Die Soziologie Pierre Bourdieus

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2.1 Der doppelte Bruch

Das Kapitel stützt sich so weit wie möglich auf die in »Soziologie als Beruf« (1991a; zuerst 1968) entwickelte Wissenschaftstheorie. Leider kann es sich nicht darauf beschränken. Denn das Werk ist eine Gemeinschaftsarbeit, in der Bourdieu (noch) nicht die eindeutige geistige Führungsrolle zukam. Auch die Handschrift der beiden Co-Autoren, Jean-Claude Chamboredon und Jean-Claude Passeron, ist in ihm erkennbar. Ferner sind noch nicht alle Topoi von Bourdieus Ansatz in ihm enthalten, geschweige denn ausgeführt. Schließlich ist das unter dem Titel »Soziologie als Beruf« veröffentlichte Buch nur der erste Band eines auf drei Bände angelegten Werkes.2 Der erste Band wurde jedoch zu sehr als Handbuch, wie ein Kochbuch, gelesen, als enthalte es eine Methode, die man nur befolgen muss, um gültige Ergebnisse zu erhalten. Das Werk war von den Verfassern als Reflexion auf den Forschungsprozess gedacht. Nur so war Wissenschaftstheorie für Bourdieu gerechtfertigt – nicht als Gehirngymnastik am Schreibtisch und nicht als Festlegung der Empirie auf eine Methode. Da das Buch nicht in seiner Intention verstanden wurde, ließ Bourdieu die Arbeit an den Nachfolgebänden fallen. Daher bildet der Kommentar des Werks nur gleichsam den Leitfaden durch das Kapitel. An ihm knüpfen zahlreiche Fäden an, die in unterschiedliche Richtungen weisen, aber ein Ganzes bilden sollen.

Die Grundbedingung für Wissenschaftlichkeit ist den Autoren von »Soziologie als Beruf« zufolge der Bruch mit dem Alltagsdenken, insbesondere mit der Alltagssprache. In den Sozialwissenschaften gehe man von einer Alltagsbegrifflichkeit aus, deren versteckte Annahmen dann den Erkenntnisprozess beeinflussen oder gar lenken (1991a: 15f, 26). Die Alltagssprache sei nicht für wissenschaftliche Zwecke, also für theoretische Erkenntnis, sondern für die alltägliche Praxis bestimmt. Sie enthalte eine bestimmte, praktische Auffassung der Wirklichkeit. Um sich von ihr zu lösen, müsse der Sozialwissenschaftler oder die Sozialwissenschaftlerin ihr in allen Punkten widersprechen (1991a: 17). An die Stelle der Alltagsbegriffe müssten theoretisch konstruierte provisorische Begriffe treten, wie Durkheim das gefordert hat. Dieser Bruch ist äquivalent mit der Erkenntnis des Sokrates, nichts zu wissen. Erst mit dem Nichtwissen beginnt die Wissenschaft. Wissenschaft wird gegen die alltägliche Illusion des Wissens betrieben.

Der Bruch mit dem Alltagswissen ist in den Sozialwissenschaften besonders schwer, aber auch besonders notwendig. Man hat sich daran gewöhnt, dass man für Wissenschaften wie Chemie oder Physik eine neue Sprache lernen muss. Man meint jedoch, in der Soziologie mit der Alltagssprache auszukommen. Die alltägliche Sichtweise der sozialen Welt bezeichnet Bourdieu als »Spontansoziologie«. Eben gegen sie richtet sich der Bruch. Jeder Mensch glaubt, auf dem Gebiet der Gesellschaft Experte zu sein. Daher haben die soziologischen Erklärungen die größte Zustimmung, die der Spontansoziologie am nächsten sind (1991a: 29). Aus der Spontansoziologie ergibt sich die Evidenz vieler soziologischer Aussagen, die genau aus diesem Grund keine wissenschaftlichen Aussagen sind. Die Alltagsbegriffe beinhalten nicht nur eine bestimmte Sichtweise der sozialen Welt, sondern sie werden auch realistisch verstanden. Das heißt, es wird von der Existenz des Wortes auf die Existenz der Sache geschlossen. »Im Hinblick auf die soziale Welt macht uns der Alltagsgebrauch der Alltagssprache zu Metaphysikern.« (1992b: 74) Die theoretische Konstruktion der Begriffe stellt den ersten Schritt des Bruchs mit den Alltagsbegriffen und mit ihrem Realismus dar.

