Die Soziologie Pierre Bourdieus

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1.3 Der Geist des Kapitalismus

Bourdieu hat schnell erkannt, dass sich der »Geist des Kapitalismus« kulturell und sozial nicht einheitlich verbreitete. Wie aber der vorkapitalistische Geist aussah, war weit schwieriger zu ermitteln. Er brauchte viele Jahre, um zu erkennen, dass seine – auch für uns heute selbstverständlichen – Vorstellungen von Wirtschaft bei den Kabylen und zahlreichen anderen Algeriern völlig unbekannt waren. Ökonomische Verhaltensweisen, Denkmuster und Akteure sind historisch erst im Laufe einer komplexen Entwicklung entstanden und nicht in der »menschlichen Natur« angelegt (2000c: 7f). Im Frühstadium der kapitalistischen Entwicklung waren Verhaltensmuster erforderlich, die Max Weber als »asketisch« und »protestantisch« bezeichnete, also Vorsorge, Abstinenz und Sparsamkeit, während im entfalteten Kapitalismus Kredit, Konsum und Genuss an ihre Stelle getreten sind (2003c: 22). Die Wirtschaftswissenschaft setzt einen bestimmten Typ des homo oeconomicus stets voraus, ohne seine historische, soziale und kulturelle Bedingtheit zu untersuchen. Daher bezeichnet Bourdieu sie als »die moralischste der Moralwissenschaften« (ebd.).14 Ein rationales, kalkulierendes Denken und Verhalten wird von ihr eher gefordert als empirisch aufgewiesen.

Wie passte sich nun das Denken, Wahrnehmen und Handeln der Algerier an die kapitalistische Wirtschaft an? Bourdieu wollte diese Frage nicht im Anschluss an Max Weber »subjektivistisch« untersuchen, für den das Verstehen von Motiven und Zielen ein wichtiger Bestandteil der Methode war (1963: 315). Für Bourdieu reichte es, die Entstehung eines rationalen Kalküls als bloße Reaktion auf einen Zwang zu untersuchen. Der Kapitalismus wurde den Algeriern von den Kolonialherren aufgezwungen. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als auf ihn zu reagieren. Das schien Bourdieu eine gute methodische Voraussetzung zu sein, um den »Geist des Kapitalismus« zu untersuchen.

»Da sich in unseren Gesellschaften das ökonomische System und die Einstellungen in relativer Harmonie befinden, übersieht man leicht, dass das ökonomische System sich als Feld objektiver Erwartungen darstellt, die von Subjekten nur erfüllt werden können, wenn sie über einen bestimmten Typ ökonomischen, allgemeiner: zeitlichen, Bewusstseins verfügen.« (1963: 316; eigene Übersetzung)

Hinter diesem Satz lässt sich erneut Bourdieus Einsicht erahnen. Das Individuum wird in eine soziale Welt eingeübt. Aus diesem Grund ist es an deren Strukturen und Erfordernisse (»objektive Erwartungen«) angepasst. In Algerien war das nicht mehr der Fall. Daher konnte man sowohl die Anpassungsprozesse als auch die Strukturen (die Erwartungen) besonders klar erkennen. Dass auch hierbei eine Form des Verstehens zum Tragen kam, gestand Bourdieu erst in seinem Spätwerk zu (vgl. 1997b). In Algerien meinte er noch, den Gegenstand durch den Einsatz objektivistischer Instrumente erschöpfend bearbeiten zu können.15

