Dämmer und Aufruhr

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8

Ja, einmal tauchte mein Vater – nicht weniger überraschend, als er in meiner alten Mutter mit der Klopapierfetzengeschichte wieder lebendig geworden war – im Gasthof Vordergrub auf. Er entstieg seinem grauen VW mit geteilter Heckscheibe, für den herbeigeeilten Sohn noch immer der Dunkelhäutige mit Fez, heldenhaft heimgekehrt von einer Schiffsreise, seine junge Frau aber begrüßt ihn als Helden der Landstraße und einer Firma, die er vor dem Untergang bewahrt. Also schmiegt sich der Sohn an den, an den sich auch die Mutter schmiegt, und spürt das vertraute Holzbein; er wird sogar hochgehoben und nimmt einen Geruch nach Zigaretten und Rasierwasser auf, nach Schweiß von der langen Fahrt und auch etwas nach Wein. Der Held, der Vater, nennt den Sohn beim Namen, ohne den Namen abzuwandeln, und der Benannte äußert seinen heißesten Wunsch: mit der Seilbahn auf das Kitzbüheler Horn zu fahren. Nur einer, der im Krieg gekämpft hat, im Panzer saß, kann diesen Wunsch erfüllen, mit ihm in eine schwankende Gondel steigen und über Abgründe schweben, niemals die, die schon bei dem Gedanken an Abgründe wilde Bewegungen macht und ruft, keine zehn Pferde brächten sie in eine Seilbahn. Der Vater dagegen steckt sich eine Reval an – wie der immer noch hochgehobene Sohn das verfolgt, die Art, ein Streichholz anzureißen und nach dem Entzünden der Zigarette die Flamme auszuschütteln, den ersten Zug zu tun und den Rauch aus der Nase strömen zu lassen, um dann unvergessene Worte zu sagen: Söhnchen, wir fahren da gleich morgen hinauf.

Und in einer Gondel ganz für uns schwebten wir am nächsten Tag bei strahlendem Wetter auf das Kitzbüheler Horn zu, hoch über Tannenspitzen und steilen Matten, über Almen und Felsschründen und einer Schlucht – mit sachtem Schaukeln geht es bergan, fast geräuschlos, das Gondelfenster weit offen. Es ist Mittag, es ist heiß, der Vater hat das eine Hosenbein etwas hochgezogen und sogar auch das andere ein Stück, so, als wäre noch sein eigener Knöchel darunter und keiner aus Holz, und der glückstrunkene Sohn, trunken in dem seltenen Gefühl, einen Vater zu haben und über ihn gebieten zu können, möchte die Geschichte von dem fehlenden Bein hören. Etwas davon kennt er ja schon, das mit dem Stahlsplitter, der ins Knie dringt, ohne dass es gleich schrecklich wehtut, und nun will er die ganze Geschichte hören, schwebend zwischen Himmel und Erde. Und der Vater erzählt, wie sein Panzer, der Panzer des Kompanieführers, in Russland von einer Granate getroffen wurde und ihm, der den Angriff geleitet hat, der daumengroße Splitter in die Kniescheibe drang, und das an seinem Geburtstag, dem siebenundzwanzigsten. Zuerst war da für ihn, so erzählt er es noch einmal, gar kein richtiger Schmerz, nur etwas Heißes im Knie, er konnte sich sogar bewegen, sich aus dem brennenden Panzer retten. Und eine verirrte Kugel erwischt mich dann am Hintern, sagt er, eine, die zum Glück schon austrudelte – das war sein Wort dafür –, und zum Glück schneit es auch, Pech für die russischen Scharfschützen, alles Frauen mit ruhiger Hand, und irgendwie kommt dein Vater auf einen anderen Panzer, hält sich dort den Hintern und ist froh, dass er lebt – siebenundzwanzig, und nur ein blöder Splitter im Knie, so geht es ins nächste Feldlazarett, ein paar Zelte in einem Birkenwald. Und da liegst du dann, wartest, dass etwas passiert, während um dich herum Geschrei ist, einer kein Gesicht mehr hat und sie einem anderen das Gedärm wieder reinstopfen, bis endlich irgendwer im blutigen weißen Kittel daherkommt, auf mein Knie sieht und nur den Kopf schüttelt, was heißen soll, das wird wohl nichts mit dem Bein. Wenigstens holen sie mir dann den Splitter heraus, während auf dem Nebentisch einer mit Verbrennungen brüllt – aber jetzt reicht es, Söhnchen, jetzt genießen wir die Fahrt! Und mein Vater steckte sich eine Zigarette an und ließ mich die Flamme auspusten, wir sahen aus dem Fenster der Gondel, auf kleine Kühe tief unter uns und eine Tränke. Seine Hand lag auf meinem Knie, als wollte er es schützen oder seine Beweglichkeit spüren, während die Gondel auf dem steilsten Stück langsamer wurde, mit trägem Ruck über den letzten Pfeiler kam, und da erzählte er doch noch das Ende, wie er das Bein retten wollte, durch wochenlanges Ruhigstellen in Gips und mit Schmerzmitteln, die einen Ochsen umgehauen hätten. Erst als Maden unter dem Gips waren, sich vom Eiter in dem Knieloch ernährten, wurde dem Ganzen ein Ende gemacht, das Bein am Oberschenkel abgesägt.

