Die Soziologie Pierre Bourdieus

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Der Zirkel wird nicht durchbrochen, aber an mehreren Stellen in der Praxis verankert. Ein Anker ist die Rückbindung an die alltägliche Welt. Ein weiterer besteht in der Begrenzung des Gegenstandsbereichs. Das philosophische Begründungsproblem entsteht aus dem Bestreben heraus, die Wissenschaft vollständig und überzeitlich zu begründen. Wird eine Wissenschaft jedoch definiert und abgegrenzt, stellt sich das Problem nicht mehr in absoluten Begriffen. Bourdieus Abgrenzung der Soziologie ist reflexiv begründet. Man kann den Untersuchungsgegenstand willkürlich abgrenzen, indem man beispielsweise beschließt, den Kapitalismus zu erforschen. Die willkürliche Abgrenzung hat zur Folge, dass zahlreiche Zusammenhänge aus dem Gegenstandsbereich ausgeschlossen werden, die für seine Erkenntnis wichtig sind. Der Zufall könnte dem entgegenwirken, so dass genau die zusammengehörigen Phänomene den Gegenstandsbereich bilden. Das kann der willkürlich Entscheidende jedoch nicht wissen und nicht begründen. Die Schwierigkeit lässt sich verdecken, indem der Gegenstandsbereich vollständig und konsistent konstruiert wird. Beispielsweise kann die Gegenwartsgesellschaft vollständig und konsistent aus der kapitalistischen Wirtschaftsweise abgeleitet werden, wie das im Anschluss an Marx geschehen ist. Marx verfiel jedoch nicht zufällig auf diese Abgrenzung des Gegenstandsbereichs, sondern fasste die Geschichte in Umkehrung Hegels als Entwicklung der produktiven Praxis auf. Innerhalb dieser Praxis entdeckte er, dass der technischen Entwicklung und der gesellschaftlichen Verteilung der Produktionsmittel entscheidende Bedeutung zukomme. Daraus entwickelte er die Theorie, dass die moderne Gesellschaft durch den Kapitalismus bestimmt sei, besser gesagt: durch den Gegensatz von Kapital und Arbeit. Auf dieser Ebene ist auch Bourdieus Abgrenzung der Soziologie anzusiedeln. Für Bourdieu spielt soziale Praxis die Rolle, die bei Marx die produktive Praxis innehat. Und für die Praxis hat soziale Ungleichheit die Bedeutung, die in Marx’ Theorie dem Besitz an Produktionsmitteln zukommt. Da Bourdieu am Gegenstandsbereich »Gesellschaft« anderes hervorhebt als Marx, ist sein Gegenstandsbereich selbst mit dem von Marx nicht identisch. Phänomene, die für Marx eine wichtige Rolle spielen, fallen aus Bourdieus Soziologie heraus – und umgekehrt.

Die wechselseitige Abhängigkeit von Fragestellung und Gegenstandsbereich war Bourdieu ganz deutlich, weit deutlicher als den Klassikern, die ihre Begriffe noch zu einem gewissen Grad realistisch auffassten – also der Meinung waren, die Wirklichkeit genau so darzustellen, wie sie ist. Im 20. Jahrhundert ging man immer mehr von der Konstruiertheit der Wissenschaft aus: Nicht die Wirklichkeit wird in der Wissenschaft dargestellt, sondern unsere Auffassung von Wirklichkeit. Diese These war schon von den Vorsokratikern aufgeworfen worden, aber erst Kant hat sie zur Grundlage einer Wissenschaftstheorie gemacht. Kant zufolge hängt Erkenntnis nicht in erster Linie vom Objekt ab, sondern vom Subjekt. Wissenschaftstheorie müsse sich also mit den Erkenntnisstrukturen beschäftigen, nicht mit der objektiven Wirklichkeit. Kant setzte das Subjekt noch als überzeitliche, eindeutig festgelegte Struktur voraus. Im Anschluss an ihn wurde es zunehmend als biologisches, historisches, soziales, psychologisches – eben veränderliches – Wesen begriffen. Für Bourdieu ist die soziale Veränderlichkeit des Erkenntnissubjekts eine zentrale These, die den Kern seiner Wissenschaftstheorie bildet. Damit ist eben jene doppelte Reflexivität, ein doppelter Bruch, gefordert. Denn es ist nicht nur die Fragestellung (und damit der Gegenstandsbereich) vom Erkenntnissubjekt abhängig, sondern dieses wiederum variiert den sozialen Umständen entsprechend. In jeder Gesellschaft und in jeder Phase der gesellschaftlichen Entwicklung wird die soziale Wirklichkeit anders gesehen. Und wenn in der Gesellschaft soziale Ungleichheit herrscht, wird die soziale Wirklichkeit von jedem Ort innerhalb der Gesellschaft anders gesehen. Dementsprechend meinte Bourdieu, »Soziologie als Beruf« müsse je nach Stand der Wissenschaft neu geschrieben werden – wie jedes Buch über einen soziologischen Gegenstand (1991a: 84, 274). Im Übrigen sagte Marx das Gleiche über sein »Kapital«.