Den Kern von Bourdieus Forschung in Algerien bildete die Einsicht in die Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher Strukturen. In diesem Zusammenhang erlangt der Begriff der Zeit in zweierlei Hinsicht eine zentrale Bedeutung. Erstens enthält die Beobachtung der Ungleichzeitigkeit zwischen kapitalistischen und traditionalen Strukturen den Keim von Bourdieus Einsicht. Zweitens unterscheiden sich kapitalistischer und traditionaler Habitus in erster Linie durch ihre Verfügung über die Zukunft. Der ökonomische Habitus hängt von der objektiven Zukunft seiner Gruppe und der Einschätzung von dieser Zukunft ab (1963: 346, 382). Das Verhältnis zur Zeit untersuchte Bourdieu noch genauer. Er ermittelte eine unterschiedliche Einstellung bei Bauern, Subproletariern, Arbeitern und Kapitalisten. Die Vorstellung eines ökonomischen Werts der Zeit war der algerischen Tradition völlig fremd (1962b: 1031). Alles hatte seine Zeit (2000c: 56ff). Man war immer beschäftigt, aber man arbeitete nicht: Was getan werden musste, wurde getan, gemäß dem Lauf der Zeit (1964a: 78, 157). Im Frühjahr sät man, im Herbst erntet man, bei Regen hängt man die Wäsche ab usw. »Tatsächlich ist der vorkapitalistischen Wirtschaft nichts fremder als die Vorstellung von einer Zukunft als einem Feld des Möglichen, dessen Erforschung und Beherrschung dem Kalkül anheim gestellt wäre.« (2000c: 32) Genau diese Vorstellung aber ist für kapitalistisches Handeln unerlässlich. Wie verhielten sich nun die verschiedenen Gruppen der algerischen Gesellschaft zu ihr?

Die Bauern behielten weit gehend ihre traditionelle Einstellung zur Zeit bei. Die Zeit hatte kein rationales Maß und keinen ökonomischen Wert. Umgekehrt wurde die Arbeit nicht in Zeit und Produktivität gemessen (1964a: 78). Die Bauern folgten dem Rhythmus der Natur und der Tradition (1964a: 157). Ihre Ehre gebot es ihnen zu arbeiten, nicht aber die ökonomische Notwendigkeit (1964a: 163). Der Ertrag der Arbeit hing nicht von der Produktivität der Arbeit ab, sondern von nicht zu beeinflussenden Mächten (2000c: 55). Max Weber hatte Bourdieu zufolge den Unterschied zwischen Tätigkeit und Müßiggang in der traditionalen Gesellschaft durch seine Unterscheidung von rationalem und traditionalem Handeln verwischt (2000c: 54). Diese Unterscheidung ist eine moderne, die den Kapitalismus voraussetzt. Sie wurde auch von der modernisierten Stadtbevölkerung Algeriens vorausgesetzt, die die Bauernschaft als unterbeschäftigt, nicht wertvoll und zurückgeblieben betrachtete (1964a: 81, 157). In der Bauernökonomie waren handwerkliche und kaufmännische Tätigkeiten den landwirtschaftlichen, die den Lebensunterhalt sicherten, untergeordnet. Im Kapitalismus war das umgekehrt (2000c: 12f).

Unterbeschäftigt waren auch die Subproletarier. Sie hatten sich die Definition von Arbeit als produktive und bewertete Arbeitszeit jedoch schon teilweise zu eigen gemacht. Wenn sie nicht oder zu wenig arbeiteten, vergeudeten sie ihre Zeit (1962b: 1032f). Gleichzeitig aber konnten sie ihre Zeit nicht rational planen und ein kalkulierendes Denken entwickeln, weil sie keine Verfügung über ihre eigene Zukunft hatten (1962b: 1040). Sie konnten nicht einfach arbeiten oder mehr arbeiten, sondern waren von Gelegenheiten abhängig. Unterhalb einer gewissen Einkommensschwelle und Beschäftigungsstabilität war keine Rationalität möglich (2000c: 20). Und erst wer seine Arbeit frei wählen konnte, war in der Lage, eine berufliche Moral (also nach Weber: einer kapitalistischen Wirtschaftsethik) zu entwickeln (1963: 298). Proletariat und Kleinbürgertum vermochten, ihr Leben zu planen, ihre Ziele in eine hierarchische Ordnung zu bringen und utilitaristisch zu handeln (1962b: 1040). Diese beiden Klassen waren in Algerien zahlenmäßig jedoch sehr klein. Noch kleiner war die algerische Bourgeoisie, die allein im engeren Sinne kapitalistisch handeln konnte, indem sie Kapital einsetzte und Mehrwert akkumulierte. Die Mehrheit der algerischen Kapitalbesitzer operierte im Handel, weil hier das eingesetzte Kapital sehr schnell verwertet wurde, während der Zyklus in der Industrie sehr viel länger und unübersichtlicher war (1963: 376f). Mit dem algerischen Unternehmertum hat sich Bourdieu allerdings nicht eingehender beschäftigt.