Mein Vater hatte mich erstmals ins Vertrauen gezogen, in das dichte, so beschützende wie erschreckende Innerste seines Vertrauens, und kein anderes Wort in der Geschichte vom verlorenen Bein hat sich so festgesetzt wie dieses Abgesägt, in Verbindung mit dem Bild eines faltigen weichen Schenkelstumpfes, fester Bestandteil meiner kindlichen Träume, in denen dieses geheime und zugleich unheimliche Stück Vater endlich betastet werden konnte – ein Traum, den es gelegentlich noch gibt, vielleicht auch nur als Traum von den einstigen Träumen. Und immer ist da auch das unauslöschliche Bild, wie mein Vater jeden Morgen eine Art Strumpf über das schlaffe Gebilde rollt, um das Strumpfende durch ein Loch in der Prothesenaushöhlung zu ziehen (erst als fast Erwachsener hatte ich begriffen, dass so ein Vakuum entstand, das den Oberschenkelrest in der Höhlung hielt), ein Bild, das sich oft mischt mit etwas ebenso Eindrücklichem: Mein Vater nimmt mich, noch in Hamburg, mit in die Werkstatt des Prothesenbauers. Dort hängen Arme und Beine von der Decke, als würde die Welt auf dem Kopf stehen, und wir gehen Hand in Hand unter diesem hängenden Gliederwald, mein Vater erzählt von anderen, die ein Bein, einen Arm oder gar beide Arme verloren hätten. Manche auch ihr Gesicht, sagt er, und ich schaue mich nach Holzgesichtern um. Wir sind allein in dem länglichen Werkstattraum, warten auf den Prothesenbauer, mein Vater setzt sich auf einen Stuhl, ich stehe davor, in der Hand einen kleinen Hammer – der wohl irgendwo gelegen hatte –, und klopfe damit auf das Holzknie unter dem Hosenstoff und kann es nicht fassen, dass er nichts spürt; vor lauter Armen und Beinen in der Werkstatt habe ich das väterliche Bein vergessen. Und auch am Tag unserer Seilbahnfahrt, als wir von der Bergstation noch das kurze Steilstück bis zur Spitze des Kitzbüheler Horns gingen, hatte dieser Mangel an Bein etwas Irreales, ja war letztlich aufgehoben, ich ging mit einem vollständigen Vater zum Gipfelkreuz. Erst beim Abstieg wurde es schwierig für ihn, er stützte sich auf meine Schulter, ich war seine Krücke, sein Halt. Und gegen Abend, zurück im Gasthof Vordergrub, ist er auf einmal verschwunden (im Zimmer seiner jungen Frau, wo sonst).

