Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust

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In den Fünfziger-Jahren, als die Gestalttherapie entwickelt wurde, stand etwas anderes im Vordergrund: das krasse, neurotisierende Missverhältnis zwischen einer angepassten, heuchlerisch verdrängenden, prüden Gesellschaft und einer technologischen Hochrüstung, die in Nuklearwaffen gipfelte, deren erneuter Einsatz ernsthaft erwogen wurde.

Wenn es aber um das Menschenbild einer Therapie-Theorie geht wie hier, dann darf man die Unterscheidung zwischen positiven und negativen aggressiven Funktionen nicht vermeiden, selbst wenn eine eindeutige Differenzierung kaum möglich ist, weil sich beide leicht mischen oder vom Positiven ins Negative umschlagen können. Diese Unterscheidung kann meines Erachtens nur durch eine Verschiebung der Akzentsetzung auf den Wert und die Bedeutung der sozialen wie der materialen Umwelt gelingen. Nicht ihre Aggressionstheorie ist der »Geburtsfehler« der Gestalttherapie, sondern ihre einseitige Betonung des Individuums im Austauschprozess zwischen »Organismus« und Umwelt! Meines Erachtens ist das einem bürgerlichen Liberalismus geschuldet, für den in der faschistischen und postfaschistischen Epoche in Europa – anders als heute – der Individualismus der Moderne noch einen deutlich emanzipatorischen Charakter besaß. Damals gab es guten Grund, die »Grenzen der Gemeinschaft« zu betonen, wie das immer noch wichtige Büchlein von Helmuth Plessner im Titel heißt (H. Plessner, 1924, 2002). Eine »Kritik des sozialen Radikalismus« lautet der Untertitel in der Absicht, gewisse zivilisatorische Potenziale der bürgerlichen Gesellschaft, wie z. B. die Werte von Distanz, Diplomatie und Taktgefühl, zu verteidigen. Dass genau diese Werte nicht mit in die Gestalttherapie eingeflossen sind, ist eine Ironie ihrer Entwicklungsgeschichte, die möglicherweise nicht nur der Persönlichkeit von Friedrich Perls, sondern auch dem unklaren Aggressionsbegriff der Gestalttherapie geschuldet ist.

Für die sozialistische Tradition stand dagegen statt der individuellen Freiheit der Wert der Solidarität im Vordergrund – aber diese Tradition hat in der politischen Kultur der USA niemals wirklich Fuß fassen können. Und in Europa hatten die Nationalsozialisten aus der Solidarität der Unterdrückten das nationale und rassische »Zusammenstehen« der »Volksgemeinschaft« gemacht und damit auch den sozialistischen Gedanken der Solidarität desavouiert. Der »real existierende Sozialismus« hat dann mit seiner totalitären Gesellschaftsverfassung ein Übriges dazu getan. Trotz dieser komplexen Geschichte und trotz der Tatsache, dass positive und negative aggressive Funktionen »normalerweise im Handeln dynamisch verbunden sind« schlage ich vor, einfach bei der Unterscheidung von positiven und negativen Aggressionen zu bleiben und als ihr Kriterium Gewalt zu setzen. Wie im Leben so wird diese Unterscheidung auch in der therapeutischen Praxis nicht eine Frage der begrifflichen Logik, sondern eines geschärften Gewahrseins sein.

