Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust

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Paradoxerweise ist es gerade der private und staatliche Sicherheitswahn, der der Verdrängung der wahren Risiken Vorschub leistet. Das wird durch zwei Faktoren begünstigt: die abstrakte Größe der Gefahren und zum Teil auch ihre abstrakte Qualität wie bei der sinnlich nicht erfahrbaren nuklearen Strahlung einerseits, und dem Gefühl der Ohnmacht gegenüber den großen und als abstrakt erlebten Systemen der Politik und der Wirtschaft andererseits. Was als unmittelbar erlebbar erfahren wird, ist dagegen weniger Verdrängungen ausgesetzt: Übereinstimmend zeigen alle entsprechenden Untersuchungen, dass die Hauptsorge der meisten Menschen ihrer Gesundheit gilt – obwohl wir so gesund sind und so lange leben wie nie zuvor, weshalb sie als Glücksfaktor fast nur von alten Menschen wahrgenommen wird.

In der Tat ist also gesellschaftlich gesehen das Leben nicht nur abenteuerlich im Sinne von reich an Überraschungen, sondern auch im Sinne von ungewiss und gefährlich – auch wenn die wirklichen Gefahren vielfach verdrängt werden. Im Bewusstsein des Einzelnen aber stehen die Gefährdungen des »normalen« Lebens im Vordergrund: Bleibt mir meine Gesundheit erhalten? Werde ich diese Prüfung bestehen? Schaffen meine Kinder den Hauptschulabschluss, das Gymnasium, das Abitur, die Gesellenprüfung, die Fahrprüfung usw.? Werde ich meine Arbeit verlieren? Habe ich noch Aufstiegschancen? Bleibt mir meine Frau / mein Mann treu? Übernehme ich mich bei diesem Kredit für den Hausbau? Komme ich ohne Stau durch? Es sind die vielen privaten alltäglichen Ängste, an denen sich die starken Sicherheitsbedürfnisse entzünden, und es ist die außerordentliche Komplexität und Unübersichtlichkeit des modernen Lebens, die sie schüren.

■ Das ist dann der Punkt, an dem der Satz »Sich in das Abenteuer des Lebens stürzen« einen normativen Gehalt bekommt. Gestalttherapie lehrt, dass es sich lohnt, dass es uns inneren Reichtum und innere Reife schenkt, wenn wir uns auf das Leben voll einlassen, nämlich

– mit Leidenschaft,

– ohne Rücksicht auf verinnerlichte Normen und Lebensskripte,

– unseren Gefühlen ebenso folgend wie unserem Verstand,

– immer auf das Leben selbst setzend,

– nicht auf bürokratische oder ökonomische Sicherheit bauend,

– sondern stattdessen den eigenen schöpferischen Kräften vertrauend.

Von solcher Art ist das Selbstvertrauen, das in der Gestalttherapie aufgebaut und geübt wird. Jede »Gestaltarbeit«, d. h. jede therapeutische Begegnung zwischen Gestalttherapeut und Klient, ist ein Abenteuer in dem Sinn, dass keiner von beiden weiß, wohin diese Begegnung, dieser Tanz, sie führen wird. Es ist immer ein Sich-Einlassen auf das Unbekannte. Oft führt dieses Abenteuer zunächst in eine Sackgasse, in der der Patient das Gefühl hat, dass es nicht weitergeht. Seine Energie implodiert und steht als Kraft für den Kontaktprozess nicht mehr zur Verfügung, weil er sie »retroflektiert«, d. h. auf sich selbst zurückwendet, so als würde er mit sich selbst Fingerhakeln spielen. Das Haupthindernis, aus der Sackgasse herauszukommen, sind seine Katastrophenängste. Klinische Beobachtung zeigt, dass diese Katastrophenängste umso stärker und unrealistischer werden, je stärker ein Mensch »retroflektiert«. Gestalttherapie setzt hier auf die verändernde Kraft des Gewahrseins. In den Worten von Fritz Perls: »Ich bin überzeugt, dass wir die Sackgasse überwinden können, vorausgesetzt wir widmen der Art und Weise, wie wir fest hängen, unsere volle Aufmerksamkeit.« (PHG, 174). Dann entdeckt und erfindet der Patient eine neue Lösung, einen Weg aus der Sackgasse, und entdeckt dabei Kräfte in sich selbst, die sein Selbstvertrauen, seinen Lebensmut, stärken.