Bruch und Konstruktion verweisen auf die Wissenschaftstheorie Gaston Bachelards. Mit dieser Tradition war er seit seinem Studium gut vertraut. Modischen Strömungen warf er einen Mangel an Wissenschaftlichkeit, Ernst und Strenge vor (1992b: 17). Aus diesem Grund hatte er beim führenden Vertreter der Tradition Bachelards studiert, Georges Canguilhem. Er entwickelte ein gutes Verhältnis zu ihm und wollte seine Doktorarbeit bei ihm schreiben (2002b: 35). Foucault hatte übrigens denselben Plan – und setzte ihn in die Tat um. Bourdieu verknüpfte den Bruch im Anschluss an Bachelard und Canguilhem mit Durkheims Objektivierung, die in der berühmten Formel, die sozialen Tatsachen wie Dinge zu behandeln, ihren Ausdruck fand. In den Naturwissenschaften ist Objektivierung eine Selbstverständlichkeit. Aber in den Sozial- und Geisteswissenschaften haben wir es mit einer sinnhaften Welt zu tun, mit der wir vertraut sind und der wir selbst zugehören – bzw. mit der wir uns vertraut machen müssen, um ihre Sinngehalte zu verstehen. Aus diesem Grund ist Durkheims Formel auf erbitterten Widerstand gestoßen (besonders kurz und klar bei Peter Winch 1958). Noch radikaler als Durkheim ist Lévi-Strauss für die Objektivierung eingetreten. Die Konsequenz lautet: Da die Alltagsbegriffe nichts zur Erkenntnis des Alltags beitragen können, muss man sie über Bord werfen und die sinnhafte Welt wissenschaftlich genauso wie die Natur behandeln. Diese Position wird als Objektivismus bezeichnet. Bourdieus Erkenntnistheorie vollzieht den Objektivismus in einem ersten Schritt mit:

»Wenn sie nicht lediglich Projektion eines Gemütszustands sein will, setzt die Sozialwissenschaft zwangsläufig das Moment der Objektivierung voraus, und es sind eben die Errungenschaften des strukturalistischen Objektivismus, die die von diesem Moment geforderte Grenzüberschreitung ermöglichen.« (1987b: 26)

Zuerst muss mit der alltäglichen Sicht der sozialen Welt gebrochen werden. In einem zweiten Schritt muss nun mit dem wissenschaftlichen Objektivismus gebrochen werden, um die alltägliche Sicht wieder einzuführen (siehe Bohn 1991: 53). »Die Soziologie muss eine Soziologie der Perzeption der sozialen Welt umfassen, das heißt eine Soziologie der Konstruktion der unterschiedlichen Weltsichten, die selbst zur Konstruktion dieser Welt beitragen.« (1992b: 143) Aus der Sinnhaftigkeit der sozialen Welt zieht Bourdieu zwei Folgerungen. Erstens muss die alltägliche Sicht rekonstruiert und daher auch verstanden werden. Es gibt »eine objektive Wahrheit des Subjektiven«, die eben in ihrer Existenz besteht (1993b: 31). Alle Menschen haben Vorstellungen und Erfahrung der Realitäten, die von Sozialwissenschaft konstruiert werden. Zweitens bleibt auch der Mensch, der Wissenschaft betreibt, Teil der sozialen Welt. Die Soziologie ist gewissermaßen eine soziale Sicht auf eine soziale Sicht. Soziologen und Soziologinnen kennen ihre Gegenstände auch aus dem Alltag. Daher sind sie zugleich mit ihnen vertraut und durch sie befangen (Krais, Gebauer 2002: 12). Der Objektivismus vernachlässigt seine eigene Perspektive. Er bricht mit den Vorurteilen aller Menschen, nur nicht mit den eigenen. Diese Vorurteile sind zum Teil alltägliche, zum Teil aber spezifisch wissenschaftliche. Sie umfassen erstens die Begrifflichkeit und Perspektive der wissenschaftlichen Tradition, zweitens die soziale Position innerhalb des Wissenschaftsbetriebs und drittens die spezifisch theoretische Einstellung zur Wirklichkeit. Aus diesem Grund fordert Bourdieu, dass der Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin auch mit den eigenen Vorurteilen brechen, die objektivierende Person sich selbst objektivieren muss. Die Selbstobjektivierung solle mit den Mitteln der Soziologie geschehen (Chauviré, Fontaine 2003: 66). Das führt natürlich in einen Zirkel, weil die soziologische Selbstobjektivierung wiederum aus einer Perspektive geschieht und Begriffe voraussetzt. Dieses Problem hat Bourdieu gesehen. In »Soziologie als Beruf« forderte er mit Bachelard Wachsamkeit – gegenüber den konstruierten Begriffen, gegenüber den Techniken und Methoden, gegenüber den Vorurteilen und gegenüber den Bedingungen ihrer Anwendung (1991a: 4, 13ff).