Es war ein gewittriger Abend nach dem heißen Tag – heiß sogar auf der Bergspitze in meiner Erinnerung, überall Leute mit nacktem Oberkörper –, dunkler Himmel und Wind, das Licht hatte sich verflüchtigt wie der Vater, und aus dem Sohn wurde erneut ein Infant im Bett seiner Hüterin. Er hakte ihr das Mieder auf, scherte ihr den Rücken und bekam, als Gegenleistung, eine Geschichte, die sie für ihn erfand – eine der vielen Geschichten, die mich immer wieder vergessen ließen, dass etwas fehlte, die Entität der Eltern als feste Größe. Dafür gaben mir die Geschichten ein Gefühl von Macht, der Macht, mich nach Belieben in ihnen bewegen zu können und Einfluss auf ihren Gang zu haben, ihr Personal, die Ausstattung, den Grad ihrer Spannung. Das Schwinden der Eltern wurde beglichen mit diesen Gutenachtgeschichten, die mehr das Ressentiment vertrieben als die Langeweile; jeder Morgen beginnt mit neuer Hoffnung: dass die Eltern Eltern bleiben, eine Einheit, Mutterundvater. Und als der Vater nach ein paar Tagen wieder abfährt, in eine eigentlich erträglichere, gänzliche Abwesenheit, geht das mütterliche Schwinden auf andere Art weiter: Eine Frau am Beginn ihrer besten Jahre, immer noch an die große Liebe glaubend, die zu einem Mann (auf schon eigenen Wegen), sucht Trost in Geschichten, nur dass sie sich diese Geschichten selbst erzählt. Sie schreibt. Die junge Mutter sitzt jetzt jeden Vormittag an einem der Holztische vor dem Gasthof im Halbschatten vor einer kleinen Schreibmaschine – angeschafft, wie es hieß, damit sich die finanzielle Lage der Familie und der Firma durch ein Buch, das alle lesen wollen, im Grunde also durch ein von ihr bewirktes Wunder, schlagartig zum Besseren wendet. Sie tippt und tippt, während der Kavalierssohn an einem entfernten Tisch immer wieder von seinem Zeichenblock aufschaut; er wartet auf eine Pause, auf die Lücke, in der er sich der Mutter nähern kann, um sie anzufassen, ihr Wegsein, obwohl sie ja dort sitzt, aufzuheben.

Damals entstand ihr erster Fortsetzungsroman für eine Illustrierte, Wiedersehen in Kitzbühel, über großes Liebesglück und auch etwas Leid, obgleich ihr eigenes Leben eher auf viel Leid und ein bescheidenes Glück zulief. Noch war es das mit dem Unternehmertraum ihres Mannes verknüpfte Leid, nicht das intime einer Verlassenen. Sie war Teil dieses Traums und half vor allem durch ihren Bühnencharme der Firma mit ewiger Geldnot und dem Namen AAP auf den Geräten, Allgemeiner Apparatebau Peters und Co. – Peters der Name des so früh gefallenen Vaters: die Wunde ihres Lebens, die ein P im Firmenemblem nicht heilen konnte. Sie schrieb auch unter diesem Namen, schrieb aber, als hätte sie kein Schicksal gehabt, von dem zu erzählen lohnend gewesen wäre, keinen Krieg erlebt, keine Verluste erlitten. Und auch der unaufhaltsame Einbruch der Firma und all die Anstrengungen, sie zu retten, hat sich ihr nicht als Stoff angeboten; das graue Leben war nicht ihr Fall (nur in den Ehejahresberichten, dort taucht es ständig auf). Ihr Fall war der Liebestraum von Frauen an der Seite sogenannter großer Männer, und am Ende löst sich jede Heldin, wie in den Filmen dieser Jahre, glanzvoll in nichts auf.

Ich schreibe jetzt, sagte sie mit Betonung auf der Tätigkeit, wenn der Sohn mit seinen Zeichensachen zu ihr auf die Holzbank rutschte, und einerseits tat sie es wirklich, tippte, manchmal sogar mit Zigarette im Mund, andererseits spielte sie eine Schreibende. Erst später am Tag, wenn sie in ihrem Liegestuhl still vor sich hin träumte, kam sie dem Schreiben – denkt der schreibende Sohn – nah. Da gibt es den Roman, der das eigene Leben sprengt, die Szenen zwischen Mann und Frau, die mehr sind als Liebestheater, die ein Stück Welt dieser Jahre zeigen, den Traum vom Erfolg und das beschämende Scheitern, den nicht ausradierbaren Krieg in jedem; große Männer werden zu kleinen, und die weibliche Heldin fühlt sich am Ende der Geliebten näher als ihrem Mann. Dösend im Liegestuhl, schreibt sie die wahren, die schmerzenden Sätze ins Nichts (Jahrzehnte später einmal angedeutet auf eine Frage hin: Ob ihr nie andere Bücher vorgeschwebt hätten, die unerfreulichen, wie sie bei ihr nur hießen). Ich schreibe jetzt – die drei Worte sitzen, der kleine Kavalier rückt etwas ab auf der Holzbank und sieht der Schreibenden zu, bis sie endlich das Blatt aus der Maschine zieht und die Schlusssätze vorliest, gerührt von den eigenen Worten. Die Vormittagsarbeit ist damit getan, es folgt ein Mittagessen im Freien, dann die Stunde im Bett, das träge schläfrige Dämmern, und am Nachmittag wird dem Sohn etwas wie den geschriebenen Seiten Entnommenes beigebracht.

