Dämmer und Aufruhr

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Das Kino war schon früh ein heimlicher wie auch unheimlicher Ort, den Erwachsenen oder älteren Kindern vorbehalten, aber für mich schienen besondere Rechte zu gelten. Ich musste nicht bis zum sechsten Lebensjahr warten, um an der Hand meiner Hüterin einen solchen Ort betreten zu können, in einer Gegend von Hamburg mit noch vielen Ruinen und halben Gebäuden. Und an einem dieser versehrten, wie von Bergen aus Schutt gestützten Häusern stand quer über die obere, frei stehende Fassade das Wort Kino, dem Vierjährigen vorgesprochen und als Schriftbild ein für alle Mal mitgegeben, verbunden mit einem dramatischen Plakat für den Film Tom Sawyer unter den vier roten Buchstaben von Kino. Die Hüterin ihres Enkels löste zwei Karten und schleuste ihn in einen menschenvollen und schon dunkel werdenden, wie einem Traum, der zugleich gut und böse ist, entnommenen gewölbten Saal – ein Sonntagnachmittag zwischen Winter und Frühjahr, regnerisch wohl und kühl; das wahnsinnig liebzuhabende Schwesterchen ist bereits Monate auf der Welt, aber abwesend, desgleichen die Eltern. Aus den Augen, aus dem Sinn sind Mutter und Vater, umso mehr hat der Jüngste in dem Kino Augen für das Mysterium der bewegten Bilder. Und er verliebt sich sogleich in das Mädchen Becky, in das auch Tom Sawyer in aller Unschuld verliebt ist, und gerät in Aufruhr, als Becky, verirrt in einer immer verzweigteren Höhle, von Indianer-Joe, sein Messer zwischen den Zähnen, verfolgt wird, ohne dass Tom, wie es scheint, sie noch retten könnte. So mitgenommen und bestürzt ist das Zuschauerkind, das ohne andere Kinder vor sich hin wächst – noch zählte meine Schwester nicht –, dass es seine Hüterin drängt, die Höhle der übermächtigen Bilder unverzüglich zu verlassen, und so endet dieser erste Kinobesuch mit einem Rückzug, der zugleich ein Vorpreschen ist: als gelungene Flucht in das Reale der Hamburger Nachkriegswelt.

In dem Fall war es eine dämmrige Gaststätte unweit des Kinos, davor eine Bierkutsche mit vier Pferden, damals kein seltenes Bild, und die besorgte Großmutter flößte dem noch zitternden, noch nicht dem Geschehen auf der Leinwand entronnenen Enkel kräftige Schlucke von ihrem Bier ein, damit er sich beruhige – da gibt es noch Bilder des schäumenden Biers, bewegt wie die im Kino, von Schaum, der mir über Kinn und Hals lief, und dass wir mit der Hochbahn nach Hause fuhren, zur Greflingerstraße, wo in der Abwesenheit der Eltern und dem mir unklaren Verbleib des Schwesterchens mein Zuhause war, und dass ich dort gleich ins Bett ging, angeblich mit Fieber; eigene Erinnerung und spätere Erzählung mischen sich hier, zugespitzt sogar in einem Wort: Nachthemd oder Hemdteremtemmtemm. Als der kleine Patient am nächsten Mittag aus dem Bett sollte, durfte er sein Hemdteremtemmtemm anbehalten und genoss weiter den Krankenstatus, jetzt auf dem Sofa, weil das gemeinsame Bett bis zur Unkenntlichkeit verdeckt wurde, so, als gäbe es noch ein Schlafzimmer, und der Raum, in dem sich Großmutter und Enkel aufhielten, wäre das Wohnzimmer mit Sofa, Tisch und Flügel. Grund des Ganzen war ein monatlich stattfindender Besuch von zwei, drei Damen am Sonntagnachmittag zu Kaffee und Kuchen und anschließendem selbstgemachten Eierlikör, Bekannte aus besseren Tagen, durch den Krieg nach Hamburg verschlagen wie die Gastgeberin aus Wien. Und zur Stunde des Likörs kommt es zu einer Szene, die auch viele Jahre danach noch im kleinen Familienkreis erzählt werden sollte, als früher Höhepunkt in der Saga von Großmutter und Enkel – eine Szene, die ganz aus der Erzählung besteht, ihrer Legende in mehreren Kapiteln. Da ist die Flucht aus dem Kino, das hilfreiche Bier und das schon am Abend ausbrechende Fieber; da ist der lange Schlaf des Erschütterten, mitgenommen auch am nächsten Tag noch, halb bettlägerig im Hemdchen; und da ist das Tarnen des Betts und der Besuch der Damen am späteren Nachmittag, und erst jetzt läuft die Geschichte auf ihren Höhepunkt zu: Die Damen sitzen mit der Gastgeberin beim Likör, und im Hintergrund erklimmt das Kind den Flügel, splitternackt, ein Wort, das in keiner Wiedergabe des Geschehenen gefehlt hat. Es sind nur diese wenigen Schlüsselwörter, aus denen sich die Geschichte wieder zusammensetzen lässt, die sie erzählbar machen, sogar auf Ort und Zeit und die näheren Umstände verweisen.