Tatsächlich hat der Zirkel nicht die vitiöse Natur der erkenntnistheoretischen Selbstbegründung, weil er kritisch gemeint ist. Wie Bachelards Wissenschaftstheorie sucht Bourdieus nach Verzerrungen, Vorurteilen und blinden Flecken (1991a: 10). Vom kritischen Rationalismus Karl Poppers unterscheidet sich diese Form der Kritik unter anderem darin, dass sie keine Normen für die Anfertigung und Kontrolle wissenschaftlicher Sätze aufstellt, sondern auch diesen Normen gegenüber kritisch bleibt. »Bourdieu fragt nicht mehr nach den Bedingungen der Wahrheit, sondern nach denen des Irrtums.« (Hepp 2000: 37)

Eine Hauptquelle des Irrtums ist fehlende Selbstkritik. Die Selbstkritik darf sich nicht auf die eigenen Vorurteile beschränken, sondern muss, wie erwähnt, auch die eigene soziale Position und die theoretische Haltung umfassen. Die theoretische Haltung hat Bourdieu später als »scholastische Haltung« oder scholé bezeichnet (2001f: 21). Damit ist der blinde Fleck der Theorie selbst gemeint, der jede wissenschaftliche Einstellung charakterisiert, die nicht selbstkritisch verfährt. Die scholastische Haltung betrachtet den wissenschaftlichen Gegenstand so, als sei er für die Wissenschaft gemacht (2001f: 68). Sie stellt und beantwortet Fragen, die sich aus der Perspektive des Gegenstands nicht stellen (1991a: 43). Die soziale Position des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin bestimmt dabei die Perspektive. Die Welt sieht aus der Perspektive des Gegenstands anders aus als aus der der Wissenschaft. Und sie sieht für jede wissenschaftliche Schule anders aus, für einen Assistenten anders als für einen Professor, für eine Afrikanerin anders als für eine Deutsche. Die Gefahr der scholastischen Haltung hielt Bourdieu in der Soziologie und Philosophie für besonders groß (1994a: 219). Daher betrachtete er die Soziologie der Soziologie als Hauptvoraussetzung für eine wissenschaftliche Soziologie. Eine der wichtigsten Ursachen für den Irrtum in der Soziologie ist das unkontrollierte Verhältnis zum Gegenstand. Es muss zunächst ermittelt werden, wie die soziale Position den Gegenstand beeinflusst. In der Untersuchung des Gegenstands selbst spielen zwei Faktoren eine wesentliche Rolle: die Nutzung der gesamten soziologischen Tradition (die Begriffe, Methoden und Techniken der Vorgänger) und der kritische Geist (das Interesse, »das in der sozialen Welt Zensierte, Verdrängte aufzudecken«).

 

Die Verstrickung der Soziologie in ihren Gegenstand hat einen weiteren Aspekt, den Bourdieu als »Theorie-Effekt« bezeichnet und als ergänzendes Argument gegen den Objektivismus, mit Vorliebe gegen Marx, ins Feld führt. Die Ergebnisse der Soziologie beeinflussen ihren Gegenstand (2001f: 106). Sie können die Menschen in ihrer alltäglichen Praxis und Sicht bestätigen – oder zu einer Änderung bewegen. Die auf Marx sich berufenden Revolutionen sind dafür das Paradebeispiel. Das bedeutet auch, dass die meisten Ergebnisse der Soziologie eine historisch begrenzte Geltung haben. »Tatsächlich ist das soziale Gesetz ein historisches Gesetz, das so lange fortdauert, wie man es wirken lässt, das heißt solange, wie diejenigen, denen es (manchmal sogar ohne ihr Wissen) dient, in der Lage sind, die Bedingungen seiner Wirksamkeit fortbestehen zu lassen.« (1993b: 44) Und hiermit hängt wiederum zusammen, dass soziologische Ergebnisse nach ihrer politischen Korrektheit beurteilt werden. Das gilt auch für Bourdieus Soziologie. Viele Vorwürfe – aber auch zustimmende Urteile – gründen in politischen Überzeugungen, also in der unreflektierten Alltagssicht. Gegen derartige Missverständnisse hat sich Bourdieu stets vehement und frustriert gewehrt. Seine komplexe Schreibweise sollte nicht zuletzt dieser Form von Missverständnis und dem daraus resultierenden Missbrauch vorbeugen.