Dieser Ansatz ist nun weniger zirkulär als relativistisch. Die Rückbindung an die Praxis und an die Empirie, die Historisierung und die Eingrenzung des Gegenstandsbereichs reagieren auf die menschliche Endlichkeit. Natürlich ist die Behauptung, alles sei relativ, ebenso selbstwidersprüchlich wie die Selbstbegründung – aber sie wird dem menschlichen Dasein besser gerecht und ermöglicht eine fruchtbare Wissenschaft. Man kann durchaus mit Michael Vester die These aufstellen, Bourdieu habe eine soziologische Relativitätstheorie entwickelt, die der Eingebundenheit des wissenschaftlichen Subjekts in seinen Objektbereich angemessen ist (Vester 2002: 63).4 Die wissenschaftliche Forschung arbeitet sich gleichzeitig am Gegenstand, an der Tradition und an der eigenen Sichtweise ab, weil alle logisch miteinander verknüpft sind und einander beeinflussen. In seinen wissenschaftstheoretischen Ausführungen hat sich Bourdieu um eine hermeneutische und historische Positionierung bemüht. Seit der Entwicklung seines eigenen Ansatzes in der »Theorie der Praxis« bis zum letzten Werk, dem »Soziologischen Selbstversuch«, hat er immer wieder erörtert, wie sein eigener Ansatz sich zu anderen Ansätzen verhält und wie er historisch möglich wurde.

2.3 Konstruktion des Gegenstands

Der Bruch mit der Alltagserfahrung und dessen Verknüpfung mit Kritik und Selbstkritik haben Folgen für Bourdieus Konzeption von Soziologie. Die Einheit dieser Soziologie besteht nicht in metaphysischen, theoretischen oder empirischen Sätzen, sondern in ihrer Wissenschaftstheorie. »Die soziologische Wissenschaftstheorie als ein System von Prinzipien und Regeln, das alle wissenschaftlich fundierten Handlungen und Analysen, und nur diese, bestimmt, ist das generative Prinzip aller partiellen Theorien des Sozialen.« (1970b: 9f) Diese Wissenschaftstheorie ist im Gegensatz zu Poppers kritischem Rationalismus nicht zentral auf Überprüfung, sondern auf Entdeckung gerichtet. Es geht um die Auffindung wissenschaftlicher Begriffe und Sätze, nicht um ihre Bestätigung oder Widerlegung (Krais 1991: VII). Das ist aus Bourdieus Perspektive völlig konsequent, denn mit Begriffen, Sätzen und Fragestellungen werden eben die Vorurteile in die Wissenschaft eingeschmuggelt (1991a: 40ff). Sind sie einmal akzeptiert, lassen sie sich kaum noch auffinden und hinterfragen. Ferner betreibt Bourdieu im Unterschied zu Popper Wissenschaftstheorie nicht als Selbstzweck, sondern zur Fundierung seiner empirischen Soziologie.

Die wissenschaftstheoretische Ausgangslage vor Beginn der soziologischen Forschungsarbeit gründet in der relativen Position des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin: der Eingebundenheit in den Gegenstandsbereich und der Unmöglichkeit, einen absoluten, zeitlosen, objektiven Standpunkt einnehmen zu können. Bourdieus Antwort darauf ist der doppelte Bruch: mit dem Gegenstandsbereich und mit der eigenen Position. Sodann beginnt ein hermeneutischer Zirkel von Kritik, Selbstkritik und Abarbeitung am Gegenstand (siehe Abbildung 2). Kritik und Selbstkritik sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen von Bourdieus Soziologie. Sie müssen gleichsam mit einer Kritik durch den Gegenstand verbunden werden, die wiederum zirkulär ist, weil sie eine Art Theorie des Gegenstands voraussetzt.5