Zusammenfassend charakterisierte Bourdieu die Entstehung eines Geistes des Kapitalismus nicht mehr als Anpassung, sondern als »Konversion« (2000c: 14). Das Weltbild »verkehrte« sich vollständig, wurde nicht nur modifiziert (2000c: 17). Die Menschen mussten ihr Weltbild geradezu neu konstruieren. Darin waren sie den europäischen Frühkapitalisten ähnlicher als den gegenwärtigen Wirtschaftssubjekten (2000c: 26f). Die Konversion gelang, weil die Menschen den kapitalistischen Geist durch den Kontakt mit der europäischen Wirtschaft »atmeten« (1963: 314). Ähnlich wie Karl Polanyi formulierte Bourdieu:

»Alle zentralen Charakteristika vorkapitalistischer ökonomischer Praktiken finden ihren gemeinsamen Nenner darin, dass die von uns als ökonomisch angesehenen Verhaltensweisen noch nicht als solche konstituiert und verselbstständigt sind, d. h. noch nicht als aus einer besonderen Ordnung stammend betrachtet werden, eine Ordnung, welche von Gesetzen anderer Art beherrscht wird als jene, welche gewöhnliche gesellschaftliche Beziehungen, insbesondere zwischen Verwandten, bestimmen.« (2000c: 8)

1.4 Ethno-soziologische Methoden

Die ethnologische Situation bietet eine Besonderheit, die zugleich Vorteil und Nachteil ist. Man kennt den Gegenstand nicht aus eigener Erfahrung und hat deshalb Distanz zu ihm. Diese Situation bietet die Möglichkeit, den Erkenntnisprozess zu beobachten und die eigenen Voraussetzungen in den Blick zu bekommen und kritisch zu hinterfragen. Sie zwingt aber auch dazu, die zuvor unbekannten, fremden Menschen zu verstehen, ihre Perspektive kennen zu lernen und zumindest hypothetisch nachzuvollziehen. In dieser Situation befand sich Bourdieu während seiner Forschungen in Algerien. Er hat sie nicht mehr verlassen, sondern mit nach Frankreich zurückgenommen.

In Algerien befand er sich in einer besonderen Variante der ethnologischen Situation, denn er war als Soldat einer Kolonialmacht gekommen. Einerseits schien ihm der Kolonialkrieg die Erkenntnis zu begünstigen, denn er offenbarte die wesentlichen Eigenschaften der algerischen Gesellschaft (1962a: 308). Darüber hinaus ermöglichte er die Erkenntnis der Kolonialherrschaft. »Der Krieg bringt mit einem Schlag die wahren Grundlagen der kolonialen Ordnung ans Tageslicht, nämlich das Kräfteverhältnis, mit dem die herrschende Kaste die beherrschte Kaste unter Vormundschaft hält.« (2003a: 22) Andererseits aber erschwerte er den Forschungsprozess und die Kommunikation mit den Menschen, die Bourdieu gegenüber misstrauisch waren und stets nur über ihre Leiden sprechen wollten (1963: 260f). Ferner bedienten sie sich nicht ihrer eigenen Sprache, sondern beschränkten sich auf Worthülsen (1963: 259). Bourdieu beobachtete nun, dass ihre Worte oft von ihren Handlungen abwichen (2003a: 32). Das wurde ihm zur Grundlage der Fragen, die er im Forschungsprozess stellte. Er hatte vor, den Worten und Handlungen der Menschen den Sinn wiederzugeben, den sie vor der Kolonialherrschaft hatten (1963: 259f). Das erwies sich jedoch als problematisch – ebenso wie seine strikte Trennung von traditionaler und moderner Gesellschaft. Glücklicherweise konzentrierte er sich darauf, die soziale Wirklichkeit so zu untersuchen, wie sie sich ihm darbot, und den Auswirkungen von Kolonialherrschaft und Krieg nachzuspüren.