Die genannten Kritikpunkte und Brüche sind nicht neu. Sie wurden nicht von Bourdieu entdeckt. Die deutschsprachige Diskussion über Wissenschaftstheorie von Droysen über Mach bis zu Popper und Adorno hat sie ausgiebig bearbeitet. Bourdieu wird die Diskussion gekannt haben. Er stützte sich jedoch in erster Linie auf Bachelard. Bei Bachelard findet sich ausdrücklich die Forderung nach dem »Bruch« mit dem Alltagswissen. »Das Denken muss den unmittelbaren Empirismus überwinden. Dadurch nimmt das empirische Denken ein System an. Aber das erste System ist falsch.« (Bachelard 1987: 55) Nach Bachelard muss vom Alltagswissen zur Konstruktion übergegangen werden. »Nichts ist gegeben. Alles ist konstruiert.« (Ebd.: 47) Die Konstruktion geschieht rational, muss sich aber an der Empirie abarbeiten, durch die sie allerdings weder bestätigt noch widerlegt werden kann. Kriterien sind vielmehr Konsistenz und Nachvollziehbarkeit (ebd.: 204). Der wissenschaftliche Fortschritt besteht in der Widerlegung des Irrtums (ebd.: 44). Ein großer Irrtum ist beispielsweise das Denken in Substanzen, das aus dem utilitaristischen Denken des Alltags in die Wissenschaft übernommen wurde (ebd.: 151ff). Bachelard sucht dem Irrtum nicht nur durch eine Kritik der Gegenstandskonstruktion, sondern auch durch eine Kritik der Organisation von Wissenschaft zu begegnen. Nur durch eine selbstkritische Scientific Community könne der Fortschritt der Wissenschaft garantiert werden (ebd.: 351). Als Mittel der Selbstkritik erarbeitet Bachelard eine »Psychoanalyse des wissenschaftlichen Geistes« (so auch der Untertitel des zitierten Werkes; siehe z. B. ebd.: 303). In diesem Punkt weicht Bourdieu von Bachelard ab. Er entwickelt eine Soziologie des wissenschaftlichen Geistes.

Die Soziologie der Soziologie steht auch im Gegensatz zu Hegels Dialektik und Gadamers Hermeneutik, die eine ganz ähnliche Verschränkung von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte betreiben wie Bachelard und Bourdieu. In »Soziologie als Beruf« wird ausdrücklich eine Dialektik von Alltagssprache und Wissenschaftssprache gefordert (1991a: 50). Die spezifische Ausgestaltung der Dialektik trennt Bourdieu grundlegend von Hegel und Gadamer. Erstens hinterfragt er das Unterfangen der Theorie selbst, die scholastische Haltung. Zweitens wird diese Infragestellung mit einer Wissenschaftssoziologie verknüpft, die auch Selbstanalyse sein muss. Drittens wird die Wissenschaftssoziologie auf alle Bedingungen des Erkennens ausgeweitet, von den Zwängen der Geldgeber über die Grenzziehungen zwischen den Disziplinen bis hin zu den Karrierestrategien. Viertens ist die Dialektik bei Bourdieu fundamental kritisch, also gegen den Irrtum und nicht auf Wahrheit gerichtet. Fünftens – und das ist vielleicht das Entscheidende – wird die Dialektik nicht zwischen Geist und Text, sondern zwischen Forscherkollektiv und empirischem Material vollzogen. Zahlreiche von Bourdieus Büchern beschäftigen sich teilweise oder ausschließlich mit diesen Aspekten einer selbstkritischen, dialektischen Soziologie (z. B. 1991a, 1970b, 1971, 1973, 1976, 1987b, 1988c, 1996b, 2001f, 2002b). Allerdings ist die Dialektik nicht konsequent entwickelt und durchgeführt (siehe 3.5).