Auch diesen Zirkel nimmt Bourdieu ernst (2004a: 161f). Da die eigene soziale Position den Blick auf den Gegenstand bestimmt, müssen Bearbeitung des Gegenstands und Bearbeitung seiner Sichtweise Hand in Hand gehen. Der Gegenstand muss kontrolliert konstruiert werden (1991a: 37ff; 2004a: 15 Fn). Ein Prinzip hilft Bourdieu beim Versuch, Halt zu finden: Durkheims Forderung, die sozialen Tatsachen wie Dinge zu behandeln, entspricht Galileis Revolution bei der Betrachtung physikalischer Gegenstände (1991a: 38). Damit meint Bourdieu nicht, wie oben erläutert, die Entfernung des Sinns aus der Soziologie und ihre Reduktion auf soziale Physik (wie in Extremformen des Positivismus von Comte bis Walras), sondern lediglich die Forderung nach Wissenschaftlichkeit: die Soziologie als ein theoretisch konstruiertes, konsistentes System von Begriffen, Axiomen und Erklärungen aufzufassen. Die Konsistenz des Systems wird durch ein weiteres Prinzip Durkheims gewährleistet, das für Bourdieu zentral ist, aber selten ausgesprochen wird. Die Soziologie soll das Soziale (nur) durch das Soziale erklären (1993b: 39). Damit ist gemeint, dass alle Sätze der Soziologie auf andere soziologische Sätze verweisen. Ein soziologischer Satz kann nur durch einen soziologischen Satz widerlegt oder begründet werden. Dazu gilt es, eine Begrifflichkeit zu konstruieren, die auf einer konsistenten, nicht auf andere Wissenschaften zurückgreifenden Axiomatik basieren. Sie ist Thema des folgenden Kapitels. Hier seien nur die wesentlichen Folgerungen erwähnt, die sich aus Bourdieus Wissenschaftstheorie ergeben.

Für den Positivismus, so Bourdieu, gibt es eine konstruierende und eine nicht konstruierende Wissenschaft. Tatsächlich aber gebe es nur jene. Der eigentliche Unterschied bestehe zwischen der Wissenschaft, die sich dessen bewusst ist, und der, die es nicht ist (1997b: 781). Mit diesem Ansatz steht Bourdieu ganz in der Tradition Bachelards (1991a: 271). Später sagte er in einem Interview, er habe in »Soziologie als Beruf« immer die Konstruktion des Gegenstands gefordert, aber nirgends erklärt, wie man das macht (1991a: 279). Das scheint mir eher Lob als Tadel zu sein. Denn er gelangte ja selbst erst in der »Theorie der Praxis« zu einer hinreichend konsistenten Begrifflichkeit. Erst dann wäre es möglich gewesen, die Konstruktion zu demonstrieren. Die Erklärung der Konstruktion sind Bourdieus empirische Werke. Ihr Grundmerkmal ist das Denken in Relationen (Wacquant 1996: 34f). Der Begriff der Relation steht im Gegensatz zu dem der Substanz. In der Kontrastierung beider Begriffe lehnte sich Bourdieu an Ernst Cassirers Werk über »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« an (siehe hierzu Bickel 2003; Magerski 2005). Substanzialistisch ist die Betrachtung eines Phänomens als selbständig und seines Verhältnisses zu anderen als mechanische Relation. Soziale Praktiken werden als unwandelbar in ihrem Sinn und selbständig aufgefasst (1998c: 16ff). Gegen diese Auffassung führt Bourdieu eine historische und relativistische Sichtweise ins Feld: Gegensätzliche Phänomene oder wechselnde Phänomene zu verschiedenen Zeitpunkten können dieselbe soziale Basis und denselben Sinn haben, während ein und dasselbe Phänomen von verschiedenen sozialen Positionen und zu verschiedenen Zeitpunkten einen unterschiedlichen Sinn haben kann. Jeder empirische Satz Bourdieus sollte als Anwendung dieses Prinzips gelesen werden. Hier sei als Beispiel Vivaldis Musik erwähnt, die nach dem Zweiten Weltkrieg wiederentdeckt wurde und dann in den kulturell gebildeten Schichten als Geheimtipp und besonders schick galt, aber innerhalb weniger Jahre zur Fahrstuhlmusik verkam und dann nur noch in den unteren Schichten als »gute« klassische Musik galt (1992b: 200). 1960 war das Phänomen »Vivaldis Vier Jahreszeiten« in der Oberschicht etwas Wertvolles, 1990 etwas Triviales, 1960 war es in den Unterschichten unbekannt, 1990 Inbegriff gehobener Kultur (1992b: 200).