■ Jedenfalls hat die Gestalttherapie trotz ihrer Betonung des Verhältnisses von Mensch und Umwelt als eines Austauschprozesses die Bedeutung des Erhalts der Umwelt unterschätzt, und damit auch die Bedeutung des anderen, der nicht nur unser Gegenüber, sondern auch unser Mitmensch ist. So richtig der Ausgangspunkt der Gestalttherapie-Theorie im Begriff des Organismus-Umwelt-Feldes ist – nicht trotz, sondern wegen seiner Verankerung im Biologischen, im Leben, übrigens – so notwendig ist es, zu betonen, dass dieses Feld vornehmlich ein Feld ist, in dem sich das Individuum mit seinen Mitmenschen austauscht. Die frühe Gestalttherapie war durch die intellektuelle Herkunft ihrer Gründer in der Psychoanalyse noch geprägt von deren pseudo-naturwissenschaftlicher Rede von »Trieb-Objekten« und von »Objektbeziehungen«; erst die Humanistische Psychologie erbrachte einen Paradigmenwechsel hin zu einem Verständnis von Kontaktprozessen zwischen Menschen und Mitmenschen. »Selbsterhalt« ist nur möglich durch den und im Kontakt mit den anderen, die aber dazu befähigt sein müssen, wozu sie unserer Stützung und Resonanz bedürfen. Zu dieser Einsicht bedarf es keiner Mystifikation der »Ich-Du-Beziehung« wie bei Martin Buber; das ist heute anthropologisches Grundlagenwissen der Sozialwissenschaften (vgl. dazu den klaren Überblick von A. Honneth & H. Joas, 1980). Das Selbst als »die Kontaktgrenze in Bewegung«, als der Ort, an dem wir Welt erleben und erfahren, konstituiert sich intersubjektiv, und zwar in jedem Hier-und-Jetzt neu gemeinsam mit den Mitmenschen. Es kann keinen Selbst-Erhalt ohne Umwelt-Erhalt geben. Im Hinblick auf unsere soziale Umwelt bedeutet das:

Es gibt weder ein physisches noch ein psychisches Überleben ohne unsere Mitmenschen, ohne deren Zuwendung, deren Hilfe, deren Kooperation. Im Austausch mit anderen Menschen und in der Identifikation mit unseren Beziehungen zu ihnen gestalten wir unser Leben. Nicht die Herausarbeitung der positiven Aspekte der aggressiven Funktionen des Selbst war der Geburtsfehler der Gestalttherapie, sondern – trotz manch gegenläufiger Versuche wie den Gestalt-Kibbuzim4 – ein gewisser Mangel an Gemeinsinn.

■ Die dritte Phase des Kontaktprozesses ist der Moment der Integration oder des Vollen Kontakts. Nun geht es darum, alle absichtsvollen, zielgerichteten Ich-Funktionen loszulassen und damit auch jede Selbstkontrolle. Denn in dieser Phase, wo die energetische Aufladung am stärksten ist, sind alle Ziele und Absichten (soweit das im jeweiligen Kontaktprozess möglich ist) erreicht, und nun geht es nur noch darum, die Sättigung, die Erfüllung, wahrzunehmen und zu genießen, sich am Erreichten zu freuen bzw. im Vollzug der Kreation, wo dieser schon das Ziel war, aufzugehen. Dieser Volle Kontakt ist in allen Kontaktprozessen möglich, auch wenn seine Momente oft kleiner, manchmal banaler Natur sind. Es hängt von den Bedürfnissen ab: wenn sie stark sind und energisch auf Erfüllung drängen, dann wird die Erregung auch hoch und das Erleben sehr intensiv sein. Am leichtesten drängt sich hier vielleicht das Beispiel vom Orgasmus auf, und nicht zu Unrecht. Nur sollte man dabei nicht vergessen, dass es viele Orgasmen gibt, darunter auch weibliche und männliche. Leben ist eben erstaunlich vielfältig. Einleuchtend sind u. a. die Beispiele von ästhetischer Erfahrung: das volle Aufgehen in der Musik, ganz in ein Bild versunken zu sein, sich einem Naturerlebnis hinzugeben oder auch die Beispiele ekstatischer psychischer Erfahrungen, sogenannter peak experiences, und die sogenannten »Grenzerfahrungen« bei Extremportlern.

Kennzeichnend für all diese Erfahrungen ist das Verschmelzen von Subjekt und Objekt. Abgesehen von der unio mystica, dem All-Eins-Gefühl in der mystischen Versenkung, gibt es keine andere Erfahrung dieser Auflösung der dem Menschen sonst schicksalhaft auferlegten Spaltung zwischen Subjekt und Objekt des Bewusstseins! Zwar sind die meisten Vollen Kontakte, die wir erleben, nicht gleich mit außerordentlichen Gefühlen glückhafter Seligkeit verbunden, wie sie von manchen mystischen Erfahrungen beschrieben werden, aber dafür sind sie häufig, und mit geschärftem Gewahrsein kann jeder Mensch immer wieder genau dort den Himmel schon auf Erden erleben. Auch diese Empfindungen und die dazu gehörigen Affekte, wie vor allem die Freude, dieses kulturell so vernachlässigte Gefühl, bedürfen allerdings der Kultivierung und des Schutzes einer gewissen Intimität, wie es uns für erotische Erfahrungen ja (noch) selbstverständlich ist.