Angst ist ein sehr unangenehmes Gefühl, auch wenn es sich nicht um die Furcht vor einer konkreten gegenwärtigen Bedrohung handelt, sondern um das Gefühl einer unbestimmten Angst vor nur vage vorgestellten, unklaren, eventuell nur eingebildeten Gefahren. Und das ist eben genau dann der Fall, wenn wir stark »retroflektieren«, denn dann fehlt uns die lebendige Erfahrung mit dem Teil unserer Umwelt, den wir vermeiden. Wird der Chef, mit dem ich noch nie gesprochen habe, mir wirklich demnächst kündigen, wenn ich ihn um ein paar Tage zusätzlichen Urlaub bitte, um mich um meine kranke Mutter zu kümmern? Konzentrieren wir uns auf die Lähmung des Handlungsimpulses, dann wird das Erfahrungsfeld, (die »Kontaktgrenze«) zwischen mir und dem jeweils relevanten Umfeld sofort differenzierter und lässt nun Platz für unsere kontra-phobischen Kräfte. Die (schmerzvolle) Konzentration darauf, wie wir uns blockieren, mobilisiert die Energie des unterdrückten Lebensmuts und macht uns frei für schöpferische Lösungen (für die »kreative Anpassung«). Dabei helfen uns in der Gestalttherapie die sogenannten Gestalt-Experimente; und im Leben ein risikofreudiges, aber nicht leichtsinniges, in einer Haltung von Versuch und Irrtum lustvolles Ausprobieren – kurz: ein abenteuerfreudiges und zugleich leidenschaftliches Herangehen an die aktuell vorliegenden Aufgaben.

Gehen wir also in das Abenteuer des Lebens hinein

– mit dem Mut des Vertrauens auf die eigenen Kräfte,

– mit Vorsicht im Hinblick auf unsere Schwächen,

– mit Umsicht im Hinblick auf die Ressourcen in unserer Umwelt,

– mit Rücksicht auf unsere Mitmenschen

– mit Nachsicht gegenüber unseren Feinden, denn sie sind uns ähnlicher als wir glauben,

– und mit der lebendigen Leidenschaft, die uns zum Risiko befähigt.

2. Neugier und Wissensdurst pflegen

Jedes Kind betritt diese Welt voller Neugier: Kaum ist es geboren, versucht es schon seinen eigenen Körper und dann seine Umgebung mit seinen Händchen zu erfassen. Nach und nach erwachen seine Sinne, deren jeder ein Kontaktorgan (= eine zentrale »Ich-Funktion des Selbst«) ist, mit dessen Hilfe das Kind eine komplexe, multidimensionale Welt zugleich entdeckt und erfindet. Wie Perls und Goodman sprechen wir hier nicht nur von »entdecken« , sondern auch von »erfinden«, weil unser die Sinnesdaten verarbeitendes Gehirn die Wirklichkeit in einer ganz bestimmten begrenzten Weise zeigt bzw. aus diesen Daten eine Realität konstruiert, die dann bei kommunikativer Bestätigung durch andere und praktisch-funktionaler Bewährung zu dem wird, was wir für die Wirklichkeit halten.

Bei allen höheren Säugetieren schon gibt es ein Neugier-Verhalten, das eng mit der Spielphase bei den Heranwachsenden verbunden ist. Der evolutionäre Sinn dieses Verhaltens ist natürlich, dass die Tiere ihre Sinne erproben und dabei ihre Umwelt kennen lernen, z. B. wo sich ihre Nahrungsquellen befinden und wo auch die Gefahren lauern. Die Säugetiere haben sich so entwickelt, dass es zu ihrer Natur gehört, die Welt aktiv zu erkunden, sich also neugierig auch dem Unbekannten zuzuwenden, insbesondere in der Spielphase der Aufwachsenden, wenn es um die Ausbildung der senso-motorischen Funktionen geht.

Erst recht aber beim Menschen ist dieses Erkunden und Erforschen nicht allein auf die Kindheits- und Jugendphase ihrer Entwicklung beschränkt, sondern, wenn er nicht daran gehindert wird, ein lebenslanges Grundmuster seines In-der-Welt-Seins. Genauso wie bei den Tieren ist dabei wichtig, dass die Neugier angeregt wird durch reiche Stimuli in der Umwelt. Bei einer reizlosen Umwelt verkümmert die Neugier. Es ist auch hier wieder, wie die verhaltensbiologische und die psychologische Forschung bestätigt, die Wechselwirkung von Umweltreiz und Interesse, die an ihrem Berührungspunkt, gestalttherapeutisch gesagt an der Kontaktgrenze, zu Erfahrungen führt, die die Intelligenz steigern und das Wissen vermehren.