 

Bourdieu begründete das relationale Denken mit Cassirer (1970b). Er erwarb es jedoch mit dem Strukturalismus, ja er bezeichnete es sogar als die entscheidende Neuerung des Strukturalismus (1970b: 10f; 1987b: 12). Bei Cassirer verbindet sich das relationale Denken mit der Differenzialrechnung und dem Funktionsbegriff, im Strukturalismus mit der Differenz (Saussure 1984: 166). Man könnte sagen, dass der Strukturalismus nur eine einzige Relation kennt, Cassirer aber sehr viele Arten. Bei Bourdieu ist ebenfalls die Differenz die wichtigste Relation, und zwar wie bei Lévi-Strauss als Gegensatz. Zwar hatte auch Hegel im Anschluss an Spinoza alle sinnhaften Phänomene (oder gar alle Phänomene) als Negation verstanden, aber sie musste als logischer Operator inhaltlich durchgearbeitet werden. Bourdieu dagegen schließt Logik und Soziologie kurz, wenn er den Gegensatz als Prinzip von Handlungen fasst. Bei Saussure (und teilweise noch bei Lévi-Strauss) resultiert Sinn aus der Differenz, die der Gegensatz eines Zeichens gegen ein anderes ist. Das setzt die Abtrennung einer zeitlosen (»synchronen«) langue von der parole voraus (Saussure 1984: 27, 112, 124). Bei Bourdieu resultiert Sinn aus der Differenz, die ein sozialer Gegensatz ist. Ganz analog bestimmt Bourdieu den Sinn sozialer Phänomene, beispielsweise als Gegensatz von Golf und Fußball. Das soll die Erklärung des Sozialen durch das Soziale sein, aber das Soziale wird hier zunächst logisch – strukturalistisch – bestimmt. Man könnte sagen, dass Bourdieu hier selbst das logische Prinzip der Erklärung mit dem faktischen Prinzip der Praxis identifiziert. Das hatte er ja gerade am Objektivismus kritisiert.

Die Vorherrschaft des Gegensatzes ist bei Bourdieu nur eine Tendenz, wenn auch eine sehr starke. Seine Soziologie geht nicht darin auf, sondern beinhaltet mindestens eine Tendenz, die meines Erachtens weiterführt, ja geradezu bahnbrechend sein könnte (siehe Rehbein 2013). Rolf-Dieter Hepp (2000) hat Bourdieus Denken als konfigurational aufgefasst. Da keine universale Theorie vorausgesetzt werden könne, müsse in der Soziologie stets vom Einzelfall ausgegangen werden (ebd.: 128). Im Einzelfall seien die Relationen aus dem Gegenstand zu entwickeln, was aber ein Allgemeines impliziert. In der Entwicklung der Relationen seien Allgemeines und Einzelnes aufeinander zu beziehen (ebd.: 130ff). Jede entwickelte Hypothese sei in einen Kontext eingebunden, der zur Konstruktion der Hypothese beiträgt und dem Einzelfall seine Unmittelbarkeit nimmt (ebd.: 26). Das klingt sehr nach Hegel, auch ein bisschen nach dem Holismus der analytischen Wissenschaftstheorie.6 Der Unterschied besteht darin, dass Bourdieu das Allgemeine nicht voraussetzen will. Es ist zwar im Einzelnen impliziert, ändert sich aber mit jeder Relation. Anders gesagt: Im Anschluss an Max Weber hat Bourdieu entdeckt, dass Gesellschaft keine Totalität ist. Es gibt Konfigurationen von Relationen, die auf andere Relationen außerhalb der Konfiguration verweisen. Aus jeder Perspektive innerhalb und außerhalb der Konfiguration ändert sich diese wie ein Kaleidoskop. Jede Konfiguration wird aus der wissenschaftlich beobachtenden Perspektive konsistent konstruiert, also unter Voraussetzung eines Allgemeinen, aber jede neue Relation, jede Veränderung der Konfiguration und jede Veränderung der Perspektive zwingt zu einer Revision des Allgemeinen. Es ergeben sich Theorien, die auf einer mittleren Ebene angesiedelt sind. Sie sind mehr als Beschreibungen oder empirische Feststellungen und weniger als eine universale Theorie (ebd.; siehe Bourdieu 1992b: 38). Ich werde im Abschnitt 3.5 darauf zurückkommen.