■ Zu diesen Schutzmaßnahmen gehört in gewisser Weise auch der Nachkontakt, die vierte Phase der Kontaktprozesses, denn sein Fehlen, der unvermittelte Abbruch des Kontaktprozesses und Übergang zu etwas anderem, Neuem, kann leicht noch im Nachhinein die erfüllende Erfahrung wieder ins Triviale hinab drücken und seinen erlebten Wert herabmindern oder gar auslöschen. Die Öffnung, das Loslassen der Selbstkontrolle, die Hingabe an das andere, Fremde, Unvertraute kann noch nachträglich Scham- und Angstgefühle auslösen, die dann unter Umständen durch Projektion auf den/die anderen oder durch Retroflexion und schließlich Verdrängung abgewehrt werden.

Diese letzte Phase des Kontaktprozesses hat die Bedeutung, das Erfahrene und Erreichte zu sichern, die Befriedigung nachhaltig wirken zu lassen und sich darüber zu verständigen, was denn und wie denn dieser Kontaktprozess gewesen ist. Dazu ist es nötig, noch ein wenig im Hier-und-Jetzt dieses Kontaktprozesses zu verweilen und inne zu halten. Nach-Spüren, Nach-Schmecken, Nach-Fühlen, und auch Nach-Denken sind jetzt angebracht. Sich zurücklehnend wird der Mensch sich seiner Selbst und seiner weiteren Umgebung jetzt erst wieder gewahr, und langsam im Abschied kann er sich dann lösen aus der noch gegenwärtigen Kontaktsituation, um sich dann einem neuen Kontaktprozess oder seinem Rückzug zuwenden.

Gerade auch der Abschied darf nicht übersprungen werden, denn in ihm wird durch verbale oder averbale Verständigung über die Bedeutung der zu Ende gehenden Begegnung auch schon über Fortgang oder Abbruch der jeweiligen Beziehung entschieden und deren Qualität mit bewertet. Kuss oder Küsschen, Handschlag oder Kopfnicken, mit lächelnder, lachender oder ernster Miene, in alldem drückt sich der Stand der Beziehung aus, also auch schon, ob und wie es mit ihr demnächst weitergehen soll.

■ Kontaktprozesse sind auf komplexe Art ineinander verschachtelt: Kontakte können in Kontakten eingebettet sein, die wiederum in Kontakten eingebettet sind. Nicht immer sind die übergeordneten Kontaktprozesse auch die wichtigeren. Bei Konferenzen über irgendwelche Themen z. B. ist oft die Chance, dass es mit Kollegen zu informellen Kontakten kommen kann, das eigentliche Motiv für die Teilnahme (vgl. zu der Komplexität dieser Interaktionsstrukturen die geniale Analyse von E. Goffman, 1980). Das Erstaunliche daran ist, dass jeder Kontaktprozess, eben auch die eingebetteten, als jeweils eigene Gegenwart erlebt werden kann. So erkennen wir auch bei der Betrachtung der sich überlagernden Kontaktprozesse noch einmal deutlich, dass Menschen offensichtlich in der Lage sind, mehrere Gegenwarten zugleich zu erleben, und zwar meistens ohne dabei durcheinander zu geraten. Wenn ich z. B. in der Pause eines Seminars einer anderen Teilnehmerin eine Geschichte erzähle, so ist diese Erzählung zweifellos der Gegenwartsmoment, der meine ganze Aufmerksamkeit fordert, dem freilich noch weitere folgen können. Zugleich kann das eigentliche Thema meines Kontaktprozesses mit dieser anderen Teilnehmerin, der seinerseits, wenn er ungestört verläuft, die beschriebenen vier Phasen durchlaufen wird, ein Flirt mit ihr sein. Beiden ist dabei bewusst, dass sie sich in der Pause eines Seminars befinden, die bald zu Ende gehen wird, welches seinerseits dann wieder ihre Aufmerksamkeit fordern wird. Auch das Seminar kann als ein Kontaktprozess analysiert werden, der wiederum vier Phasen aufweist, und der nicht schon deshalb als unvollständig oder unbefriedigend erlebt wird, weil er unterbrochen worden ist durch ein Geschehen, die Pause, das Raum lässt oder bewusst schafft für andere Kontaktprozesse, die in ihrem eigenen Hier-und-Jetzt stattfinden.

