeit und benutzte die stumpfe Seite einer Axt, um die Splinte loszuschlagen, mit denen die stählernen Ringe der Ketten gesichert waren.

Aus dem Dorf gellten noch immer die Schreie der Indonesier. Mit einem Blick über den Vorplatz des Palastes stellte Hasard fest, daß von den Inselbewohnern keine Gefahr drohte. Nachdem sie bereits durch den Vulkanausbruch einen Schock erlitten hatten, waren sie jetzt endgültig in Panik geraten.

Dies bestätigte auch Ben Brighton, der mit seiner Gruppe beim Palast eintraf. Niemand hatte sich ihnen in den Weg gestellt. Als das Krachen des chinesischen Feuers begonnen hatte, waren die Indonesier in heillosem Entsetzen geflohen.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis Ferris Tucker die Männer von ihren Ketten befreit hatte. Dann fielen sie sich alle vor Freude in die Arme. Aus dem Gewühl heraus tauchte der Profos vor Hasard auf.

Hasard lachte und schlug ihm wortlos auf die Schulter.

Edwin Carberry öffnete den Mund und wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort hervor. Im nächsten Moment wandte er sich rasch ab. Seine Augen waren feucht geworden, und so etwas sollte niemand beim Profos der „Isabella“ jemals sehen – auch der Seewolf nicht.

Hasard rief zum Sammeln. Bis auf einige unbedeutende Kratzer hatten seine Männer keinen Schaden gelitten.

Eilends durchsuchten sie den Palast des Raja. Die Vermutung des Seewolfs bestätigte sich sehr rasch. Keine Menschenseele hielt sich mehr in dem feuchten Gemäuer auf. Wie die übrigen Dorfbewohner waren auch der Raja und sein Gefolge geflohen.

Sie spürten es, als sie aus dem Palast ins Freie traten und zum Abmarsch rüsteten.

Der Boden unter ihren Füßen begann zu vibrieren.

„Weg hier“, sagte Hasard knapp und übernahm die Führung.

Im Eilschritt durchquerten sie das Dorf über jenen Hauptweg, von dem sie wußten, daß er zur Westseite der Insel führte.

Der Boden schien jetzt zu schwanken, ein tiefes, noch verhaltenes Grollen war zu hören. Es schien tief aus dem Inneren der Erde zu dringen, war doch überall und umgab die Männer mit bedrohlich anschwellender Lautstärke.

Sie begannen zu laufen, als sie den Tropenwald erreicht hatten. Auf ihrem Weg durch das stickige Dickicht wurde die Luft unerträglich. Ein beklemmender Druck legte sich auf die Atemwege.

Keuchend drangen sie bis zu der plateau-ähnlichen Anhöhe vor, wo sie einen Moment verharrten.

Jäh gab es einen Donnerschlag, der alles auszulöschen schien. Die Insel bebte, und der Donner wollte nicht enden.

„Da!“ schrie Dan O’Flynn. „Seht!“

Ihre Köpfe ruckten herum.

Feurige Lohe stieß aus dem Krater des Vulkans, bis hoch in den Himmel hinauf. Eine finstere Rauchwolke begleitete diese Lohe, breitete sich rasend schnell aus und verdüsterte das Sonnenlicht.

„Weiter!“ rief der Seewolf. „Beeilt euch!“

Das Atmen fiel ihnen immer schwerer, als sie durch den Palmenwald stürmten. Ein schwefliger Geruch lag jetzt in der Luft.

Wieder folgte ein urwelthafter Donnerschlag. Der Erdboden erzitterte heftiger als zuvor.

Die Männer von der „Isabella“ blickten nicht mehr zurück. Als sie mit schmerzenden Lungen den Strand erreichten, herrschte fast völlige Finsternis.

Ein Donnerschlag folgte jetzt dem anderen, und ein kurzer Blick zum Vulkan zeigte ihnen das Ausmaß der Naturkatastrophe.