Ich glaube, Bourdieu hat versucht, in Kaleidoskopen zu denken, auch wenn er teilweise über Gebühr an einzelnen Begriffen und Axiomen festgehalten hat, insbesondere am sozialen Gegensatz. Seiner eigenen Wissenschaftstheorie zufolge aber müssen Theorie und Empirie ganz aufeinander bezogen sein. Alle Begriffe und Theoreme sollen »falsifizierbar« sein. Bourdieu plädiert auch in dem Sinne für eine mittlere Ebene, dass er sowohl Theorie wie Methodologie um ihrer selbst willen ablehnt (1991a: 2). Jede Methode muss ebenso der jeweiligen Konfiguration angepasst und von ihr modifiziert werden wie jede Theorie (1991a: 6). Auch eine Methode ist soziologisch relativ. Dieselbe soziologische Frage hat in den unterschiedlichen Klassen und Gruppen verschiedene Bedeutungen (1991a: 49). Und man muss sich der Voraussetzungen bewusst werden, die man selbst in die Frage einbringt, mit ihr verbindet (1991a: 54). Soziologische Forschung ist eine soziale Interaktion, die als solche untersucht werden muss (1997b: 780 Fn). Für Bourdieu bilden Empiriker und Theoretiker ein epistemologisches Paar (1970b: 7f). Sie kämpfen gleichermaßen gegen die theoriedurchdrungene Empirie, trennen Empirie und Methode oder gar Theorie und Methode und teilen die Illusion einer epistemologischen Neutralität. In der Verbindung von Theorie und Empirie sieht Loïc Wacquant übrigens auch den Gegensatz Bourdieus zu den bekannten deutschen Soziologen (2003c: 108).

Ich halte es für wichtig, Bourdieus Soziologie als Forschungsprogramm zu interpretieren, nicht als Corpus von Lehrsätzen. Wenn Bourdieu mit Vehemenz einzelne Sätze vorgebracht und verteidigt hat, so geschah das meist in kritischer Funktion, also in der Absicht, akzeptierte Lehrsätze zu widerlegen. In dieser Hinsicht ist Bourdieus Soziologie eine kritische Theorie, und zwar bis in die wissenschaftstheoretische Begründung hinab. Kritik und Selbstkritik müssen sich auch auf die eigene Wissenschaftstheorie erstrecken, und theoretische Sätze müssen immer auf die Empirie bezogen werden. Man könnte fast behaupten, dass Bourdieu gar keine Lehre hinterlassen hat – außer der Aufforderung, kritisch und selbstkritisch zu forschen.

»Mit meiner Analyse eines historischen Falls liefere ich ein Programm für andere empirische Analysen unter anderen Verhältnissen als den von mir untersuchten. Sie ist eine Aufforderung zur schöpferischen Lektüre und zur theoretischen Induktion, die von einem gut konstruierten besonderen Fall ausgehend verallgemeinert.« (1991a: 278)

2.4 Emanzipation

Kritische und selbstkritische Forschung sind die Grundlage von Bourdieus Soziologie. Sie umfasst mehr als die Aufforderung weiterzumachen, weil Bourdieu die Verstrickung der Soziologie in den Alltag wissenschaftstheoretisch ernst genommen hat. Soziologie kritisiert den eigenen Irrtum und den Irrtum der soziologischen Tradition – aber auch den Irrtum (besser: die Fehler) der sozialen Welt. Damit ist sie kritisch nicht im Sinne des kritischen Rationalismus, sondern im Sinne der kritischen Theorie. Nun ist aber auch der Gebrauch von Wissenschaft zur Kritik (oder Selbstkritik) der Gesellschaft ein zirkuläres Unterfangen. Was soll überhaupt kritisiert werden, und nach welchen Kriterien?