 

Bei der Beschäftigung mit den Kabylen kam ihm zu Gute, dass er selbst auf dem Land aufgewachsen war und viele der Aspekte des Bauernlebens kannte. Dem Misstrauen und der Fremdheit begegnete er durch einen folgenreichen Kunstgriff. Er hatte sich mit dem algerischen Wissenschaftler Abdelmayek Sayad angefreundet, der ihn bei der Feldforschung begleitete.16 Auf diese Weise ergab sich stets ein doppeltes Bild. Einer war vertraut, der andere fremd; einer schrieb, der andere hörte zu und stellte die Fragen; einer beobachtete, der andere handelte. Die Einbeziehung und Ausnutzung verschiedener Perspektiven auf denselben Gegenstand zeichnete Bourdieus Methode bis zuletzt aus. Hierzu gesellt sich eine Vielheit der Instrumente, die er in keiner Weise orthodox und schulmäßig trennte (Schultheis 2003a: 27). Bourdieu kaufte sich eine gute Kamera und machte in Algerien unzählige Photographien (siehe 2003b). Photographie ist auch ein Weg zu den Menschen, sie eröffnet den persönlichen Kontakt, ermöglicht die Aufzeichnung von Details und Vergänglichem, beeinflusst ihn aber wenig und ist wenig selektiv. Bourdieu machte standardisierte und offene Interviews, kontrollierte und zufällige Beobachtungen, sammelte und analysierte Sprichwörter, notierte Haushalts- und Zeitbudgets, fertigte Schemata und Zeichnungen an (Schultheis 2003a: 30).

»Ich bin einfach ins kalte Wasser gesprungen, so wie man Kinder ins Wasser stößt, damit sie schwimmen lernen. Ich arbeitete gleichzeitig an tausenderlei Fragen und Themen von der Gabe, über den Kredit bis hin zu Verwandtschaftsbeziehungen und hatte irgendwie schon das Gefühl, auf dem rechten Wege zu sein, ohne dass ich aber genauer hätte sagen können, worin meine Methode denn eigentlich konkret bestand« (zitiert nach Schultheis 2003a: 33).

Mit Sayad arbeitete er nach eigener Aussage über Wochen von sechs Uhr morgens bis drei Uhr nachts (2003b: 39). Schließlich befragte er mit seinen Kollegen vom INSEE rund 2000 Personen (von denen er 200 für eine genauere Erhebung mit eigenen Fragen auswählte) (Schultheis 2000: 173).17

Ein wichtiges ethnologisches Instrument hat Bourdieu allerdings vergessen, was er später sehr bedauerte: das Tagebuch (2003b: 38). Das Bedauern beruht sicher zum Teil darauf, dass das Tagebuch eine besonders gute Grundlage für die Gleichzeitigkeit von Forschung und Selbstreflexion bietet, die Bourdieus Ansatz auszeichnet und schon in Algerien entwickelt war.

»Da ich überzeugt bin, dass man sich entfernen muss, um sich anzunähern, dass man sich selbst einbringen muss, um sich auszuschließen, dass man sich objektivieren muss, um die Erkenntnis zu entsubjektivieren, war mein erstes Objekt der anthropologischen Erkenntnis ganz bewusst die anthropologische Erkenntnis selbst, und die Differenz, die sie notwendigerweise von der praktischen Erkenntnis unterscheidet.« (2003a: 45)

Erst die Enthüllung des eigenen Vorverständnisses ermöglicht eine verstehende Annäherung an den Gegenstand. Ganz im Geiste Gadamers vermittelte Bourdieu seine Konstruktion des Gegenstands mit seinen Beobachtungen des Gegenstands. Daraus erwuchs seine Erkenntnis der kulturellen Einbettung der Wirtschaft und letztlich auch seine Einsicht in die Ungleichzeitigkeit.