■ Die Gestalttherapie sieht neben den biologischen Grundbedürfnissen zwei andere Grundbedürfnisse, die einigermaßen erfüllt sein müssen, damit Menschen überleben und wachsen können:

1. das Bedürfnis nach Sicherheit, das dem Überleben gilt

2. das Bedürfnis nach dem Neuen, das allein in der Umwelt zu finden ist

Der bekannte amerikanische Gestalttherapeut Michael Vincent Miller geht so weit zu sagen, dass Neugier in der Theorie der Gestalttherapie gleichbedeutend sei mit dem, was für die Theorie der Psychoanalyse die Libido ist, also die Grundkraft (»the elemental shaping force«), die das Wachstum und die Entwicklung vorantreiben (M. V. Miller, 1987). In seinen Worten: Der Begriff der »Neugier passt bestens zur phänomenologischen Basis der Gestalttherapie, denn es ist ein ›intentionaler‹ Begriff; d. h. er verbindet Gewahrsein mit Aggression in der Bedeutung, in der Gestalttherapie diese Begriffe benutzt, in dem die subjektive Erfahrung eines Selbst mit anklingt, das seine Sinngebungen und Absichten an die Welt hinaus richtet.« (22, meine Übersetzung, HPD).

Sicherheitsstreben und Neugier müssen sich also die Waage halten (T. Kashdan, Curious?, 2009). Fast immer soll erst das körperliche Überleben gewährleistet sein, bevor sich der forschende Geist aufmacht, die Welt zu erkunden. Gesellschaftlich aber ist nun, wie wir gesehen haben, in der westlichen Welt die Waagschale tief auf die Seite der Sicherheit gesunken. Während für die meisten in dieser Gesellschaft die Befriedigung der Grundbedürfnisse gesichert ist – kaum jemand hungert oder friert, nur wenige sterben noch an Seuchen und wir leben länger und gesünder denn je – versichert man sich gegen immer mehr Risiken des Lebens und sorgt sich ständig um die eigene Sicherheit in der Öffentlichkeit. Dabei ist, wie wir bereits unter Berufung auf Steven Pinker festgestellt haben, die Chance gewaltlos zu leben und gewaltlos zu sterben heute so groß wie nie zuvor in der Geschichte.

Das deutsche Wort Neugier enthält schon seine eigene Negation. Bei der Gier nach etwas Neuem würde man heute eher an problematische Formen des Konsumverhaltens denken als an das, was das lateinische Wort curiositas, aus dem sich die entsprechenden Worte in der englischen und in den romanischen Sprachen ableiten, eigentlich meinte, nämlich unseren Wissensdurst, diese vielleicht tiefste und menschlichste unserer Leidenschaften. Für die antike Philosophie von Aristoteles bis zu Seneca stand fest, dass alle Menschen von Natur aus neugierig sind. Als aber das Christentum seinen Siegeszug antrat, wurde die Neugier zu einer überflüssigen Ablenkung von der Offenbarung, die keiner Ergänzung mehr bedurfte.

 

■ Nachdem die Kirchenväter Tertullian und Augustin die Neugier als eine Sünde verdammt hatten, blieb sie für über tausend Jahre verdächtig, allenfalls zur Ketzerei zu führen. Und sie wurde zu einer weiblichen Eigenschaft: War es nicht Eva gewesen, die Adam verführt hatte, vom Baum der Erkenntnis zu essen? Und konnte man nicht zu allen Zeiten beobachten, dass die Frauen stets von Neugier getrieben sind?

Erst die neuzeitliche Transformation der Neugier in den Wissensdurst des Forschers rehabilitierte sie als eine Tugend, die damit freilich auch den Frauen aus der Hand genommen wurde. Es war »der Prozess der theoretischen Neugierde«, wie der Philosoph Hans Blumenberg es in seinem berühmten Buch genannt hat (H. Blumenberg, 1977), der das (zumindest der wissenschaftlichen Erkenntnis dienende) Fragen wieder gesellschaftlich legitimiert und damit einen enormen Entwicklungsschub ausgelöst hat, der bis heute anhält und der erst zur Mechanisierung der Welt (S. Gideon, 1982) und zur heutigen Digitalisierung unseres Alltagslebens geführt hat.