Bourdieu betrachtet die Soziologie zunächst wie jeden Bereich der sozialen Welt. Einen Bereich dieser Art hat er später als »Feld« bezeichnet (siehe 5.3). Der einschlägige Text für seine Analyse des wissenschaftlichen Feldes findet sich im Büchlein mit dem Titel »Vom Gebrauch der Wissenschaft« (1998e). Ihm zufolge besteht das vorrangige Ziel auf dem wissenschaftlichen Feld darin, jeweils der oder die Beste in einer Disziplin zu sein (1998e: 28). Dabei gelten zunächst die Kriterien des Feldes, nämlich rein wissenschaftliche: Einen Mathematiker kann man nur mathematisch übertrumpfen, nicht mit anderen Mitteln (ebd.). Der Kampf auf dem wissenschaftlichen Feld würde also zu einem ständigen Erkenntnisfortschritt führen, wenn allein die rein wissenschaftlichen Kriterien des Feldes gälten. Bourdieu unterscheidet vor allem zwei Sorten wissenschaftlichen Einflusses, die auf dem wissenschaftlichen Feld die Position verbessern: institutionelle Macht und persönliches Prestige durch Leistung (1998e: 31).7 Rein wissenschaftliches Prestige wird durch Entdeckungen und Erfindungen (vor allem in Form von Veröffentlichungen in höchst selektiven Medien) erworben, institutionelle Macht durch politische Strategien (Mitgliedschaft in Kommissionen usw.), die vor allem Zeit beanspruchen. Oft ist Letzteres eine Kompensation für den Mangel an wissenschaftlicher Kompetenz (1998e: 32). Die Position von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf dem Feld ergibt sich aus ihrer jeweiligen Kombination beider Formen wissenschaftlichen Einflusses (1998e: 34). Nun begnügt sich Bourdieu nicht mit der bloßen soziologischen Analyse des wissenschaftlichen Feldes, sondern verbindet sie mit normativen Sätzen.

»Alles liefe also bestens in der besten aller möglichen Wissenschaftswelten, wenn die rein wissenschaftliche, in der alleinigen Macht von Begründung und Beweis stehende Logik des Wettbewerbs nicht durch externe Kräfte und Zwänge konterkariert […] würde« (1998e: 30).

Der Fortschritt in der Wissenschaft werde vor allem durch größere Autonomie des wissenschaftlichen Feldes gewährleistet (1998e: 37; vgl. Hepp 1999: 462f).

Man könnte meinen, dass Bourdieu in positivistischer Weise auf eine Begründung des wissenschaftlichen Fortschritts selbst verzichtet. In der Tat kommt Bourdieu dieser Position in vielen seiner Schriften nahe, vor allem in »Soziologie als Beruf«. In seiner Schrift über den »Gebrauch von Wissenschaft« dagegen sieht Bourdieu das Problem durchaus, dass Wahrheitskriterien selbst einer Begründung bedürfen. Er scheint zunächst lediglich vorschlagen zu wollen, die positivistische Vorstellung vom Erkenntnisfortschritt durch kritische Selbstreflexion ergänzen zu wollen (1991a: 84). Er meint sogar, dass eine »kollektive Selbstanalyse« von den äußeren und die Erkenntnis verzerrenden Zwängen befreie (1998e: 15). Diese Selbstanalyse fasst er ganz objektivistisch. Für Bourdieu liefert seine eigene Feldtheorie ein objektives Bild der sozialen Wirklichkeit und damit auch der Scientific Community. Die soziologische Analyse des wissenschaftlichen Feldes erweise die Beschränktheit der unterschiedlichen Standpunkte und biete Einsicht in die Art und die Gründe der Beschränktheit (1998e: 40). Damit gebe die Soziologie den einzelnen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen die Mittel an die Hand, die jeweils anderen Positionen zu verstehen, ihre Beschränktheit und Einseitigkeit zu verzeihen und zu einer Verständigung zu gelangen.

Bourdieus soziologische Theorie ist zugleich eine Wissenschaftstheorie. Das Feld der Wissenschaft bestimmt sich (objektiv) durch Konkurrenz um Erkenntnis, Kritik und rationale Kommunikation. Die Rolle Bourdieus dabei sei die eines »Aufklärers«, der eine »Realpolitik der Vernunft« betreibe (ebd.). »Nur so lässt sich jenes Ideal verwirklichen, das als Wirklichkeit der Kommunikation auftritt, [indem man] den spezifisch sozialen Widerständen gegen eine vernunftgeleitete Kommunikation, gegen einen aufgeklärten Diskurs« begegnet (1998e: 58f; siehe auch Chauviré, Fontaine 2003: 72f). Dieser Gedanke könnte im selben Wortlaut von Jürgen Habermas stammen. Den einzigen Unterschied zu Habermas sieht Bourdieu an dieser Stelle darin, dass er selbst die Bedingungen der wirklichen Kommunikation kritisch erforsche, während sich Habermas nur für das Ideal der rationalen Kommunikation interessiere. Faktische Kommunikation steht für Bourdieu im Zeichen symbolischer Gewalt (siehe 6.1). Aber auch er setzt »eine vernunftgeleitete Kommunikation« als Maßstab der kritischen Erforschung der wirklichen Kommunikation voraus. Und der Inbegriff einer vernunftgeleiteten Kommunikation ist für Bourdieu eine völlig autonome Scientific Community.