 

Auch er soll einer jener großen Männer werden, an deren Seite Frauen Erfüllung finden, im Glück wie im Unglück, ein Mann von Welt mit Umgangsformen, folglich lernt der Neunjährige in diesem Sommer endgültig den Handkuss mit seinen Tücken, ihn eben nur anzudeuten, das aber durchaus mit Ernst. Und er übt auch noch einmal die Anrede, die sich für den kleinen Herrn gehört, nicht weniger tückisch, weil sie erst durch das Verschlucken einer Endsilbe das Gewollte verliert und ihr Leichtes erhält. Guten Abend, gnä’ Frau, sagt der Sohn am hellen Nachmittag und erfährt, warum ein Herr überhaupt einer Dame die Hand küsst, eben weil sie eine Dame sei und keine gewöhnliche Frau, deren Hand man allenfalls schüttle. Und zuletzt noch einmal die Handkusspraxis, das Sichherunterneigen, wenn die Dame etwa sitzt, das Annehmen der leicht hingehaltenen Hand, die nur angedeutete Berührung mit den Lippen – der Taumel an der Grenze zum Eros. Die junge Mutter im Liegestuhl ist hingerissen von ihrem kleinen Galan, hebt ihn mit Küssen und Worten schon in den Himmel der großen Männer und vergöttert in ihm die eigenen Träume.

Der Handkuss blieb für mich ein Stück Komödie, mit einer Ausnahme, sechsundfünfzig Jahre nach der Unterweisung am mütterlichen Liegestuhl in der Sommerfrische. Beim mehr als nur geahnten, endgültigen Abschied von meiner Mutter, sie so still um Nähe bittend, nur mit den Augen, dass dem alten Sohn bange wurde, als er an diesem glutheißen Pfingstsonntag am Aufbrechen war, mit der Reisetasche zwischen den Füßen an ihrem Bett stand, hat er aus diesem Bangen heraus ihre kaum mehr warm werdende, nur noch von einer fleckig-transparenten Haut bedeckte Hand geküsst, bereits in der Scham dessen, der noch am Leben sein wird, wenn der andere ausgelöscht ist. Und im Monat darauf starb sie, meine Schwester war bei ihr, Tage vorher schon und auch noch danach, ein Geleit über den Tod hinaus, höher als alle Vernunft. Ohne ihre Tochter, ohne die tägliche fernmündliche Nähe, das ständige Zureden und Zerstreuen von Ängsten am Telefon, die Stunde jenseits aller Vernunft, hätte sie in ihren letzten Jahren wohl den Verstand verloren – wie jeder, der am Ende nur noch sich selbst hat, und damit zu viel vom selben.

Das Telefon war für meine Mutter die Öffnung zur Welt, lange ein Sprachrohr, zuletzt nur noch Hörrohr, aber das Erstere hat sich mehr eingeprägt. Und so vermisse ich manchmal ihre helle, überdrehte Stimme, ihre Freude am Telefon über meine Freude, wenn mir etwas gelungen ist, und ihre Art, wie sie sich bei Anfeindungen mitempört und mir Trost zugesprochen hat. Sie war eine begabte Trösterin und selbst zuletzt untröstlich. Zwei Jahre vor ihrem Tod hatte sie aufgehört zu lesen, sie konnte den Büchern nichts Hilfreiches mehr entnehmen. Und dabei war sie zeitlebens eine Leserin, mehr in Romanen zu Hause als in ihrer Wohnumgebung, in sogenannten Guten Büchern mit den ewigen Themen Glaube, Liebe, Hoffnung und Tod. Sie schätzte das literarische Ringen bedeutender Männer um Erkenntnis und Vollendung, von Marc Aurel über Augustinus bis Montaigne und Goethe, von Flaubert über Proust und Joseph Conrad bis zu Thomas Mann. Alles Neuere, Zeitgenössische blieb ihr dagegen fremd, war nur Abbild einer unappetitlichen Gegenwart. Sie wollte von der Welt, die sie umgab, im Grunde nichts wissen, sie lebte nicht in ihr, sie lebte neben ihr, und das nicht aus Ignoranz, sondern aus Angst. Sie fühlte sich dieser Welt gegenüber zu wehrlos. Wie manche wehrlos sind durch ihren Ernst, der keine Witze verträgt, war sie wehrlos durch Dünnhäutigkeit. Alles von außen Kommende, ob ein unbekannter Mensch oder auch nur die schlechte Neuigkeit in den Nachrichten, konnte durch ihre Schwachstellen ungehindert in sie eindringen. Und der Sohn hat versucht, diese Stellen, die immer mehr zu einer einzigen, mit ihrem ganzen Wesen einhergehenden Schwachstelle oder umfassenden Schwäche wurden, absurderweise dingfest zu machen, mit Mitteln, die einem Nagel glichen, den man probeweise in bestimmte Bereiche der Wand schlägt, um ihre Festigkeit zu prüfen. Ich versuchte es mit Scherzen und Ironie, einer stichelnden Sprache, ohne zu merken, dass meine Mutter, selbst im Bett noch mit einer wärmenden Jacke, auch dem leisesten Scherz oder Wortwitz bis ins Mark ausgeliefert war. Sie hatte keine schützende Haut mehr, da gab es nur noch eine überempfindliche Hülle, um darauf wattehafte Liebkosungen zu empfangen, ein Berühren als schlichte Bejahung – Ja, ich bin bei dir, ja, du bist die, bei der ich sein will, bei der ich bin, um sie zu streicheln, weil ich sie liebe –, vom Sohn erst spät erkannt, zu spät. Das Bild einer Divahaften mit Muttergebärden war fast bis zuletzt stärker als das der Hinfälligen, auf gespenstische Weise noch unterstützt vom fehlenden Bild der stillenden Mutter.