Hamburg, sieben Jahre nach Kriegsende, ein später Sonntagnachmittag, die Stunde vor dem Abend, eine Einzimmerwohnung im Parterre mit Fenster zur Straße, gegenüber eine Hochbahnstation. Der Raum wird nach hinten hin immer lichtloser, im Halbdunkel ein schwarzer Konzertflügel, Bösendorfer; auf dem Hocker davor ein Vierjähriger im Nachthemd, er weiß nicht so recht, wie es weitergeht, soll er etwas klimpern, soll er etwas turnen, soll er sonst wie zur Unterhaltung beitragen. Sein Publikum sitzt im helleren Bereich des Zimmers um einen Tisch, drei reifere Damen mit Dauerwellen, Offizierswitwen alle. Die Gastgeberin macht dem Kind, ihrem Enkel, ein Zeichen, Bitte schön, etwas Theater! Und der Enkel steigt zuerst auf die empfindlichen Tasten, ein Klimpertusch, der ihm gleich alle Aufmerksamkeit sichert, die Damen am Tisch applaudieren; von den Tasten klettert er, käferhaft, auf den Flügel selbst, wobei sich das Nachthemd am Notenhalter verfängt, ein Malheur, wie es später in der Erzählung heißt. Schon wird das Hemd von der Zierleiste an dem Halter gleichsam hochgezogen, gelüftet bis über den Nabel, und der Applaus hört nicht auf, und schon ist auch das ganze Hemd abgestreift, da hat das Kind wohl etwas nachgeholfen; es tut alles, um die Damenwelt am Tisch zu unterhalten, von keiner Scham gebremst, als spielte es nur Theater. Die Erinnerung an diesen Akt ist so genau wie verwischt, die Bilder sind zu Sätzen geworden, die Sätze wieder zu Bildern – das Kind, das ich war, steht nackt auf dem Flügel, in einer schon mehr schuldigen als unschuldigen, den Beifall immer noch weiter reizenden Hand sein kleines Geschlecht. Und dann zeigt es gar, was es damit kann, es erleichtert sich in einem Bogen von dem Flügel auf den Teppich. Es wiescherlt, wie es in der Erzählung, jeweils unter erstickendem Lachen hieß, dem Lachen von damals, als wäre es nie genug gewesen damit, einem Operettenlachen über die entgeisterten Besucherinnen, die ihre Gläschen mit dem Eierlikör abgesetzt haben und, eine Hand vor dem Mund, keine Worte finden für das Schauspiel auf der Zimmerbühne. Da gibt es nur Laute, nur Splitter von Worten für den Splitternackten; während die kleine Bescherung weggewischt wird, wird ihr Verursacher mit Entgeisterung überschüttet und darf, nachdem er wieder von dem Flügel geklettert ist, die Reste aus den Gläsern trinken, ja bekommt sogar nachgeschenkt, bis er auf das getarnte Bett im dunkelsten Teil des Zimmers fällt – vermutlich mein frühester Vollrausch.