Oberflächlich gesehen scheint die Zeit, in der die Wissbegierde der Kinder durch ein rasches »Sei nicht so neugierig!« schon frühzeitig gedrosselt wurde, endgültig vorbei zu sein. Die elende Geschichte der Verdammung der Neugier als Sünde, die von Augustins Warnungen vor der Curiositas bis zur Verfolgung der Naturforscher durch die Inquisition in der frühen Neuzeit reichte, scheint beendet. Bei genauerem Hinsehen ist der Wissensdurst, dieser wunderbare Urtrieb des Menschen, heute aber erneut gefährdet, und zwar durch seinen eigenen Erfolg. Er trifft nämlich nun auf eine doppelte Hemmschwelle. Einerseits wird unser Wissensdurst gedämpft durch unsere eigenen Risiko-Ängste, die ständig von Katastrophenmeldungen und Katastrophenfantasien aller Art genährt werden, denen wir doch mit schaudernder Neugier unsere Aufmerksamkeit schenken. Andererseits wird er leicht frustriert durch die Überfülle der im Internet leicht zugänglichen Daten – Informationen also, die erst noch zu Wissensbeständen verbunden werden müssen.

■ Oft wird dieser mühselige Prozess heute durch eine Transformation komplexer Wissensbestände in Bilder durch die Medien umgangen, die dadurch eine Wirkmächtigkeit gewinnen, die weit über den Erkenntniswert von Illustrationen hinausgeht. Inzwischen scheinen die Bilder zuweilen sogar die wissenschaftliche Erkenntnis vor sich her zu treiben. Zum Beispiel sorgen die bildgebenden Verfahren dafür, dass die medizinische Diagnostik inzwischen die therapeutischen Möglichkeiten der ärztlichen Kunst weit hinter sich gelassen hat; in der Gehirnforschung scheinen sie sogar zuweilen die Erkenntnis selbst zu ersetzen – so groß ist ihre Faszination. Der Grund für den Erfolg der Bilder ist ihr Versprechen, die übergroße Komplexität der Wirklichkeit so zu reduzieren, dass sie leichter zu erfassen und handlungs-motivierender ist – allerdings auf Kosten der analytischen Erkenntnis.

Gegen die Gefahr der Verdummung durch die Bilder hilft, ihnen mit eigener Gestaltungskraft zu begegnen. Die Gestalttherapie hat von vornherein (durch den Einfluss von Laura Perls) immer auch auf die Kraft der schöpferischen Arbeit mit künstlerischen Medien vertraut. Das sollte aber nun nicht mehr als Gegensatz zur technischen Welt begriffen werden, sondern als ein produktives Miteinander. Vielleicht ist das malerische Werk von Gerhart Richter deshalb weltweit so außergewöhnlich erfolgreich, weil ihm das mit der Kombination von Fotografie und Malerei so wunderbar gelungen ist. Und weil er im Gegensatz zu der fast gesamten sonstigen Gegenwartskunst nie aufgegeben hat, nach der Schönheit zu suchen.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass der Erkenntniszuwachs, den wir der wissenschaftlichen Forschung verdanken, zwar nicht im Detail, aber doch aus einiger Distanz gesehen, der Bewegung konzentrisch sich ausdehnender Kreise folgt: Forschungsergebnisse sind wie Steine, die in einen stillen Teich geworfen werden: Sie verursachen eine Vermehrung des Wissens, das sich im ruhigen Wasser wie Kreise ausbreitet, wobei sich aber zugleich immer auch die Grenze zum Nicht-Wissen vergrößert. In der Wissenschaft wirft jede gelöste Frage sofort eine Fülle von weiteren Fragen auf. Mit dem Wissen nimmt stets das Nicht-Wissen zu! Die Wissenschaft ist, wie Victor Hugo scharfsinnig bemerkt hat, zu einem Perpetuum Mobile geworden, einem System, das sich unendlich aus eigener Kraft fortbewegt (so berichtet von H. Weinrich, 2005). Dadurch erscheint die Wirklichkeit in dem Maße immer komplexer, verwirrender und unklarer, je mehr wir über sie wissen. Das führt aber zu einer verbreiteten Desorientierung nicht nur in weltanschaulichen Fragen, sondern zunehmend auch bei Fragen des Alltagslebens, so wie sich dieses allmählich verwissenschaftlicht.