 

Dennoch sollten wir unsere Fähigkeit, mit Komplexitätserfahrungen umzugehen, nicht überschätzen. Pausen sind wichtig: Sie erlauben ein vorübergehendes Loslassen bei der Verfolgung des Hauptinteresses, wobei ein eingeschobener Kontaktprozess sogar zur Regeneration der Aufmerksamkeit beitragen kann – vorausgesetzt er bleibt untergeordnet. Schiebt sich dessen antreibendes Bedürfnis aber in den Vordergrund, z. B. weil der Stimulus besonders kräftig ist (die Gesprächspartnerin ist sehr attraktiv), wird es schwierig. Denn nun wird der übergreifende Kontaktprozess an Interesse verlieren und damit als solcher unbefriedigend bleiben, auch wenn man sich vielleicht am Ende sagt: Allein diese Frau kennen gelernt zu haben, war das Ganze wert. Erneut wird hier deutlich, dass es bei der Konzentration auf das Hier-und-Jetzt immer wieder vorrangig darauf ankommt, sich ständig über die eigenen Bedürfnisse und ihre Prioritätenordnung im Klaren zu sein.

Bedürfnisse können sich also verändern, wenn neue Stimuli erscheinen und sich neue Chancen auftun, sodass wir gezwungen sind zu entscheiden: Wollen wir dem jetzt neu auftretenden Bedürfnis den Vorrang geben oder bei der alten Prioritätenordnung bleiben und seine Befriedung aufschieben, weil »hier« nicht der richtige Ort und »jetzt« nicht die richtige Zeit dafür ist? Und/ oder weil wir uns entscheiden, das Thema des übergreifenden Kontaktprozesses für wichtiger zu halten? Dafür sind wir auch gut gerüstet: Wir brauchen nur unser Gewahrsein verstärkt auf das augenblickliche Verhältnis von unseren Bedürfnissen und den laufenden Kontaktprozessen zu richten.

■ Anders ist es, wenn wir versuchen, mehrere Bedürfnisse, verschiedene Interessen gleichzeitig zu verfolgen. Das ist nicht unmöglich, manche Menschen haben eine erstaunliche Fähigkeit zum Multitasking. Aber viele Situationen in unserer schnelllebigen, hoch mobilen und sehr anforderungsreichen Welt verführen auch dazu, mit der wachsenden Komplexität auf diese Weise umzugehen und sich dabei zu überfordern. Denn Multitasking bedeutet, dass die Zeit – weil in deren Räume nun immer mehr Aufgaben gepackt werden – so knapp wird, dass nichts mehr übrig bleibt für die Gegenwartsmomente, mit der Folge, dass sie als sich ständig beschleunigend erlebt wird. Das ist insbesondere die Gefahr einer Übernutzung der Smartphones. Unter dem Druck der Aufgabenbewältigung wird dann die ersparte Zeit als gewonnene Zeit verbucht, die sofort zu weiterem Multitasking eingesetzt werden kann. Auf die Dauer merkt der menschliche Organismus, der Körper wie die Seele, dann, dass etwas fehlt – ohne zu wissen, was das ist. Es sind die Gegenwartsmomente, es ist die lebendige Erfahrung nicht zweckrationaler Erfahrungen, die zwar auf irgendeine Weise auch der Lebenserhaltung dienen, aber nicht auf dem Weg der Verfolgung fest bestimmter Ziele oder der Erledigung fest gelegter Aufgaben, sondern durch einen spielerischen – Paul Goodman würde sagen poetischen – Umgang mit dem, was die Welt uns von Augenblick zu Augenblick darbietet. Früher nannte man das Muße.

Schaut man also genauer hin, dann zeigt sich, dass es bei der Konzentration auf das Hier-und-Jetzt um eine Durchdringung mehrerer Schichten von Gegenwart geht, die alle ihr eigenes Recht beanspruchen: nämlich im subjektiven Erleben die Zeit zeitweise auszusetzen. So gewinnen wir die Ewigkeit in der Zeit – wenn wir den Gegenwartsmomenten genügend Raum lassen.