In manchen Kindheitsstunden wurde mir schwarz vor Selbstüberhäufung, alle übrigen, höchstens von Ferne betrachteten in meinem Alter waren wie tot. Das Schwinden des anderen, für ein Kind sonst die schmerzliche Vereinsamung, war für mich völlig schmerzlos geschehen, in Watte gepackt auch durch Geschenke, die in meinem Exilreich in der Greflingerstraße immer schon bereitlagen, mal ein Aufziehauto, mal ein Brummkreisel oder ein kleiner Baukasten. Die Geschenke wurden den Engel-Brüdern wie Trophäen gezeigt, ja, ich ließ sie spielen damit, um wenigstens Neid zu erwecken, den Neid derer, die statt Spielzeug nur Bügelfalten bekamen. Und stets war eins der Geschenke auf den Spaziergängen an der Hand meiner Hüterin dabei, sicher verwahrt in ihrer großen, immer mit sich geführten Tasche, dadurch dehnte sich das Exilreich aus, bis an die Alster oder in den Innocentiapark, für mich Der Zenzi, leicht hügelig und auf halber Strecke zwischen der Elternwohnung und dem Zimmer, in dem alles erlaubt war. Und als sich das Kind vom Kinofieber erholt hatte – während das Fieber von seinem Auftritt vor den Damen eher erhalten blieb –, entstand in dem Park ein Foto von Großmutter und Enkel.

Das alte Schwarzweißbild zeigt eine Frau mit Hut und Tasche, Mitte bis Ende fünfzig, in einem dunklen pelzbesetzten Mantel, vor der Brust einen geknoteten grauen Schal. Sie ist nicht groß, aber von Statur, und hat etwas von einer abgedankten Zarin; an ihrer Hand geht oder steht ein kleiner Junge in rockartigem Mäntelchen. Die beiden sind in einem Park, und offensichtlich naht das Frühjahr, man ahnt schon Knospen an den Büschen – die kleine Schwester war also längst auf der Welt, nur war sie nirgends zu sehen, es gab keinen Kinderwagen, den der Bruder gehalten oder im Auge gehabt hätte, während die Mutter vielleicht das Foto machte; aber sie konnte es auch gar nicht gemacht haben, denn die Eltern der Geschwister waren zu der Zeit nicht in Hamburg (das Foto ist datiert), sie waren auf einer Schiffsreise. Großmutter und Enkel sind also nicht nur auf dem Foto für sich, niemand stört ihre Innigkeit, die eines ganz umeinanderkreisenden Paares. Irgendwer musste aber an dem Tag mit in dem Park gewesen sein, dort auf den Auslöser gedrückt haben; und wenn ich das feine Lächeln der einstigen Primadonna und ihren Blick in die Kamera bei Lichte betrachte (dem ligurischen Licht auf dem Balkon des kleinen Hotels), einen beherrschenden Blick, in dem ebenfalls etwas fein Lächelndes liegt, ein Bitte, du darfst mir gern Komplimente machen, nur versprich dir davon nichts, kommt als Fotograf allein der phantomhafte Herr Branzger in Frage, der Mann, für den sie in ihrem Zimmer durch die Wand hindurch gesungen hatte und der für sie kein Phantom war, im Gegenteil, nämlich jener Wiener Zahnarzt, dem es dann gelungen wäre, die SA-Haut abzustreifen, und der sich einbilden konnte, dass ihm der Junge, den er an der Hand der Lächelnden mitknipste und auch sonst in Kauf nehmen musste, wenn er ihre Gunst behalten wollte, seine Existenz verdankt.