■ Nicht nur die Bilder versprechen Erlösung von der Überfülle der Daten und der Mühe der Erkenntnis. Die viel größere Gefahr geht heute von der weltweit sich ausbreitenden Tendenz aus, der Komplexität der modernen Welt durch eine Fundamentalisierung von Glaubensüberzeugungen und Verhaltensvorschriften zu begegnen, die den Menschen die Anstrengung einer selbstständigen Orientierung abnehmen – um den Preis ihrer Freiheit. In welcher Gestalt er auch einher kommen mag, ob in christlicher, jüdischer oder islamischer Prägung oder in säkularem Gewand wie bei manchen Vegetariern, fanatischen Umweltschützern, Gesundheitsaposteln und Esoterikern, es scheint so, dass der Fundamentalismus ein Schatten der Aufklärung ist.

Dem lässt sich nicht durch liberalere oder noch orthodoxere Glaubensvorstellungen und nur schwer durch Wissenschaft und Technik entgegen wirken. Wissenschaft bedarf dringend der seriösen Vermittlung an ein breiteres Publikum (weshalb der Beruf des Wissenschaftsjournalisten und Sachbuchautors für unsere Kultur besonders wichtig ist). Und Technik braucht im Zeitalter der elektronischen Revolution dringend die Vereinfachung der »Benutzeroberflächen«, der Handhabung überhaupt. Was uns aber im Tieferen fehlt, was immer mehr vernachlässigt wird, ist ein handgreiflicher Zugang zur Natur für die Kinder und ein meditativer Zugang zur Natur für die Erwachsenen.

Kinder sollten ihrer Neugier insbesondere in der Natur nachgehen können. Sie brauchen als kleine Kinder die Möglichkeit, die natürliche Welt buchstäblich zu begreifen, mit den Händen, denen die Sinne folgen werden, das Holz, die Steine, das Gras, die Strömung des Baches zu erfassen, um einen Sinn für die gewachsene Materialität unseres Kosmos zu entwickeln. Und sie brauchen die Möglichkeit, beim Bauen, Basteln und Konstruieren in der Natur, also beim Umgestalten des natürlich Vorgefunden, die Widerständigkeit der Materie zu erfahren und daran ihre Kreativität zu entfalten, zu lernen also, was ursprünglich Arbeit hieß. Vor allem sollten sie nicht zu früh mit mechanischen und automatischen Spielzeugen verwöhnt werden, denn mit ihnen erleben sie vorschnell und falsch eine mühelose Welt, in der sie selbst die Herrschaft per Kopfdruck ausüben.

Jugendliche dagegen müssen natürlich in ihrem Wissensdrang angeregt und gefördert werden, wie es schon immer die Hauptaufgabe der Schule war. Heute aber ist das Erlernen eines kreativen und besonnenen Umgangs mit den Medien vordringlich. So wie der Fernseh-Konsum nachweislich für Kinder schädlich ist (u. a. M. Spitzer, 2006), so problematisch ist es, die Jugendlichen mit den neuen Wissens- und Kommunikationsmedien allein zu lassen. Hier muss der allzu oft verschüttete oder in depressiver Resignation erstarrte Wissensdurst der Erwachsenen wieder belebt und unterstützt werden. Inzwischen ist klar: Die Erwachsenen dürfen bis ins Alter hinein das Feld der (gar nicht mehr so neuen) Medien nicht den Jugendlichen überlassen, sondern sollten im Gegenteil den Umgang mit ihnen souverän beherrschen lernen, denn nur so können sie ihn mit ihrer Lebenserfahrung füllen und zivilisieren. Lassen wir uns also ermutigen durch die gute Nachricht aus der Wissenschaft, dass unser Gehirn bis ins hohe Alter hinein neue Zellen bilden kann und das heißt lernfähig bleibt!

Lernen kann in jedem Lebensalter Freude machen, wenn wir unsere »Introjekte« abschütteln, wie z. B. »Das kann ich nicht!«, »Das ist nur was für Männer!«, »Ich brauche Kontakt mit Menschen aus Fleisch und Blut, sonst kann ich nicht lernen!« und was es an dergleichen Vorurteile mehr gibt. Wir brauchen eine kollektive Aufrüstung unseres Wissens über den geschickten und vernünftigen Gebrauch der elektronischen Medien, und die muss anstatt auf den Staat zu warten selbst organisiert werden: Es sollte der Tag kommen, und möglichst bald, an dem die immer mehr werdenden Omas und Opas dies ihre Enkel lehren und nicht umgekehrt.