 

Hier ist ein weiterer Zirkel anzusiedeln, den Bourdieu im Gegensatz zu den bisher aufgeführten nicht sehen wollte. Der Zirkel besteht darin, dass Wissenschaft allein rein wissenschaftlichen Kriterien gehorchen soll, die sich als aufgeklärter Diskurs darstellen, der wiederum nur begründet werden kann, wenn man voraussetzt, dass rein wissenschaftliche Argumentation zu einem Erkenntnisfortschritt führt. Bekanntlich hat Max Weber den Zirkel zu durchbrechen versucht, indem er sagte, Wissenschaft selbst könne man nicht wissenschaftlich begründen, sondern sich nur für sie entscheiden. Bourdieu gibt keine Gründe und Kriterien für die gesellschaftliche Anwendung von Wissenschaft. Und er begründet nicht, warum Verständigung im wissenschaftlichen Feld zu Fortschritt – und vor allem zu Wahrheit – führen soll.

Habermas hat das Problem ernster genommen als Weber und erst recht ernster als Bourdieu. Er hat sich 20 Jahre lang daran abgearbeitet, nachdem er erkannt hatte, dass die Grundhaltung gegenüber dem Problem die Form von Wissenschaft selbst gestaltet.

Habermas geht wie Bourdieu (z. B. 1998e: 75) vom hermeneutischen Grundproblem der Sozialwissenschaften aus, dass ein Sozialwissenschaftler oder eine Sozialwissenschaftlerin Teil des eigenen Gegenstandsbereichs ist (Habermas 1970: 120ff, 166f, 191). Es gibt keine Außenperspektive auf die Gesellschaft. Im Gegenteil, erst die Vertrautheit mit dem sozialen Sinn ermöglicht eine Wissenschaft vom Sozialen (Habermas 1970: 199; Bourdieu 1991a: 22ff, 44). Damit werden aber die wissenschaftlichen Kategorien vom Gegenstand beeinflusst. Im Gegensatz etwa zu Gadamer sind Habermas und Bourdieu der Auffassung, dass die kritische Selbstreflexion eine Befreiung von den Zwängen der Gesellschaft und der Geschichte ermögliche. Bourdieu meint, durch den epistemologischen Bruch und die gleichzeitige Reflexion auf die eigenen Bedingungen bis zu einem gewissen Grad aus dem hermeneutischen Zirkel ausbrechen zu können (1991a: 63; 1993b: 52f; vgl. Miller 1989). Er scheint allerdings in der Einschätzung geschwankt zu haben. An einigen Stellen meint er, das Bewusstsein von den Bedingungen hebe diese nicht auf (1976: 177). Das meinte auch Gadamer, dessen hermeneutischer Relativierung Habermas vermutlich näher ist. Horkheimer und Adorno konfrontierten Habermas mit der Einschätzung, dass ein Ausbruch aus der Geschichte, die in der Entfaltung von instrumenteller Vernunft und Herrschaft besteht, unmöglich ist. Die Aporie Horkheimers und Adornos hebelt Habermas aus, indem er ihre Voraussetzungen der »linguistischen Wende« unterzieht. Auf der Basis der Unterscheidung von Erklären und Verstehen gibt Habermas Webers Unterscheidung zwischen Wert- und Zweckrationalität einen neuen analytischen Stellenwert (Habermas 1987, I: 377ff). Die instrumentelle Vernunft bestimmt demnach nicht mehr die gesamte Gesellschaft, sondern nur einen ihrer Bereiche, nämlich den der Arbeit bzw. des zweckrationalen Handelns. Dem steht die Interaktion von Menschen gegenüber. Wenn wirkliche und wissenschaftliche Zwangszusammenhänge nur durch Selbstreflexion zu überwinden sind und sich zugleich im Medium der Interaktion ausdrücken müssen, kann nur die reflexive Analyse dieses Mediums den Zirkel der Erkenntnis durchbrechen.8

Letztlich geht es für Habermas’ Soziologie also darum, die soziokulturellen Bedingungen einer »rationalen Lebensführung« zu bestimmen (ebd.: 72). Eine solche Soziologie begründet sich selbst normativ und rational aus der Erklärung der Geschichte. Sie kann nicht an der Idee des guten Lebens ausgerichtet sein, sondern nur Bedingungen der Verhinderung von Rationalität kritisieren (ebd.: 112). Genau diesen Gedanken, der Habermas’ Nähe und Distanz zu Adorno belegt, hatte Bourdieu gegen Habermas ins Feld geführt – offenbar zu Unrecht. Für Habermas ist Sozialwissenschaft ebenso wie für Bourdieu gebunden an die Geschichte und hat die Kritik an den Bedingungen, die rationale Verständigung verhindern, zur wissenschaftstheoretisch vorrangigen Aufgabe.