Die schon etwas ältere Dame, die meine Unterhaltung mit dem opernbegeisterten, ebenfalls schon älteren Herrn an der Rezeption des Hotels unterbrochen hatte, ist Amerikanerin, eine Mrs. Bennett. Sie ist auf der Frühstücksterrasse auf mich zugetreten, hat sich bekannt gemacht und mit einem Lachen gesagt, dass ich ihr Zimmer bewohne, üblicherweise Anfang des Jahres für zwei Wochen im Spätsommer gebucht, aber in dem Jahr sei ihr, Gott weiß warum, einer zuvorgekommen, ihr sei nur ein Zimmer ohne Meerblick geblieben. Und ich hätte mit dem Zimmer großes Glück gehabt, weil sie im Vorjahr nicht hier gewesen sei, man daher angenommen habe, ihre Aufenthalte im Beau Sejour seien generell beendet. Sie sagte das alles halb im Vorbeigehen, ich kam eben vom Frühstück, während sie die weinlaubbedeckte Terrasse betrat, schon morgens in Garderobe; wirklich aufgefallen aber ist mir nur ihr Kopfschmuck, er hat die Begegnung beeinflusst. Um ihr wohl noch unfrisiertes Haar war nämlich eine Art Turban geschlungen, wie es auch meine Mutter mit einer ganzen Reihe dazu tauglicher Tücher gehandhabt hatte, in ihren letzten zwei Jahren, als sie fast nur noch im Bett lag, bis auch diese Turbane wegfielen, sie sich aufgab oder preisgab, und ihr watteweißes dünnes Haar zum Vorschein kam – daran musste ich denken, als die Amerikanerin sagte, was sie nicht zurückhalten konnte, und das so schnell und mit fester Kinostimme, dass es unmöglich war, eine Antwort zu überlegen. Ich sah nur den Turban und dazu ihren Mund, die Lippen, erstaunlicherweise ohne eine Spur Rot, sozusagen noch die Lippen der Nacht, blass, aber voll, schöne Lippen, wie sie überhaupt ein Gesicht hatte, das auffiel, weil nichts darin störte, nicht einmal, dass nichts darin störte. Es tue mir leid wegen des Zimmers, sagte ich schließlich, aber es sei eine einmalige Sache, im nächsten Jahr gehöre es ihr wieder – enjoy your breakfast! Und mit diesem Waiter-Spruch aus ihrem Land schickte ich sie förmlich zum Buffet und ging auf das okkupierte Zimmer. Irgendetwas aber war dort plötzlich anders, ernüchternd, obwohl alles noch aussah wie vorher, der Schrank, das Bett, die Bilder. Nur fühlte es sich nicht mehr an, als wäre es allein das Zimmer meiner Erzählung, und der Balkon, auf dem sich mein junger Vater gesonnt hatte, Zigaretten und Wein bei der Hand, und wo der alte Sohn gestern saß, USB-Stick und Notizen in Reichweite. Nein, es war jetzt das Zimmer – und ist es noch –, in dem sich alle möglichen Leute schon geliebt haben, vor Zeiten auch das Paar, das mein Elternpaar war, und es ist der Balkon mit Meerblick, auf dem sich schon viele sonnten, auch solche, die das Zimmer allein bewohnten, in den letzten Jahren, jeweils im Spätsommer, offenbar die so italienisch ausgestattete Mrs. Bennett mit starkem Hang zum Romantischen, wie ihn auch meine Mutter hatte, sonst wäre es ihr kaum gelungen, meinen Vater mit der Idee einiger Tage in Alassio anzustecken (damals schon teuer, über ihre Verhältnisse) – und auch kaum, sechseinhalb Jahre zuvor, im Frühjahr dreiundfünfzig, mit der Idee einer Schiffsreise bis nach Casablanca.

 

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Die elterliche Abwesenheit war eine nachgeholte Hochzeitsreise auf einem Frachter, für den kleinen Sohn wie eine Referenz an all seine gezeichneten und im Papierkorb untergegangenen Schiffsquerschnitte; unvergesslich daher der Name des Frachters, MS Pickhuben, und die beiden einzigen Passagiere an Bord, ein immer wieder erwähnter Umstand, fuhren auf einer Route entlang Portugal bis nach Marokko und zurück. Eine Abwesenheit von acht Wochen, in denen zahllose Zeichnungen des Frachters mit der geräumigen Elternkabine entstehen, aber auch ihren Plätzen an Deck mit zwei Liegestühlen bei immer gutem Wetter im März und April. Auf der Rückreise ist es bald Mai, die Sonne brennt schon, und der männliche Passagier kommt als dunkelbrauner Fremder mit rotem Fes auf dem Kopf nach Hause: Das erste unverrückbare Bild von meinem Vater ist das eines dunkelhäutigen, nahezu Fremden in der Wohnungstür, des kaum wiedererkannten Vaters. Aber schau, das ist doch dein Papa, sagt die wienerische Hüterin des Vierjährigen, und das Kind kann es nur glauben, sich an ihr Wort halten, wie es sich auf dem Parkfoto an ihre Hand geklammert hat (seine andere Hand im Übrigen auf dem Rücken, um es den erwachsenen Spaziergängern gleichzutun).