4.4 Die Gegenwart unserer biografischen Lebensabschnitte

Das individuelle Leben ist kurz – so scheint es uns Menschen, die wir um sein Ende wissen. Das erleben wir am intensivsten durch unseren Körper: Er wächst, wird groß und stark und fruchtbar – er schrumpft, wird alt und schwach und unfruchtbar. Das prägt unser Leben, teilt es in Abschnitte ein, die den Zwängen der Natur folgen, auch wenn sie auf vielfältige Weise kulturell überformt sind. Auch jeder dieser Lebensabschnitte hat seine eigene Gegenwart. Ich erlebe mich als jung oder alt, als noch klein oder schon groß, als Kind oder als Erwachsener. Jedes Leben hat seine »einmalige Gegenwart«, meinte der Historiker Herrmann Heimpel in sympathischer Verteidigung des Individuums gegen seine Vereinnahmung durch »die« Geschichte in seinem damals viel beachteten Essay »Der Mensch in seiner Gegenwart« (H. Heimpel, 1957). »Diese Gegenwart ist das Schicksal des Menschen, der geboren wird und stirbt: denn der Tod ist der Vater der Zeit.« (9). Hier ist die Gegenwart der Lebenszeit des einzelnen Menschen gemeint, die Heimpel in ihrer Dauer nicht den viel kürzeren Kontaktprozessen gegenüber stellt, sondern der noch viel umfassenderen Gegenwart von historischen Epochen und dem jeweiligen Zeitgeist der Kulturen. Aber der einzelne Mensch erfährt sein Leben als ein ganzes allenfalls im Alter, wenn seine Biografie überschaubar geworden ist – und selbst das erst, seitdem der einzelne als Individuum gesellschaftlich überhaupt zählt und Beachtung findet. Aber die Biografie wird nicht als eigenständige Gegenwartgestalt erlebt; sie mag die Gegenwart im Alter überschatten oder aufhellen, ist dann aber schon gelebtes Leben – Vergangenheit. Wohl aber haben die jeweiligen Lebensabschnitte ihre je eigene Gegenwart, wie es in der Rede von der Jugend oder dem Alter zum Ausdruck kommt.

■ Stärker als die Gegenwartsmomente und die Kontaktprozesse sind die Lebensabschnitte überschattet von den zukünftigen Phasen der Naturgeschichte des eigenen Lebens. Das Kleinkind lebt noch im Licht der reinen Gegenwart. Sobald aber das Gehirn reif genug ist für ein differenzierteres Zeiterleben, tritt die Zukunft als Hort der Wunscherfüllung und als Schreckgespenst des jeweils drohenden Endes ins Bewusstsein. Nicht alle Wünsche werden Hier-und-Jetzt erfüllt, manches muss warten auf ein Dann und Dort: »In den Sommerferien fahren wir ans Meer, und dann kannst du jeden Tag baden! Weihnachten fahren wir zur Oma, und dann bekommst du die große Puppe, die du dir wünschst.« Aber schon früh ist die Zukunft auch bedrohlich: »Papa hat jetzt eine Arbeit in der Stadt gefunden und dann kommst du dort in eine neue Schule.«

In der immer länger werdenden Phase der Selbstfindung, die mit der Pubertät beginnt, besteht die Zukunft, die dann allmählich immer mehr die Gegenwart überschattet, heute oft nur noch aus Nebel und Wolken. »Unbekümmerte Jugend«? – dies ist heute kaum noch zu finden, zu sehr lasten die Sorge um die Berufsfindung und der Druck der Leistungskonkurrenz, die der digitale Kapitalismus erzwingt.

In der Phase des eigentlichen Erwachsenendaseins dagegen kommt die Gegenwart wieder zu sich selbst; Zukunft und Vergangenheit rücken in die Ferne, während die gegenwärtigen Lebensaufgaben in den Vordergrund treten. Allerdings schrumpft die Gegenwart dann häufig auf andere Weise doch wieder: beruflicher Aufstieg und die Probleme der Kinder lassen immer weniger Zeit für Liebe und Muße. Geradezu tragisch ist, dass es dann oft gerade kreative berufliche und private Projekte sind, mit denen man sich ein bisschen eigene Autonomie noch gegenüber den beruflichen Leistungsanforderungen und den Ansprüchen der Kinder retten will, die dann vollends dafür sorgen, dass die Zeit immer knapper wird – zunehmender Stress mit der entsprechenden Bedrohung durch Krankheit ist die Folge.