Kommunikationszusammenhänge sind für Habermas in dem Maße rationalisiert, wie sie aus Argumentation begründet sind. »Entsprechend kann eine Lebenswelt in dem Maße als rationalisiert angesehen werden, wie sie Interaktionen gestattet, die nicht über ein normativ zugeschriebenes Einverständnis, sondern […] über eine kommunikativ erzielte Verständigung gesteuert werden.« (Ebd.: 455) Verständigung beruht immer auf Gründen, nicht auf Zwang (ebd.: 525). Die Untersuchung der Bedingungen einer möglichen Einlösung der Gründe, die Habermas als Geltungsansprüche bezeichnet, ist eine Art transzendentale Begründung. »An die Stelle eines Beweises a priori tritt die transzendentale Untersuchung der Bedingungen argumentativer Einlösung der Geltungsansprüche, die auf diskursive Einlösung angelegt sind.« (Habermas 1984: 382) Das transzendentale Subjekt wird als intersubjektives an die Lebenswelt zurückgebunden (vgl. Horster 1999: 18f, 46ff). Und in dieser Intersubjektivität ist der Anspruch auf wechselseitige Anerkennung, Emanzipation und Versöhnung als Voraussetzung des – nur im Unendlichen erreichbaren – Konsensus enthalten. Es gibt also drei Ebenen: die kommunikative Lebenswelt, den Diskurs über die in ihr enthaltenen Geltungsansprüche und die philosophische Reflexion auf die Bedingungen des Diskurses. Und in jeder Ebene ist das Ideal von Verständigung und Emanzipation enthalten.

Bei der direkten Gegenüberstellung dürften Parallelen zwischen grundlegenden Zielen von Habermas und Bourdieu ins Auge springen. Die Scientific Community – der westlichen Demokratie – wird von beiden als Prototyp einer auf rationale Verständigung abzielenden Gemeinschaft aufgefasst. Wissenschaftstheorie besteht vor allem in der Ermöglichung von Selbstreflexion und Kritik, um gegen Verständigung wirkende Bedingungen kenntlich zu machen. Die Geschichte der Wissenschaft müsste also zu einem Erkenntnisfortschritt führen. Der Fortschrittsoptimismus aber beinhaltet die Weigerung, die eigenen Voraussetzungen explizit auszuweisen. Die Annahme des Erkenntnisfortschritts impliziert zweierlei. Erstens ist die eigene Zeit immer die am höchsten entwickelte und kann höchstens durch sich selbst kritisiert werden. Zweitens erlaubt die wissenschaftliche Betrachtung der Wirklichkeit, deren objektive Entwicklung zu erkennen.

Nach Habermas und Bourdieu muss die Aufklärung vorangetrieben und auch auf sich selbst gerichtet werden.9 Dabei ist Selbstreflexion das Mittel gegen die hermeneutische Verstricktheit der Sozialwissenschaften in ihren Gegenstand. Sie ist zugleich praktisch und theoretisch orientiert – und im Projekt einer Scientific Community in höchstem Maße verwirklicht (bei Bourdieu ganz deutlich 1992c: 46). Denn Wissenschaft soll auf einen zwanglos erreichten, nur auf Argumenten beruhenden Konsens abzielen (Habermas 1987, I: 455; Bourdieu 1998e: 58, 79). Bourdieus Darstellung einer idealen wissenschaftlichen Gemeinschaft (1998e: 40) entspricht genau Habermas’ idealer Sprechsituation. Und bei beiden fungiert die ideale Situation als Maßstab von Kritik, nicht als unbedingt zu verwirklichender Zustand. Die Orientierung am Ideal strukturiert die Auswahl des Gegenstands: Beide unterscheiden im Wesentlichen zwei Formen des Handelns: (rationale) Verständigung und (irrationale oder zweckrationale) Herrschaft – und erklären jene für gut, diese für schlecht.

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