Eltern und Sohn sind wieder vereint, aber wo ist das zu liebende Schwesterchen? Das Rätsel löst sich für den Bruder, der noch keiner ist, erst nach und nach: Die kleine Schwester befindet sich in der Obhut einer braven Familie, wie es bald offiziell heißt, der Familie, aus der das Kindermädchen stammt, das nach der Geburt eingestellt worden ist, die Annegret. Vorerst hat diese Ausweichfamilie aus Moorfleet, einem noch sehr kriegswunden Arbeiterbezirk von Hamburg, ihren Dienst getan, und das Schwesterchen ist jetzt, machtvoll laut im Kinderbett, ständig in der Wohnung mit dem vergitterten Balkon, bisher im Vollbesitz des Nochnichtbruders, wenn Damemammi probt oder Theater spielt und der Vater Himmel und Hölle in Bewegung setzt für seine Apparatebaufirma. Der große Bruder, wie man ihn plötzlich nennt, hat es also gleich mit zwei Fremdkörpern tun, Schwester und Kindermädchen, schuld an der ganzen Veränderung hat aber allein die hinzugekommene Schwester, und so versucht er – obschon er in jedem Kaufladen, in dem die Familie bekannt ist, mit geschwellter Brust erklärt, dass er jetzt eine Schwester habe und damit ein großer Bruder sei –, den Eindringling loszuwerden. Überliefert ist ein Drama, bei dem das Kindermädchen das Schlimmste verhindert haben soll; sie ist beim Einkaufen, nur um die Ecke, aber in der Zeit häuft der Bruder einen Berg Schmutzwäsche auf die Störerin, schnell wird es still im Bettchen, und die Schwester ist schon dem Ersticken nahe, als Hilfe kommt. Die stark kurzsichtige, dafür recht weiblich gebaute Annegret (keine Schönheit, aber eine Type – das großmütterliche Urteil) fühlt sich von da an mehr als verantwortlich für das so knapp gerettete Kind, und die braven Elternleute im verpönten Moorfleet werden für die eigentlichen Eltern zur willkommenen Zweitfamilie. Mal ist die kleine Schwester, wo sie hingehört, viel öfter aber, wo sie nicht hingehört, bis die immer wieder von den einen Eltern zu den anderen Verschobene gar nicht mehr weiß, wo nun ihr richtiges Zuhause ist, und aus diesem Zwiespalt eine Unruhebewegung entwickelt; ganze Stunden gehen Köpfchen und Rumpf vor und zurück, begleitet von den immer selben Lauten. Gogel-Gogel nennen die Erwachsenen dieses Frühzeichen einer Verwahrlosung scherzhaft, und folglich nennt auch der Bruder es so: Sie macht schon wieder Gogel-Gogel, sagt er – und soll auch versucht haben, die Bewegung zu bremsen, ja zu stoppen, vergebens; ein großer Bruder, der nichts für seine kleine Schwester tun kann, außer sie zu bedauern, wofür er erste Blicke von ihr erntet (ich erinnere mich an dieses Gefühl des Bedauerns, auch an die Blicke), und so allmählich anfängt, sie zu vermissen, oder es zu vermissen, dass sie langsam anfängt, ein Auge auf ihn zu werfen. Und damit entwickelt sich der Wunsch, die Schwester in ihrem so ganz anderen, gar nicht paradiesischen Exil zu besuchen.