»Nichts hatte mich darauf vorbereitet, die Ökonomie, und erst recht nicht die eigene, als ein Glaubenssystem zu denken, und ich musste nach und nach auf dem Wege der ethnographischen Beobachtung und verstärkt durch meine statistischen Untersuchungen die praktische Logik der vorkapitalistischen Ökonomie erlernen, während ich gleichzeitig damit befasst war, deren Grammatik mehr schlecht als recht zu beschreiben.« (2000c: 16)

2 Brüche

Gegenstand dieses Kapitels ist Bourdieus Erkenntnistheorie, deren Grundlagen er in Reflexion auf seine Erfahrungen in Algerien und seine Forschungen über das französische Bildungswesen (siehe 4. Kapitel) erarbeitete. Das Kapitel ist zwar weniger empirienah als das vorangehende, aber auch nicht so beängstigend trocken, wie man befürchten könnte. Das liegt an Bourdieus Auffassung von ihr. Sie muss zwar mit dem Alltagsverstand brechen, gleichzeitig aber die eigene Verstrickung in die Welt des Alltags reflektieren. Dieser Bruch ist Thema des ersten Abschnitts. Im zweiten Abschnitt wird erörtert, wie nach Bourdieu die erkenntniskritische Reflexion auf die Verstrickung in den Alltag aussehen kann. Auch hier bemüht sich Bourdieu um Brüche – mit der Alltagssprache, mit den überkommenen Traditionen und Dichotomien, den eigenen Vorurteilen und der theoretischen Haltung zur Welt zu brechen, indem er sie kritisch aufarbeitet. Die Konsequenzen der kritischen Aufarbeitung für die wissenschaftliche Begriffsbildung werden im dritten Abschnitt thematisiert. An die Stelle eines substanzialistischen und auf absoluter Begründung basierenden Denkens tritt bei Bourdieu ein relationales Denken in Konfigurationen, das eine Begründung und eine Reichweite auf mittlerer Ebene sucht. Die Begründung ist Gegenstand des vierten Abschnitts. Sie besteht in der Kritik zum Zweck der Befreiung von praktischen und theoretischen Zwängen. Da genau so auch der Begründungsanspruch der kritischen Theorie formuliert werden könnte, soll Bourdieus Anspruch etwas genauer mit dem von Jürgen Habermas kontrastiert werden. Einleitend wird Bourdieus Lebenslauf nach seiner Rückkehr aus Algerien kurz skizziert, damit sich die erörterten Gedanken und Schriften besser in ihrem Umfeld verorten lassen.

1960 kehrte Bourdieu endgültig nach Frankreich zurück. Seine Kritik am Existenzialismus wurde unter den Intellektuellen in Paris jetzt immer mehr geteilt. Vorreiter der Kritik war Claude Lévi-Strauss, der im Anschluss an den Linguisten Ferdinand de Saussure den Strukturalismus weiterentwickelte. Lévi-Strauss hatte mit den herkömmlichen Methoden der Ethnologie bei seiner Feldforschung in Brasilien wenig Erfolg gehabt. Über die daraus resultierende Frustration hat er in seinem Buch »Traurige Tropen« (1978) äußerst beredt und anschaulich Zeugnis abgelegt. Eine der wichtigsten Folgerungen, die er daraus zog, war die Unfruchtbarkeit verstehender Methoden. Die Eingeborenen könnten über die Gesetzmäßigkeiten, die ihrem Handeln, Denken und Sprechen zu Grunde liegen, nichts von wissenschaftlichem Wert sagen. Die Wissenschaft müsse die Gesetzmäßigkeiten formal konstruieren. In der Konstruktionsarbeit führte Lévi-Strauss die sinnhaften Phänomene der sozialen Welt letztlich wie Saussure auf formale, überhistorische Differenzen zurück. Diese Differenzen werden als »diakritische«, dichotomische Gegensätze gefasst, ähnlich wie 0 und 1 in der Computersprache. Der erste Band der kunstvoll komponierten und unterhaltsam zu lesenden »Mythologica« (1971) beruht beispielsweise auf dem Gegensatz zwischen Rohem und Gekochtem. Bourdieu, der nach einem wissenschaftlichen Paradigma suchte, mit dem er sein algerisches Material konsistent interpretieren könnte, war vom Strukturalismus beeindruckt (1987b: 8f). Er besuchte die Vorlesungen, die Lévi-Strauss als Professor an der renommiertesten französischen Bildungsinstitution, dem Collège de France, hielt. Und er bemühte sich rund zehn Jahre lang, das algerische Material strukturalistisch zu interpretieren. Die im Werk »Sozialer Sinn« abgedruckte Studie über das algerische Haus (zuerst 1969 erschienen) war seine vielleicht reinste, auf jeden Fall seine »letzte Arbeit als unbefangener Strukturalist« (1987b: 23).