2.2 Kritik

Eine Technik von Bourdieus Kritik und Selbstkritik ist das Denken in »epistemologischen Paaren« (1970b: 8). Diese Denkfigur verknüpft einen Gedanken Bachelards mit der strukturalistischen Differenz und einer dialektischen Konzeption. Zwei einander widersprechende Positionen werden aufeinander bezogen, damit eine »die Wahrheit über die andere« zeigt. Die Paare werden als unterschiedliche Sichtweisen auf die Gesellschaft und Positionen in ihr gefasst, die sich gegenseitig kritisieren und einander die blinden Flecken aufzeigen müssen (Hepp 2000: 12). Vermutlich durch den doppelten Bruch – erst mit dem Alltagsverstand, dann mit dem Objektivismus –, aber auch durch den Gegensatz zwischen Sartre und Lévi-Strauss angeregt, suchte Bourdieu in den ersten wichtigen theoretischen Büchern seinen Ansatz als Überwindung des epistemologischen Paars Subjektivismus-Objektivismus zu begründen. Anders als viele Interpreten glaube ich nicht, dass sich sein Ansatz in diesem Versuch erschöpft. Sicher spielt die Überwindung des Gegensatzes in Bourdieus Biographie eine wichtige Rolle, aber er konstruierte auch andere bedeutende Probleme und ihre Lösung in Gestalt von epistemologischen Paaren, insbesondere in Gestalt des Gegensatzes zwischen Marx und Weber (siehe 1992b: 51f). Schon in Algerien thematisierte er diesen Gegensatz am Beispiel des Verhältnisses von Kultur und Wirtschaft und der Frage nach dem Subproletariat (siehe oben). Auch Finalismus und Mechanismus, Rationalismus und Psychoanalyse, Individualismus und Kollektivismus waren für Bourdieu wichtige Gegensatzpaare (Saalmann 2003: 50).

Das epistemologische Paar Subjektivismus-Objektivismus stand für Bourdieu zwischen 1965 (1981b: 11ff) und 1982 (1987b) im Zentrum der Erkenntnistheorie. Es erfüllt dabei auch eine didaktische Funktion, nämlich die, in seinen eigenen Ansatz einzuführen. Der Gegensatz bildet beispielsweise den Ausgangspunkt der »Theorie der Praxis« (1976; zuerst 1972), in der Bourdieu seinen Ansatz zum ersten Mal in theoretisch ausgearbeiteter Form vorlegte. Hier konzipierte er sein Denken als dialektische Überwindung des Gegensatzes. Während der Subjektivismus die Vertrautheit mit der sozialen Welt expliziere, stelle der Objektivismus die vorgängigen Beziehungen dar (1976: 147). Der Subjektivismus könne nichts über die Bedingungen der eigenen Möglichkeit sagen, der Objektivismus nichts über die Bedingungen der Möglichkeit subjektiver Erfahrung. Eine angemessene Erkenntnisweise müsse die Stärken beider Erkenntnisweisen verbinden. Diesen Ansatz bezeichnete Bourdieu als »Praxeologie«.

»Wie die objektivistische Erfahrung die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit primärer Erfahrung stellt und darin aufdeckt, wie diese sich grundlegend durch das Fehlen einer derartigen Frage definiert, so stellt wiederum die praxeologische Erkenntnis die objektivistische auf ihre Füße, indem nun sie nach den – theoretischen und gesellschaftlichen – Bedingungen der Möglichkeit auch dieser Frage selbst fragt« (1976: 148).

Der Objektivismus kann nicht zwischen Normen, praktischen Schemata der Handlungen (Dispositionen) und seinen eigenen Modellen unterscheiden, während der Subjektivismus keine objektiven Regelmäßigkeiten zu erfassen vermag (1976: 159ff). Die praxeologische Erkenntnis sucht nach den »dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen« (1976: 147). Den Terminus verwarf er bald nach Veröffentlichung des Buches, weil er die modische Vervielfachung neuer «-logien« unter den Pariser Denkern für philosophische Überheblichkeit hielt, die seinem wissenschaftlichen Impetus zuwiderlief.