Wo früher zumindest in den mittleren Einkommensgruppen der Zenit des Lebens erreicht wurde, fällt heute der Mensch, wie wir im ersten Abschnitt dieses Teils gesehen haben, oft in ein tiefes Tal der Unzufriedenheit, das allenfalls dem der Pubertätszeit gleichkommt (M. Horx, 2011, 137/139). Das hängt offenbar mit der Verlängerung unserer Lebenserwartung zusammen – plötzlich überschattet die Zukunft wieder die Gegenwart. Der berufliche Aufstieg stockt, das Ende der Fahnenstange ist in Sicht, womöglich droht gar Verlust des Arbeitsplatzes, vorzeitige Ausmusterung aus der Arbeitswelt. Die Kinder sind aus dem Haus, liegen einem aber häufig dennoch auf der Tasche, das Gelingen der nun notwendig werdenden Neujustierung der Beziehung bleibt ungewiss – auch in diesem Lebensbereich scheinen die Alternativen zu schwinden.

Die Krise der Lebensmitte hat sich seit den Siebziger-Jahren, als der Begriff der »Midlife-Crisis« erstmals in der Literatur auftauchte, von damals im Alter von vierzig bis fünfzig auf heute fünfzig bis sechzig Jahre verschoben. Diese Krise ist keine psychische Erkrankung, es gibt keinen anerkannten Katalog von Symptomen für sie, sie ist wissenschaftlich ein Phantom. Dennoch gehören zur Lebensphase zwischen der klassischen Erwachsenenzeit und dem beginnenden Alter Deutungsaufgaben, die oft krisenhaft erlebt werden. »War das schon alles? Hat sich so viel Mühe gelohnt? Nicht mal die eigenen Kinder danken es einem! Was soll ich mit meinem Leben noch anfangen? Gibt es noch einen Sinn in meinem Leben?« Erik Erikson, dem wir eines der besten psychologischen Modelle der Lebensstadien verdanken (E. Erikson, 1992) charakterisiert diesen Lebensabschnitt immerhin mit den Polen Verzweiflung versus Ich-Integrität. Wie bei jedem Lebensabschnitt geht es nach Erikson auch hier darum, die eigene Ich-Identität durch die Lösung einer existenziellen Lebensaufgabe zu bewahren und weiterzuentwickeln, nämlich sich mit dem zu identifizieren, was man zu geben bereit ist.

Dass jede Phase dieses je einmaligen Lebens ihre eigene Gegenwart gegenüber dem Leben als Ganzes hat, bewahrheitet sich noch einmal im Alter, das heute nicht mehr bloßes Dahinsiechen ist, sondern ein Lebensabschnitt, der seine eigenen existenziellen Aufgaben mit sich bringt, die aber nicht in der Hinnahme des Todes aufgehen – obwohl der nun unübersehbar in die Nähe gerückt ist. Das überkommene und den Ängsten entsprechende Bild vom Alter täuscht uns hier leicht, denn wir sehen jetzt mehr Menschen mit Altersbehinderungen denn je, weil es eben überhaupt immer mehr alte Menschen gibt.

■ Bei allen psychologischen und kulturellen Überlagerungen zeigt sich, dass die Lebensabschnitte wesentlich von unserer Körperlichkeit bestimmt sind. Jenseits aller Sehnsüchte und Ängste bleiben wir an die Zustände unseres Körpers gebunden. In meinem individuellen Leben bin ich nicht in diese unvorhersehbare Spanne meines ganzen Lebens in »einmaliger Gegenwart« eingebunden, sondern ich lebe in der jeweiligen Gegenwart meines Lebensabschnitts, in der mein Körper mich als kindhaft oder erwachsen, als stark oder schwach oder eben auch als fruchtbar oder unfruchtbar festlegt.