In ihrem Bericht zum vierzehnten Ehejahr, zu neunzehnhundertachtundfünfzig, -neunundfünfzig, heißt es am Schluss: Im Februar verließ uns Annegret nach so langer Zeit, und nun war ich eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben Hausfrau und Mutter, für die Kinder da! (Der Sohn neun zu dem Zeitpunkt, die Tochter fünf, und die Geborgenheit in dem Haus mit Garten, das ein Elternhaus war, wenige Jahre nur, aber für die Kinder das Korsett um ein zerbrechliches Inneres, ging schon dem Ende entgegen, ohne dass die Chronistin es vermerkt hätte, nur gespürt hat sie es wohl, dass der Kirchzartener Boden unter ihren Füßen kein fester mehr war.) Wir führen jetzt ein friedliches Familiendasein, ich brutzle sogar abends in der Küche, dann gibt es Schnitzel, auch wenn mir manchmal etwas verbrennt, und ich bete darum, dass uns dieses so friedliche Glück hier noch ein bisschen erhalten bleibt.

9

Das friedliche Glück von Kirchzarten, dem Dorf im oberen Dreisamtal – dort, wo wir wohnten, in der Höfener Straße mit freier Sicht auf die tannenbewaldeten Berge, sommers in bläulichem Dunst, leuchtend gelbrot in jedem Herbst und Winter für Winter in atemberaubendem Weiß –, blieb noch ein bisschen erhalten in dem Haus mit der Nummer vierundzwanzig, wie für Heiligabend geschaffen, auch wenn der, von dem alles Glück abhing, mein Vater, innerlich schon nach etwas anderem gestrebt hat, einem Neuanfang, beruflich und überhaupt. Die Kinder merkten davon nichts, sie gingen ganz in ihrem Reich von Haus und Garten auf, in einer Gegenwart, die ihnen unendlich erschien, während die Eltern im Grunde noch immer Davongekommene waren, zwei Gestrige wider Willen, jeder auf seine Art nicht erholt vom Krieg und der Anstrengung, ihn in sich und um sich herum ungeschehen zu machen.