Die Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus war spätestens ab 1960 eine der Konstanten in Bourdieus Denken – und ist es auch in der Sekundärliteratur. Stets wird gefragt, in welchem Maße Bourdieu Strukturalist war und blieb. Die Frage wird uns noch an mehreren Stellen beschäftigen. Hier sei darauf hingewiesen, dass Bourdieu stets ein Gegengewicht gegen den Objektivismus des strukturalen Denkens hatte. Er war mit Max Weber, der qualitativen Forschung und der Phänomenologie gut vertraut. Im Rückblick müssen die rein strukturalistischen Arbeiten Bourdieus eher als ein weiterer Versuch gelten, ein eigenes wissenschaftliches Paradigma zu entwickeln. Weder der algerische Hintergrund noch der weitere Denkweg Bourdieus machen eine völlige Bekehrung zu Lévi-Strauss wahrscheinlich. Tatsächlich war auch seine Forschung der Sechzigerjahre nur zum Teil mit dem Strukturalismus kompatibel. Er beschritt genau den entgegengesetzten Weg wie Lévi-Strauss in den »Traurigen Tropen«, indem er den ethnologischen Blick des Fremden auf die eigene Gesellschaft richtete (2002b: 71). Bourdieu meinte später, dass die Lektüre von Alfred Schütz ihn dazu inspiriert habe (2002b: 69).1 Wenn es einen Gegensatz zu Lévi-Strauss gibt, so verkörpert Schütz ihn sicher sehr gut. Noch während der Arbeit an den Texten zu Algerien erforschte Bourdieu in seiner Heimat, dem Béarn, die Heiratsstrategien, also einen Aspekt der sozialen Reproduktion.

»Den verstehenden Blick des Ethnologen, mit dem ich Algerien betrachtet habe, konnte ich auch auf mich selbst anwenden, auf die Menschen aus meiner Heimat, auf meine Eltern, die Aussprache meines Vaters und meiner Mutter, und mir das alles so auf eine völlig undramatische Weise wiederaneignen, denn hier liegt eines der großen Probleme entwurzelter Intellektueller, wenn ihnen nur die Alternative zwischen Populismus oder im Gegenteil einer durch Klassenrassismus bedingten Scham für sich selbst bleibt. Ich bin diesen Menschen, die den Kabylen sehr ähnlich sind und mit denen ich meine Kindheit verbracht habe, mit dem Blick des Verstehens begegnet, der für die Ethnologie zwingend ist und sie als Disziplin definiert.« (2003b: 48)

Rückblickend sagte Bourdieu, die Forschungsarbeit in ihm vertrauten Umgebungen, dem Béarn und der Universität, habe es ihm ermöglicht, seine »strukturalistischen Vorurteile« abzulegen (1992b: 27). Im heimischen Universum sei es ihm möglich gewesen, den Erkenntnisprozess und das Erkenntnissubjekt mit zu erforschen (1992b: 79f). Dabei ging es auch um die verdeckten Annahmen, die in einer theoretischen, distanzierten, objektivierenden Haltung impliziert sind. Diese theoretische Analyse der theoretischen Einstellung war eine der Grundlagen für den Bruch mit dem strukturalistischen Paradigma. Aus der theoretischen Perspektive spreche man von Heiratsregeln, in der praktischen Haltung seien es eher Heiratsstrategien. Die theoretische Erklärung des Handelns sei nicht sein Prinzip (1976: 140ff). Das entdeckte Bourdieu bei der Interpretation des béarnesischen und des algerischen Materials. Dem strukturalistischen Denken zufolge ist die Heirat mit der Parallelkusine die vorherrschende, grundlegende Heiratsform, eine Struktur. Empirisch traf das in Algerien allerdings nur in drei bis sechs Prozent der Fälle zu (1992b: 26f). Man konnte also die Strenge, Klarheit und Objektivität des Strukturalismus auf Kosten der empirischen Sättigung beibehalten oder man musste mit dem Strukturalismus brechen. Bourdieu wählte letzteren Weg.