Einige Male ist der nun Fünfjährige draußen in Moorfleet, wo es auf einem großen ausgebombten Fabrikgelände in den wenigen unzerstörten Gebäuden provisorische Wohnungen im Erd- und Tiefgeschoss gibt. Diese flachen klinkerroten – ein Rot wie verkrustetes Blut – Fabrikbauten mit ihren geborstenen Fenstern und Gestrüpp auf den Plätzen dazwischen und Schutt, der übergeht in noch genutzte Gebäudeteile, wo die Fenster Vorhänge haben, sind für den, der sonst allein in seinem Zimmer sitzt und Schiffe zeichnet, ein fremder Planet. Es gibt sogar ein Kino auf dem Gelände, in einer länglichen Baracke, die Außenwand beklebt mit Filmplakaten, neuen und alten; Western laufen dort und Liebesfilme, und manch ein Gesicht hängt schon in Fetzen. Der Junge mit Baskenmütze und Mäntelchen sieht Männer mit Revolver und schmalen Augen und Frauen mit roten Lippen und Schlitz im Rock, einen Schenkel entblößt. Er streift umher in der Stille eines Sonntagnachmittags, als die meisten Leute in der Kinobaracke sind, ein Stadtkind, das nach warmer Milch und einem Marmeladenbrot bei den fremden Eltern seiner Schwester allein auf dem Gelände ist, kaum noch in Sichtweite von Annegret, der Type, die erst abends mit ihm zurückfährt. Und so trödelt es zwischen den Halbgebäuden und Trümmern, in der Hand, wie auf der väterlichen Zeichnung, ein Stöckchen, damit peitscht es die Fetzen von den Kinoplakaten, den Gesichtern der Frauen und ihren Röcken, es schlägt die Zeit tot. Bis plötzlich helles, flehentliches Schreien aus dem Fenster einer Kellerwohnung dringt, das eines Mädchens wie ein Ruf an ihn, also schleicht er sich pochenden Herzens an und schnappt ein Wort auf, Hoserunter! Das Fenster ist halb offen, dahinter liegt ein Schlafzimmer, ein Bett steht dort, davor ein Tisch, neben dem Tisch sitzt eine Frau mit Lockenwicklern auf einem Schemel. Der Zeuge tritt noch näher, und endlich sieht er das Mädchen, über den bestrumpften Knien der Frau, wohl ihrer Mutter. Sein Kleid ist in den Rücken geklappt, seine Unterhose ist bis zu den Knöcheln heruntergezogen, und die Mutter schlägt es mit einem Kochlöffel, dass ihre Lockenwickler pendeln. Das Aufklatschen der Hiebe mischt sich mit dem Schreien des Mädchens und der Stimme der Mutter, die jeden ihrer Schläge mitzählt. Ton und Bild sind wie eins, ein einziger Ansturm auf den Zeugen; er sieht zappelnde Füße in Strümpfen und zwei weiße Backen, die sich röten, das umgeklappte Kleid, himmelblau, und blondes Haar. Nur vom Gesicht des Mädchens sieht er nichts, sosehr er sich auch vorwagt, dafür hört er ihr jetzt im Weinen ersticktes Flehen und dann ein Sichfügen in die Bestrafung, nur noch mit Wimmern vor dem nächsten Schlag. Und er achtet auf das Zählen der Mutter, die jede Zahl zwischen den Lippen hervorpresst beim Schlagen, danach gleich wieder ausholt, und zählt leise mit, er kann nicht anders, und macht sich dabei in die Hose. Es geschieht einfach, unaufhaltsam, und das Unaufhaltsame tut sogar gut, ein so heißes Verströmen, dass ihm die Schenkel vor dunkler Wonne zittern, und ist erst niederschmetternd, als er in die Wohnung der Kindermädcheneltern zurückkehrt, dort die Blamage zeigt und wortlos ausgezogen wird.

Der noch ergriffene, dabei vor Scham glühende Junge – ergriffen wie auf eine Epiphanie hin: der einer strafenden weiblichen Gottheit und ihrem sich fügenden Opfer – wird gewaschen und danach in fremde, viel zu große Hosen gesteckt. So kommt er abends zu den eigenen Eltern, fürchtend, man könnte ihm anmerken, was er gesehen hat, aber man sieht nur eine äußere Folge, das fremde Kleidungsstück mit Flicken, die Travestie des Sohns als kleines, rührendes Proletenkind. Er bleibt allein mit den Bildern aus Moorfleet, fortan ein innerer Film, wenn er schlafen soll, aber wach liegt, unruhig auch, weil immer öfter vom Umzug in eine andere Welt die Rede ist. Und in dieser nervösen Phase des Abschieds, noch in Hamburg, aber schon zwischen gepackten Koffern, während sich der Vater im fernen Schwarzwald nach besseren Bedingungen für seine Firma umsieht, wird der Junge eins mit dem gesichtslosen Mädchen: als er zum ersten Mal selbst Hiebe bekommt und sich in den Rausch einer außer sich geratenen Mutter fügt.