Friedliches Glück – da gab es Streifzüge durch schon wogende Felder, die kitzelnden Halme und Ähren, oder das Gehen über quellende Wiesen mit Wasserläufen, darin Molche, die sich fangen ließen; und da gab es den nahen Wald, voller Laute, voller Atem, wenn man morgens im Frühsommer zur Höfener Hütte aufbrach. Es gab die Wege mit den Kreuzen am Rand, gut zum Fahrradfahren, und die Brücken über rauschende Bäche, darin Forellen unter Steinen, auch die konnte man schnappen, und es gab das alte Dorf, in mancher Straße schon der schwarze Teerwagen mit seinem Duft. Es gab Mistkarren, gezogen von Ochsen, und hellen Peitschenknall, und es gab die Gasthöfe, den Hirschen, die Krone, die Sonne, den Löwen, die Fortuna, manche mit Musikbox, Freddy sang das Lied Heimweh (nach Memories Are Made of This), Dort, wo die Blumen blühn, dort, wo die Täler grün, dort war ich einmal zu Hause. Wo ich die Liebste fand, da liegt mein Heimatland – das konnte man hören auf dem Weg durchs Dorf. Aber es gab auch die Läden mit den Namen ihrer Besitzer wie Elektro-Kümmerle, Optik-Eckmann, Fahrrad-Rombach, Eisen-Kromer, Süßwaren-Dengler, Salon Zimmermann oder Auto-Wunderle; und nicht zu vergessen die Dreisam-Lichtspiele mit dem Schaukasten am Gasthof Löwen, jeweils montags neue Bilder, die Filme bis zur Wochenmitte nur für Erwachsene, frei ab achtzehn. Im Löwen selbst gab es das Jägerschnitzel und neben der Garderobe ein Schild: Zu den Aborten. Und zum Schnitzel gab es Bier, frei ab sechs, wenn unsere Hüterin dabei war, und später den Rotamint-Automaten, an dem wir spielen durften. Alles in allem ein still in den Adern zirkulierendes, erst Jahre danach bemerktes Glück, das für uns Kinder schon ein Rückhalt war (für die Geschwister mit den seltsamen Namen – niemand im Dorf hieß ja wie wir, was mit dazu beitrug, dass wir Geschwister wurden).

Das unbemerkte, stille Glück; für mich ist es die unendlich erscheinende Gegenwart in dem Reich von Garten und Schuppen, die Freiheit, dort zu tun, was ich will, und die Herrschaft über jeden, der sich an meinen Spielen beteiligt. Ich klettere auf die hohe Birke, dorthin, wo niemand mir folgen kann, und bin stolz auf das Alleinsein im Wipfel. Ich fessele meine kleine Schwester an einen Pfahl und sage ihr, wie sie sich befreien kann, und fühle mich als großer Bruder, wenn es ihr schließlich gelingt, alle Fesseln zu lösen. Ich locke Kinder aus der Nachbarschaft in meine Schuppengeisterbahn, sie müssen sogar zehn Pfennig Eintritt zahlen für ihr Hindurchkriechen, und wenn sie danach vor Grausen benommen sind, kann ich sie an Ort und Stelle, verkleidet als gespenstischer Arzt, mit einem Stöckchen nach Belieben untersuchen – Dokterles heißt dieses Spiel im Dorf. Und auch das Dorf ist noch Teil meiner Welt, der gefährliche, dem ich es zeigen will. Ich presche durch die unteren, alten Dorfstraßen, ein Messer in der Tasche, ich bin glorreich. Bis plötzlich ältere Jungs auftauchen, vor dem Gasthof Sonne, wo aus der offenen Tür laute Musik kommt, Ciao Ciao Bambina, von dem gläsernen Kasten mit dem Fächer der schwarzen Schallplatten, und ich mich davonmache, gar nicht mehr glorreich. Und wieder zurück im geschützten Garten verstümmle ich mit dem Messer Blumen und ritze Baumrinden auf, dass ein Saft am Stamm herunterrinnt; ich zertrete Käfer und Nacktschnecken, um mich in meiner Verdrossenheit zu erschöpfen. So vergeht der lange Nachmittag, bis am Abend, wenn es schon dunkel ist, das Motorgeräusch des VWs, sein feines Klirren, ehe der Motor erstirbt, meinen Vater ankündigt. Er kommt ins Haus und streicht mir und der Schwester, ihr länger als mir, über den Kopf. Dann essen wir, was auf dem Tisch steht, und später, wenn ich schon im Bett liege, höre ich das mütterliche Tippen, ich schlafe ein damit. An nächsten Morgen wieder die Schule, die anderen aus meiner Klasse, und bei jeder Annäherung, etwa beim Kicken auf dem Pausenhof, das Gefühl, als liege zwischen mir und den anderen eine kleine, aber unüberschreitbare und eben darum unendliche Kluft, ohne dass mein stilles Glück damit ernsthaft gestört wäre; nur ist es eben allein das meine in der maßlosen Gegenwart dieser Zeit.