■ Das Hauptproblem, das das Internet aufwirft, ist die Verwechselung von Information mit Wissen. Das ist der Punkt, wo die Älteren, die Erfahrenen gefragt sind. Alle Behauptungen, dass es nur einiger Stunden des Surfens im Internet bedürfe, um sich Bildungswissen oder juristisches, medizinisches oder naturwissenschaftlich-technisches Fachwissen anzueignen, sind schlicht falsch. Eine Menge richtiger Daten machen noch keinen Wissensbestand aus, denn es fehlt ihr die Verknüpfung, das Systematische, die Einbettung in andere Wissensbestände, und nicht zuletzt das Bewusstsein ihrer Begrenztheit. Das alles stellt sich erst durch professionelles Lernen und durch professionelle Erfahrung her, die sich in den Kapazitäten des Könnens und der gelingenden Intuition beweisen. Gestalttherapeutisch gesagt: Eine Datenmenge neigt von sich aus nicht zur Figur-Bildung, sondern im Gegenteil zu einer das Gehirn lähmenden Zerstreuung. Das Internet ersetzt nicht echtes Lernen, führt nicht von sich aus zu Erkenntnissen.

Eine andere, aber mit der Verwechselung von Datenmengen mit Erkenntnissen zusammenhängende gefährliche Verführung durch das Netz ist die Bildung vorurteilsgeleiteter Hass-Meuten. Zum Beispiel im Fall der öffentlichen Verhaftung eines Verdächtigen, der sich als unschuldig erwies, in einem Kindermordfall im Jahr 2012 durch die Polizei in Emden, bildete sich im Handumdrehen im Internet eine Meute von Anklägern und Verfolgern, die bis zur Aufforderung zur Lynchjustiz ging. Der zu Unrecht Verdächtigte wurde zur Flucht aus seiner Heimatstadt getrieben. Auch das ist eine verheerende Form der Reduktion von Komplexität: Offenbar sind bei derart emotional aufgeladenen Fällen wie einem Kindermord die Ungewissheit über den Täter und die aufgestauten Rachegefühle so schwer auszuhalten, dass die Bereitschaft zu vorschnellem Urteilen enorm steigt.

Das war immer schon so. Das Internet und die sozialen Netzwerke erleichtern aber eben nicht nur die Organisation von Revolten, sondern auch die Bildung von Hass-Meuten, und das umso mehr, als diese Neigung zu schnellen, unfundierten Urteilen und Verurteilungen in den Internetforen durch das Tempo und die Anonymität des Netzes täglich gefördert wird. Das Internet ist ein Instrument, ein nützliches Werkzeug, das wie alle Werkzeuge missbraucht werden kann. Man sollte das nicht als eine polizeiliche, sondern als eine Bildungsaufgabe sehen: Der richtige, und das heißt auch der ethisch verantwortliche Gebrauch dieses Werkzeugs muss von den Eltern und Großeltern gelehrt und auch in der Schule unterrichtet werden.

■ Es geht eben um Praktisches: Gestalttherapie interessiert sich nicht dafür, was die Wahrheit ist, sondern wie wir leben können. Unser Wissensdurst ist unsere vitale Antriebskraft, weil wir unsere Bedürfnisse nur befriedigen können durch das, was wir in unserer Umwelt vorfinden und gestalten können, und durch das, was dem Organismus grundsätzlich neu und fremd ist, also was er sich auf diese oder jene Weise erst zu eigen machen muss. Das geht nicht ohne eine gesunde Reduktion von Komplexität, die jeder Umgestaltung der vorgefundenen Umwelt innewohnt: Die Gestalt – die Figur – muss sich leuchtend und prägnant vor einem Hintergrund abheben, damit wir sie erfassen und uns mit ihr identifizieren können. Diese Reduktion von Komplexität folgt nicht den Spuren der Wahrheitssuche, sondern dem Interesse an Bedürfnisbefriedigung. Und deshalb führt sie auch weder zur Verzettelung in Datenmengen noch zur Erstarrung in simplifizierten Gottesbildern und bedürfnisfernen Verhaltensvorschriften, die angeblich »gottgefällig« sind.

 

Es sieht so aus, als würde unser Wissensdurst nie endgültig gestillt werden. Das ist gut so, denn sonst würde unser Leben ersterben. Leben ist ein Prozess, ist Bewegung, wie die Wissenssuche ein Prozess ist, der uns in Bewegung hält. Auf diesem Weg gibt es keinen Stillstand, nichts Endgültiges, sondern immer einen offenen Horizont. Unser Bedürfnis und interessegeleiteter Wissensdurst treibt den immerwährenden Gestaltbildungsprozess an, der unser Leben ausmacht.

Deshalb muss unser Wissensdurst stets gestärkt, gefördert und kultiviert werden.