Die einschlägigen Passagen über das epistemologische Paar Subjektivismus-Objektivismus finden sich im »Sozialen Sinn« (1987b). Bourdieu greift hier exemplarisch die beiden einflussreichsten intellektuellen Strömungen der vorangegangenen Jahrzehnte heraus, den Strukturalismus und die Phänomenologie bzw. den Existenzialismus. Zunächst würdigt er beide Erkenntnisweisen als wissenschaftliche Brüche mit dem Alltagswissen. Auch der Subjektivismus führe den Bruch durch, indem er auf das unmittelbare Handeln, die Vertrautheit mit der Welt reflektiert, die im Alltag selten thematisiert wird (1987b: 50). Der Objektivismus dagegen verwirft das Alltagswissen, ohne es zu widerlegen oder zu erklären. Auch der Objektivismus untersucht nicht seine eigenen Bedingungen, »den epistemologischen Bruch, der zugleich ein sozialer ist«. Damit kann er auch nicht die Beziehung zwischen objektivem und erlebtem Sinn analysieren, also den Sinn des sozialen Spiels (1987b: 52). Vor allem aber sind beide Erkenntnisweisen unkritisch sich selbst gegenüber. »Unanalysiert bleiben bei jeder (subjektivistischen wie objektivistischen) wissenschaftlichen Analyse das subjektive Verhältnis des Wissenschaftlers zur Sozialwelt und das objektive (soziale) Verhältnis als Voraussetzung dieses subjektiven Verhältnisses.« (1987b: 56) Das birgt die Gefahr, unreflektiert Vorurteile in die Wissenschaft zu tragen. »Der Urheber eines Diskurses über Objekte der Sozialwelt, der es unterlässt, den Standpunkt zu objektivieren, von dem aus er diesen Diskurs hervorbringt, hat gute Aussichten, nichts weiter als diesen Standpunkt zu liefern.« (1987b: 56 Fn) Die Kritik erläutert Bourdieu dann an den beiden großen Gegenspielern, die während seines eigenen wissenschaftlichen Werdegangs das intellektuelle Feld in Frankreich bestimmt haben, Sartre und Lévi-Strauss.

In dieser Kritik zeigt sich das hermeneutisch-dialektische Moment des Denkens in epistemologischen Paaren, das über die strukturalistische Differenz hinausgeht. Denn Bourdieu fragt auch, was beiden gemeinsam ist, er fragt nach den unreflektierten Voraussetzungen des Gegensatzes. Er meint, wissenschaftlicher Fortschritt sei oft nur zu erringen, indem man gegensätzliche Theorien miteinander in Verbindung bringt und dabei zur Grundlage ihres Gegensatzes vordringt (1993b: 24). Um zueinander in Gegensatz treten zu können, muss man Bourdieu zufolge etwas gemeinsam haben. Die Gemeinsamkeit zwischen Sartre und Lévi-Strauss besteht zunächst in ihrer theoretischen, scholastischen Haltung, sodann in ihrem uneingestandenen Interesse an der Definition eines Menschenbilds (1987b: 60, 86; siehe auch 1991a: 9). Die eigenen Interessen und Vorurteile werden nicht thematisiert. Indem die Gegner grundlegende Interessen und Vorurteile gemeinsam haben, sind sie daran interessiert, sie nicht zu kritisieren. Den unsichtbaren Hintergrund, die Gesamtheit unhinterfragter gemeinsamer Voraussetzungen, bezeichnet Bourdieu im Anschluss an Husserl als doxa. Die wissenschaftliche Doxa ist das Undenkbare.

»Zum Undenkbaren einer Epoche gehört […] alles, was mangels ethischer oder politischer Disposition, es zu berücksichtigen oder einzubeziehen, nicht gedacht werden kann, aber auch alles, was man mangels geeigneter Denkwerkzeuge wie Problemstellungen, Begriffe, Methoden, Verfahren nicht denken kann« (1987b: 15).

Der Gedanke des Gegensatzes bei geteilten Voraussetzungen (der Doxa) spielt nicht nur in Bourdieus Wissenschaftstheorie, sondern auch in seiner Soziologie eine zentrale Rolle (siehe 3. Kapitel).

Die Blindheit gegenüber den geteilten Voraussetzungen und den eigenen Vorurteilen hält Bourdieu auch für ein soziologisches Problem (1993b: 25). Daher könne die Untersuchung der Scientific Community etwas zur Wissenschaftstheorie beitragen.3 Diesen Gedanken hatte bereits Bachelard, in Deutschland verbindet er sich vor allem mit dem Werk von Thomas Kuhn, weil die französische Wissenschaftstheorie merkwürdigerweise nie besonders einflussreich geworden ist (siehe Lepenies 1987). Wie oben erläutert, ist das Verhältnis zwischen Gegenstand, Vorurteilen und eigener sozialer Position in den Sozialwissenschaften enger und komplizierter als in den Naturwissenschaften. Selbstkritik, vor allem soziologische Kritik, ist hier dringlicher als in den von Bachelard erforschten Naturwissenschaften (1991a: 29ff; 1987b: 7).