Das Jahr neunzehnhundertachtundfünfzig, es schien gar nicht zu enden, nicht für mich, auch wenn darin, unübersehbar, etwas zu Ende ging. Die Firma AAP war in letzter Sekunde mit erträglichen Schulden in andere Hände übergegangen, und ihr Gründer war jetzt ihr Angestellter. Mein Vater leitete die Geschäfte der übernommenen Firma aus einem Büro in Freiburg, immer noch in der Lage, die große Blechpresse in der kleinen Fabrikhalle und auch die Spritzlackiererei für ein besonderes Weihnachtsgeschenk an seine Frau einzuspannen, die plötzliche Mutter und Hausfrau mit zwei Kindern und einer Schreibmaschine und der lauten Sehnsucht nach Glück. Wenn er ihr schon kein Vaterersatz war und auch nicht der Mann, der die Liebe dauerhaft durch eine Sprache der Liebe bejahte, sollte sie wenigstens den Gegenstand bekommen, der es ihr erlaubte, sich selbst zu bejahen. Und so stand an Heiligabend im Bescherungszimmer ein singulärer, alles gestalterische Vermögen des Hausherrn wiedergebender Toilettentisch aus Stahlblech, flamingofarben, mit gerundeten Seitenflügeln, kleinen und großen Laden und einer raffinierten Beleuchtung, vor allem aber schwenkbaren Seitenspiegeln, die es ermöglichten, sich bis ins Unendliche darin zu erkennen. Und die hellen Rufe der Entzückung, als die Beschenkte ihr Geschenk sah und im Schein der brennenden Kerzen am Baum zum ersten Mal davor Platz nahm, sind mir noch so im Gedächtnis wie die eigenen ersten Blicke in einen der Spiegel, in dem immer wieder mein Gesicht im Profil auftauchte, kleiner und kleiner werdend, aber nicht endend, so, als führte es einmal um den Erdball, um aus dem anderen Seitenspiegel wieder herauszukommen – wie ein Modell zur Erprobung von Weltruhm.

 

Der Toilettentisch der unendlichen Perspektive, er kam ins Elternschlafzimmer und war ein Sinnbild für die Perspektive des Familienglücks, ebenso meine von Jahr zu Jahr wachsende, wie für die Ewigkeit geschaffene Märklin-Eisenbahn mit einer von Vaterhand gestalteten Landschaft auf großer Holzplatte, darunter versteckt sämtliche Kabel, verlegt vom Elektriker der Firma, mein Vater dagegen der Meister des Sichtbaren – unvergessen, wie wir aus Leim und altem Zeitungspapier einen Berg mit Tunnel geformt haben, er ihn bemalt hat und an Heiligabend die grüne Güterlok, bekannt als das Krokodil, vorn mit drei Lämpchen, erstmals hindurchfährt, mitbestaunt von der kleinen Schwester, die ihr Kleines fast schon abgelegt hat. Noch ist sie treue Assistentin der Spiele des Bruders im Schuppen, aber auch schon die flach auf dem Schlitten Liegende mit dem Mut zur Schussfahrt – Bahn frei, Kartoffelbrei! –, und kein halbes Jahr später springt sie kopfüber vom Dreimeterbrett. Nun staunt der Bruder, ja gibt mit ihr an, und der Vater spendiert ein Eis – fehlt bloß noch der große blaue Nivea-Ball, um das Glück abzurunden, aber der Ball, den nur wenige haben, ist zu teuer für ein Alltagsgeschenk, also träumt man davon, wie auch von einem Tacho am Rad, einer Luftpistole oder gar dem Luftgewehr. Und trotz dieser Träume, eher aber, weil sie sich mit den Jahreszeiten verbinden, erleben die Geschwister zusammen den Sommer der Sommer, jeden Tag im Freibad, und den Winter der Winter, jeden Tag im Schnee, und am Ende des Winters, während der Fasnet, den Schrecken der Schrecken, wenn Hexen und Teufel durch die Straßen ziehen, die Kirchzartener Höllenzunft; dazu kommt der Herbst der Herbste mit seinen lodernden Farben und schließlich die Weihnachtszeit der Weihnachtszeiten – nie wieder hat sich ein Erleben so mit seinem Plural verknüpft wie in diesen wenigen Elternhausjahren (und der, der sich zurückerinnert, kann nur mit mangelnder Logik davon erzählen, weil die Ereignisse in ihm keine Reihenfolge ergeben, sondern ein Mosaik sind).