Es gehört zu den Aufgaben eines gelingenden Lebens, sich mit der Tatsächlichkeit des eigenen Körper zu identifizieren. Wenn man sein Alter verleugnet, sich als älter oder jünger ausgibt, führt das immer zu Stress und Enttäuschung. Das gleiche gilt, wenn man seine Behinderungen auch vor sich selbst noch versteckt und wenn man seine Krankheiten verdrängt: Früher oder später wird die Diskrepanz zwischen dem Vorgeblichen und dem Realen offenbar. Und immer obsiegt dann der Körper, immer erweisen sich die Gesetze der Natur als stärker. Auch an dieser Stelle offenbart sich das Hier-und-Jetzt-Prinzip als heilsam:

Ein achtsamer Umgang mit dem eigenen Körper, der ihn pflegt und seine Stärken kultiviert, wird ihn nicht überfordern, wird seine Grenzen liebevoll respektieren. Schließlich auch seine Ermüdung und seinen Tod gelassen und mit Dankbarkeit hinzunehmen, das ist wohl die höchste Entfaltung der Lebenskunst: die ars vivendi gipfelt in der ars moriendi.

Wie immer im Leben kommt es besonders auch im Umgang mit dem eigenen Körper auf das richtige Maß an. Seit die körperliche Arbeit im Freien immer seltener wird, gehört die Stärkung des Körpers durch geeigneten Ausgleichssport gewiss zu einem achtsamen und liebevollen Umgang mit ihm. Leistungssport, das könnte heute jeder wissen, ist ungesund, führt zu Enttäuschungen und verfrühtem Altern, denn er überfordert den Köper oder fördert ihn nur einseitig – und tut auch der Seele nicht gut, denn er verleitet zu falschen Werten: einseitige Leistungsorientierung, einseitige Huldigung der wenigen Sieger, die Fixierung auf die ungerechte und lieblose One-takes-all-Regel, ungutes Konkurrenzverhalten, problematische Heldenverehrung.

 

■ Wichtig ist dennoch stets, den Körper ausreichend in Bewegung zu halten. Sorgsam zu unterscheiden aber sind Sportarten, die uns in einen Rausch versetzen oder die uns an und über unsere Grenzen hinaus führen, von Sportarten, die uns zugleich mit einer Stärkung auch zu einem meditativen Gewahrsein unseres Körpers verhelfen, wie es bei manchen Körpermeditationen oder asiatischen Selbstverteidigungskünsten (z. B. beim chinesischen Tai Chi oder den japanischen Aikido- und Kinomichi-Disziplinen) der Fall ist. Denn der Körper ist die räumliche Dimension unserer Seele – was wir diesem antun, verletzt immer auch jene (vgl. dazu auch Abschnitt III, 3 dieses Buches).

Die »einmaligen Gegenwarten« der Lebensabschnitte haben also ihre Kernbedeutung im Erleben unserer Körperlichkeit. Obwohl sich unser Körper in ständiger Entwicklung und Wandlung befindet, werden diese Lebensabschnitte dennoch als eine andauernde Gegenwart erlebt, freilich normalerweise mit wenig Gewahrsein. Denn der Körper wird stets so lange als selbstverständlicher, unproblematischer Hintergrund unserer Lebensvollzüge erlebt, wie er funktionstüchtig bleibt oder dafür gehalten werden kann. Leider entwickelt sich ein differenzierteres Körperbewusstsein meistens erst mit Krankheiten oder Unfällen und dem Älterwerden. Das ist unglücklich, weil nun das Augenmerk ganz auf die Störungen gerichtet wird, statt auf die vielen subtilen Freuden, die uns unser Körper und besonders unsere Sinne zu schenken vermögen. Wenn es notwendig und gut ist, dass der gesunde Körper für uns im Hintergrund der meisten unserer Kontaktprozesse bleibt und nicht etwa Gegenstand hypochondrischer Aufmerksamkeit wird, so offenbart doch gleichzeitig eine Öffnung und Schärfung unserer Sinne, die in unserer technischen Kultur immer weiter zu verkümmern drohen, eine Quelle subtiler Freuden, auf die niemand verzichten sollte (z. B. durch Sensory Awareness – Übungen: Ch. Selvers, 2005).