 

Ein wesentlicher Aspekt des Verhältnisses der Sozialwissenschaften zu ihrem Gegenstand ist dessen politischer Charakter. Es geht in ihnen nicht nur um das Bild des Menschen, sondern auch um seine gelebte Wirklichkeit. Für einige Gegenstände der Sozialwissenschaften sind Menschen bereit zu sterben. Und wer Soziologie betreibt, hat selbst reale Einsätze in seinen Gegenständen (1993b: 21). Die Politisierung hält Bourdieu für eine formidable Quelle des Irrtums. In der Physik widerlegt man den Gegner durch ein Argument, in der Soziologie durch Denunziation des politischen Gehalts seiner Theorie (1993b: 23). Bourdieu zufolge ist das keine wissenschaftliche Widerlegung. Man geht davon aus, dass Bourdieu ein politischer Denker ist, vielleicht gar der politisch engagierte Intellektuelle schlechthin. Das Politische bildet für ihn jedoch nicht die inhaltliche Begründung der Wissenschaft, sondern den formalen Zweck. Darauf werde ich im letzten Abschnitt des Kapitels genauer eingehen. Auch im Hinblick auf die Politik muss mit der Alltagssicht gebrochen werden. Politisches Engagement ist nicht Voraussetzung, sondern Resultat der wissenschaftlichen Forschung. So meint Bourdieu, die Funktion der Soziologie sei es nicht zuletzt, Prophetie und Terrorismus zu erschweren (1993b: 17, 32). Ferner: »Mein Ziel besteht darin, mit zu verhindern, dass beliebig über die soziale Welt gesprochen werden kann.« (1993b: 18) Und wie Soziologie oft als Beweis- und Legitimationsinstrument einer aus dem Alltag stammenden politischen Überzeugung benutzt wird, so werden ihre Ergebnisse oft als politische Stellungnahmen verstanden (1993b: 39). Daher will Bourdieu seine Soziologie gleichzeitig verbreiten und gegen Missbrauch schützen. Diese eigentlich unmögliche Kombination ist ihm erstaunlich gut gelungen.

Die Technik der epistemologischen Paare beschränkt Bourdieu nicht auf verschiedene Schulen und Denker, er weitet sie auch auf ganze Disziplinen aus (Hepp 2000: 19f). Objektive Trennungen durch die (wissenschaftliche) Arbeitsteilung führen zu mentalen Trennungen, die wiederum bestimmte Gedanken unmöglich machen. Die Organisation von Wissenschaft hat Auswirkungen auf ihre Ergebnisse und muss daher kritisch hinterfragt werden (1991a: 81). Bourdieus Erkenntnisse in Algerien beruhten auf der Kombination von Ethnologie und Soziologie. Tendenziell diente ja die Soziologie der Untersuchung der eigenen Gesellschaft, die Ethnologie der einer fremden. Die Trennung hat teilweise bis heute Bestand, aber Bourdieu hat viel zu ihrer Überwindung beigetragen. Seines Erachtens war die Grenzziehung zwischen Ethnologie (Fremdes beschreiben und verstehen) und Soziologie (Eigenes erklären) ein Produkt der Kolonialgeschichte ohne logische Begründung (1993b: 29). Die Distanz der Ethnologie zu ihren Gegenständen deutete er in eine Differenz von Theorie und Praxis um, also in eine zugleich notwendige und zu überwindende Objektivierung (1987b: 32f). Die eigene Gesellschaft sollte man ebenso distanziert, unengagiert und verwundert betrachten wie eine fremde; und man müsse die gleiche Arbeit des Verstehens leisten wie in einer unvertrauten Umgebung. Diese Einstellung hat Bourdieu zeit Lebens beibehalten. Sie kulminierte im »Elend der Welt« (1997b; siehe 7. Kapitel).

Schließlich wandte Bourdieu die soziologische Kritik nicht nur auf die Scientific Community an, sondern auch auf sich selbst. Die Soziologie der eigenen Position in der Gesellschaft und in der Scientific Community war für ihn Bestandteil der Wissenschaftstheorie (Krais 1991: X). Das ist einer der Gründe für seine unaufhörliche Beschäftigung mit der Wissenschaft und der Universität. Sein »Homo academicus« (1988c) wurde von vielen seiner Kollegen und Kolleginnen als Diffamierung und als Veröffentlichung interner Angelegenheiten der Wissenschaft aufgefasst. Um dieser Lesart vorzubeugen, hat Bourdieu gleich zu Beginn des Buches den wissenschaftstheoretischen und -soziologischen Impetus des Werks dargelegt: Das objektivierende Subjekt müsse sich selbst objektivieren, um seine Strukturen und Neigungen zu erkennen, die eigene Sichtweise zu objektivieren und damit den Gegenstand besser objektivieren zu können (1988c: 10). Drei Stufen der scholastischen Haltung sollten reflektiert und gleichsam unschädlich gemacht werden: die sozialen Voraussetzungen des Soziologen oder der Soziologin, die Struktur des akademischen Feldes und die theoretische Haltung (Wacquant 1996: 66f).