In der Volksschule regiert der Knüppel, von den meisten Eltern nicht nur gebilligt, sondern erwünscht. Für Buben gelten die Bauernregeln der Züchtigung, für Mädchen die aus dem Klosterleben, sie trifft es mit dem Tatzenstock auf die Finger; Schmerzgeheul ist so alltäglich in der Schule wie das Vaterunser. Die Dörfler sind bäurisch-katholisch gottesfürchtig, aber ihr Lieblingsfluch heißt Gottverdammi! Sie leben gleichermaßen mit ihren Heiligen wie mit ihren Dämonen; am Abend vor Aschermittwoch wird eine lebensgroße Hexenpuppe auf einem Scheiterhaufen im Beisein einer gebannten Menge dem Feuer übergeben, um den Winter auszutreiben. Mit der Hexenverbrennung endet die Fasnet, und am Schmutzigen Donnerstag fängt sie an, abends im Dorf mit einem Spießrutenlaufen unter den trommelnden Hieben so praller wie stinkender Schweinsblasen, den Saublodere, mit Schnüren an Stöcke gebunden, um damit nach den Kindern zu schlagen. Es tut nicht besonders weh, aber versetzt in Angst und Schrecken, dazu noch bei einem rauen Gesang aus der Dunkelheit, Borschtig, borschtig, borschtig isch die Sau, und wenn die Sau nit borschtig wär, no gäb sie keine Würschte här! Wir singen es am Ende mit und tauchen ein in die entfesselten Tage, für uns mit dem Höhepunkt der Kinderfasnet im Dorfkino hinter dem Gasthof Löwen. Dort gibt es für die jüngere Jugend den Nachmittagskostümball, und im Vorgarten des Kinosaalbaus hat die längst gemeinsame Hüterin der Geschwister – spätestens nach Weggang des Kindermädchens war ihr Schirm aus Geschichten und Extramahlzeiten auch über meine Schwester ausgebreitet, genannt nur Der Fratz – von den zwei für den Ball Kostümierten zum Glück noch schnell ein Foto gemacht.

Der Winter, sieht man dort, ist schon ausgetrieben, auch vor der Hexenverbrennung ist der Schnee geschmolzen, aber das Gras ist noch platt, und eine tiefe Februarsonne wirft lange Schatten. Die Geschwister stehen nebeneinander, ein Neunjähriger und eine Fünfjährige, er als kleiner Zorro, sie als Kaminfeger. Ich halte einen Revolver und trage eine Larve, Zeichen dafür, dass ich, wie Zorro, mit dem Gesindel aufräume. Sie trägt einen Zylinder und hält meine Hand, die andere Hand greift um ein Gummischweinchen, ihr Zeichen, dass sie eine Glücksbringerin ist. Nur sieht sie selbst recht unglücklich aus, in übergroßen Stiefeln und von Sonne geblendet, während der große Bruder, durch die Augenmaske vor dem Licht mehr geschützt, sein Mündchen wie zu einem Kuss schürzt, als würden ihn im Saal alle Mädchen erwarten. Er trägt einen grimmig-schwarzen Hut, künstliche Locken fallen ihm in die Kinderstirn, und der Patronengurt sitzt über dem Nabel. Alles an ihm ist lächerlich, vom Sommerkavalier, der schon den Handkuss beherrscht, ist nichts mehr zu sehen – oder zeigt sich in genau dieser selbstgewählten Maskerade. Und dennoch sieht er sich, vermutlich, für den Ball gerüstet, dank einer von den närrischen Tagen noch angeheizten Überschätzung; die kleine Schwester mit Ponyfrisur unter dem Zylinder scheint dagegen wenig Hoffnung in die Veranstaltung zu setzen. Ihr bleibt nur das Gummischwein für das Foto und später im Saal nur der Bruder für die Hopserei auf der Tanzfläche. Umgekehrt ist es aber nicht besser, dem Bruder bleibt nur die gestiefelte Schwester, und das Lied der Lieder heißt Marina, Marina, gesungen von Vico Torriani auf Deutsch, Bei Tag und Nacht denk ich an dich, Marina, du kleine zauberhafte Ballerina (jeden Sommer hört man es noch in unserem Ort am Gardasee, wenn abends der Alleinunterhalter, vor sich sein Notebook, Marina, Marina, Marina, Ti voglio al più presto sposar singt). Der Zorrobruder tanzt zu dem Schlager mit der an das Schweinchen Geklammerten, sein Blick geht dabei in den Saal, er sucht die Liebste, aber Doris, die Arzttochter mit Katzenaugen, weichen Wangen und Pferdeschwanz hält nichts vom Kinderrummel – und bei einem Wiedersehen nach einer Lesung in Regensburg, wo sie Deutschlehrerin war, erzählte sie von drei Worten, einst von mir wie ein Fanal an eine Wand gepinselt, ein um Jahrzehnte verfrühtes Graffito an einer noch dazu frisch geweißten Wand ihres Elternhauses: mein Name und ihr Name und dazwischen das Wort lieben, dritte Person Singular.

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