Ein weiteres Gegengewicht gegen den Strukturalismus bildete Bourdieus berufliche Laufbahn. 1960 bis 1962 war er Assistent bei Raymond Aron an der Faculté des lettres an der Pariser Sorbonne (hierzu Jurt 2003b: 66f). Aron wird das Verdienst zugeschrieben, Weber in Frankreich populär gemacht zu haben. Ferner besetzte er in der Welt der französischen Intellektuellen eine konservative Position. Bei Aron promovierten viele der heute bekannten französischen Soziologen. Er hatte kurz zuvor den ersten eigenständigen Universitätsabschluss in Soziologie eingeführt. Bourdieu war nun also nicht mehr Philosoph und nicht mehr Ethnologe, sondern offiziell Soziologe.

Der Vollständigkeit halber seien einige wichtige Etappen seines folgenden Lebenslaufs genannt. 1962 heiratete er Marie-Claire Brizard. 1962 bis 1964 war er Maître de Conférences (Dozent) für Soziologie an der Faculté des lettres in Lille, ab 1964 Generalsekretär des Centre de sociologie européenne, das Raymond Aron 1960 mit finanzieller Unterstützung der Ford Foundation gegründet hatte. 1964 bis 1984 hatte Bourdieu eine Forschungsstelle an der Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS) und eine Professur für Soziologie an der Faculté des lettres (beide in Paris). 1968 bis 1988 war er Direktor des von ihm initiierten Centre de sociologie de l’éducation et de la culture, ein mit dem Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) assoziiertes Forschungsinstitut. 1982 wurde er zum Professor für Soziologie am Collège de France berufen, was den Gipfel einer wissenschaftlichen Laufbahn in Frankreich, eine Art Heiligsprechung, darstellt. In dieser Eigenschaft hält man lediglich Vorlesungen und ist mit keinerlei Betreuungs- und Verwaltungsaufgaben betraut. 1964 bis 1992 war Bourdieu Herausgeber der Schriftenreihe »Le Sens Commun« beim Pariser Verlag Editions de Minuit, ab 1975 gab er eine eigene Zeitschrift heraus, die »Actes de la recherche en sciences sociales«, die heute noch fortgeführt wird. Im selben Jahr wurde er Consulting Editor der Zeitschrift »American Journal of Sociology« (Chicago) und 1989 Herausgeber der Zeitschrift »Liber« (Paris). Seit 1981 fungierte er als Berater der Gewerkschaft Confédération Française Démocratique du Travail (C. F.D. T.).

 

Am Centre de sociologie européenne sammelte sich um Bourdieu eine Forschergruppe, die unter anderem Luc Boltanski, Robert Castel, Jean-Claude Chamboredon, Patrick Champagne, Yvette Delsaut, Remi Lenoir, Jean-Claude Passeron, Louis Pinto und Monique de Saint-Martin umfasste (2003a: 53f). Viele von ihnen arbeiteten über Jahrzehnte hinweg zusammen – und tun es zum Teil noch heute. Die Arbeit in der Gruppe war für Bourdieu Programm. Das ist in seiner Theorie selbst begründet. Die Gruppe bildet in sich ein soziales Universum mit verschiedenen Perspektiven und vereint Menschen mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund, die einander die blinden Flecken aufzeigen, sich kritisieren und ergänzen können. Das Programm ist in Bourdieus Wissenschaftstheorie verankert und wurde in die Praxis umgesetzt. Dass die Umsetzung nicht ganz demokratisch geschah und sich Bourdieu nicht zuletzt aus diesem Grund mit einigen seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen entzweite, beruht eher auf menschlichen Schwächen als auf der Unzulänglichkeit des Programms. Bourdieu hätte unmöglich den schon fast legendären Reichtum an empirischem Material bearbeiten und es so gut verarbeiten können, hätten nicht seine Kollegen und Kolleginnen ihre eigenen Stärken mit eingebracht. Auch ein Gutteil seiner Wirkung ist darauf zurückzuführen.

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