Bourdieu war zeitweise der Meinung, Wissenschaft auf diese Weise vollständig und angemessen begründen zu können. Durch soziologische Kritik an den eigenen Voraussetzungen sei es möglich, sich von den Verzerrungen und damit vom Irrtum zu befreien (1987b: 52f). Diese Auffassung widerspricht seinem eigenen Ansatz und leitet sich wahrscheinlich aus seiner philosophischen Ausbildung her. Sie beinhaltet nicht nur einen Zirkel, sondern auch eine Variante des Induktionsproblems: Kritik an einzelnen Voraussetzungen ist ein endliches Unterfangen, von dem aus nicht auf ein Allgemeines geschlossen werden kann. Der Zirkel lautet, dass die soziologische Kritik an der Soziologie bereits eine Soziologie voraussetzt. Bourdieu hat ihn ernst genommen und seinen Begründungsanspruch relativiert. Er hat versucht, den Zirkel fruchtbar zu gestalten, indem er seine Theoreme auf sich selbst anwandte und empirisch überprüfte. Die Scientific Community und die eigene Position in ihr wurden mit den Mitteln untersucht, die Bourdieu in seiner empirischen Erforschung anderer Gegenstände entwickelte. Damit wurde seine Wissenschaftstheorie zunehmend empirisch verankert. Er hat sein eigenes Handeln als Streben nach Anerkennung und nach einer Verbesserung der sozialen Position (vor allem innerhalb der Wissenschaft) gedeutet (2002b; vgl. Saalmann 2003). Und genau diese Konkurrenz zwischen Wissenschaftlern um eine Verbesserung ihrer sozialen Position und um Anerkennung hielt er für den Motor wissenschaftlichen Fortschritts (siehe unten 2.4 und Fröhlich 2003: 119). Konkurrenz generiert neue Sichtweisen und Kritik und hilft damit, den Irrtum zu vermeiden (1992b: 55).

Mit dem Fortschritt führt Bourdieu die Geschichte, also Relativität, wieder in das Begründungsproblem ein. Wissenschaftlicher Fortschritt ist ein offener Prozess, Begründung ist nur graduell und relativ möglich (1992b: 44ff). Diese Auffassung scheint Bourdieu eher vertreten zu haben als den Glauben an eine Letztbegründung. Dennoch beinhaltet auch die Begründung durch Konkurrenz und Kritik (Fröhlich 2003) einen Glauben, nämlich den an wissenschaftlichen Fortschritt. Wenn man einen Irrtum »erkannt« hat, heißt das noch nicht, dass eine Wahrheit an seine Stelle tritt. Trotz seiner teilweise emphatischen Formulierungen zu dieser Frage wird sich Bourdieu der Probleme bewusst gewesen sein. Der genannte Wunsch, Beliebigkeit und Terrorismus zu verhindern, klingt gegenüber dem Universalismus des Begründungsproblems sehr bescheiden. Tatsächlich hat der viel kritisierte »Soziologismus« Bourdieus hier auch eine praktische Seite. Ihn trennt von Hegel und Gadamer nicht nur die Selbstkritik an der theoretischen Haltung, sondern auch die Ablehnung des Überlegenheitsanspruchs der großen Theorie (1987b: 55). Die philosophische Tradition kennt nur die Kommunikation zwischen den (ausschließlich männlichen) Heroen der Geistesgeschichte und lässt sich von ihnen Topoi und Gedanken vorgeben – die dann eben hermeneutisch-dialektisch bearbeitet werden. Das ist ein wahrhaft hermeneutischer Zirkel. Bourdieu dagegen stellt die Fragen an das empirische Material des Alltags, konfrontiert philosophische Gedanken und alltägliche Topoi. »Eines der Geheimnisse des soziologischen Handwerks liegt darin, die empirischen Gegenstände zu finden, im Hinblick auf die sich tatsächlich sehr allgemeine Probleme stellen lassen.« (1993b: 50)

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