Wenn es richtig ist, dass unsere Kultur dem Köper nur einseitige und den Sinnen ganz und gar nicht genug Aufmerksamkeit schenkt, so ist die Ausnahme davon sein Aussehen. Schon immer war das Aussehen in der Öffentlichkeit der je relevanten Bezugsgruppen und Gemeinschaften die wohl wichtigste, freilich nur scheinbar stabile Quelle des Selbstbewusstseins. Neu ist, dass die alles durchdringende Macht der Medien dazu geführt hat, dass immer häufiger das Ansehen auf das Aussehen angewiesen ist. Gut auszusehen wird offenbar mehr und mehr zu einer notwendigen Vorbedingung, um Ansehen auch für andere Attribute und Leistungen zu gewinnen. Schon die Kleinen beginnen sich Sorgen um ihre Erscheinung zu machen.

■ Nun gibt es inzwischen gegen diese die Menschen unserer Gesellschaft von der Kindheit bis ins Greisenalter beherrschende Sorge allerhand Abhilfe durch eine Fülle von Mitteln und Techniken, die industriell angeboten werden. Dabei kommt es zu massenhaften Modeerscheinungen, die vor keiner Körpergrenze halt machen. In den Siebziger-Jahren war ich erstaunt zu entdecken, dass in den USA damals Achselhaare auch bei einem Mann als »eklig« galten, eben unzivilisiert; heute sind auch hierzulande plötzlich bei den Jüngeren sogar die Schamhaare nicht mehr angesagt.

Wir werden uns nie gleichgültig gegenüber unserem eigenem und dem Aussehen anderer verhalten können; zu sehr bleibt unser Aussehen immer Ausdruck von Persönlichkeit und Status, von Zugehörigkeit und Eigenwilligkeit, mit dem wir erkannt werden wollen als das, als was wir erscheinen möchten – und sind doch zugleich darauf angewiesen, hinter der Erscheinung der anderen die ihnen eigene Wirklichkeit zu erfassen. Das ist ein ewiges Spiel von Masken, zu denen auch diejenigen gehören, die Authentizität zum Ausdruck bringen wollen. Spielen wir es ruhig mit, denn hinter allen Masken, allen Rollenspielen sind wir nackt, da gibt es nichts zu sehen, weil wir uns in unseren Masken oder Rollen verkörpern und nur so zum Ausdruck bringen können.

»Nichts ist der Mensch ›als‹ Mensch von sich aus, wenn er, wie in den Gesellschaften modernen Gepräges, fähig und willens ist, diese Rolle und damit die Rolle des Mitmenschen zu spielen: nicht blutgebunden, nicht traditionsgebunden, nicht einmal von Natur frei. Er ist nur, wozu er sich macht und versteht. Als seine Möglichkeit gibt er sich erst sein Wesen kraft der Verdoppelung in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht. Diese mögliche Identifikation eines jeden mit etwas, das keiner von sich aus ist, bewährt sich als die einzige Konstante in dem Grundverhältnis von sozialer Rolle und menschlicher Natur.« (H. Plessner, 1976, 69)

So lehrt es die philosophische Anthropologie und feiert damit auch die Freiheit der Moderne. Dazu gehören dann auch die Flexibilität des Schauspielers und seine Lust an der Darstellung: Es braucht schon mehrere Rollen, um uns voll auszudrücken! Wenn wir mit einer einzigen Rolle verwachsen, so wird diese erst wahrhaft zur Maske, hässlich und in ihrer Starre unsere Lebensmöglichkeiten beengend.

Auch hier also gilt es, Maß und Mitte zu finden. Gegen die Korrektur einer allzu krummen Nase ist nichts einzuwenden, kein Mädchen sollte Hässlichkeit als gottgewollt erleiden müssen. Der eigenen Schönheit des Alters aber operativ entgegenwirken zu wollen, zeugt von Blindheit oder Geschmacklosigkeit. Heraus kommt dann statt Unterstützung und Hervorhebung der Schönheit meistens nur eine starre und darum hässlichere Maske. Künstlichkeit ist noch nicht Kunst, und selbst diese übersteigert nur selten die Natur.

Es ist für ein gelingendes Leben wichtig, sich mit dem eigenen Lebensabschnitt und darin besonders mit dem Status des eigenen Körpers zu identifizieren. Erst dann kann dieser Lebensabschnitt auch im jeweiligen Hier-und-Jetzt seiner eigenen Gegenwart voll gelebt werden.

Das Thema dieses Abschnitts wird unter dem Aspekt von Entwicklung und Reifung fortgeführt im Teil II (Kapitel 8: Lebenskrisen als Übungsfelder).