Der jetzt bald Sechsjährige ist mit seiner jungen Mutter in der Wohnung, er leistet ihr dort still Gesellschaft. Sie geht mit Rollenheft in der Hand auf und ab, murmelt und macht jähe Gesten, er aber möchte auf den Spielplatz hinter den Grindelhochhäusern, um dort im Sandkasten einen Tunnel zu bauen. Darin ist er ein kleiner Meister, das eine und andere Kind hat sogar schon seine kostbaren Murmeln oder Klicker durch die zu einer Seite hin abschüssige Tunnelanlage rollen lassen, der Grabung des fremden Jungen also vertraut, aber Damemammi will nicht, dass ihr Augenstern mit anderen Kindern im Sand wühlt. Wir beiden Hübschen bleiben hübsch zu Hause, danke dem lieben Gott, dass du hier in der warmen Wohnung spielen kannst, sagt sie im Auf-und-ab-Gehen, und da vergisst sich das Unkind (oder ist in dem Moment ganz bei sich): Gott ist ein Arschloch!, schreit es und trifft damit, der Sprache ergeben, ins Schwarze, was augenblicklich einen Tumult auslöst. Auch seine Mutter schreit, das Rollenheft zu Boden werfend, Nimm das zurück!, schreit sie, ja verlangt sogar die Entschuldigung bei ihr, nicht bei Gott. Und als der kleine Gotteslästerer, in sich erstarrt, nur schweigt, reißt sie, wie abgeschaut in Moorfleet, einen Bügel aus dem Schrank, zerrt ihm die Hose herunter und schlägt wild auf ihr Fleisch und Blut ein. Der Gezüchtigte aber hört nur das Klatschen des Kochlöffels auf die Mädchenhinterbacken in der Kellerwohnung und spürt mehr als jeden Schmerz einen Schrecken über die so fremde Mutter, wie in den Minuten, wenn er im Souffleusenkasten saß und sie auf der Bühne eine Szene machte. Dann aber erlahmen die Kräfte der Ungeübten; sie steht nur noch aufgelöst da, den hölzernen Bügel in der Hand, und heißt das Biest von Kind, auf der Stelle ins Bett zu gehen, auf der Stelle zu schlafen! – ein Vorfall mit paradoxem Schlusswort, und fast ein Menschenleben später hat der Sohn einmal den Versuch gewagt, die schon gebrechliche, aber noch wache Mutter daran zu erinnern.

 

Bei einem Abendessen zu zweit, einem der letzten noch am Esstisch ihres finalen Appartements mit Balkon und Aussicht auf Vorläufer der Alpen, ging es um die Sternstunden des Lebens, wenn sie etwa Rollen gelernt habe in der Hamburger Wohnung, während der kleine Sohn still vor sich hin spielte und das Töchterchen schlief. Es war ein Essen, das der alte Sohn samt gutem Wein in einem nahen Feinkostladen besorgt hatte, und nach dem ersten Glas gab es einen Moment ihres Interesses an einem Beitrag auch des Besuchers an der Unterhaltung, und da sprach er von der Spannung zwischen ihrem Wunsch, als Schauspielerin Erfolg zu haben, und dem Wunsch eines Kindes, in einem öffentlichen Sandkasten einen Tunnel zu graben, den andere Kinder erst bestaunen und dann mit benutzen könnten. Aber ich musste zu Hause bleiben, sagte ich und schenkte meiner Mutter – sie hatte sich für das Abendessen noch einmal in Schale geworfen – Wein nach. Du hast erklärt, ich solle dem lieben Gott danken, dass ich in einer warmen Wohnung spielen könnte und wir beiden Hübschen dort hübsch unter uns blieben, und ich nannte Gott ein Arschloch, und du hast einen Kleiderbügel geholt und mich damit geprügelt, nicht wahr? In einem Atemzug rückte ich mit der alten Geschichte heraus, und die Befragte oder ins Gebet Genommene setzte empört ihr Weinglas ab, ja geriet fast erneut außer sich über den Gebrauch solcher Worte und verlangte eine Entschuldigung, und ich entschuldige mich. Wir setzten unser Essen fort, sie sagte, der San-Daniele-Schinken sei tadellos, dabei war es ein gewöhnlicher Parma, von mir aber als San-Daniele ausgegeben, als den Schinken, den man auch im Grand Hotel Danieli in Venedig auf seinem Teller hat; sie hatte ihn dort als Antipasti auf der Terrasse beim Abendessen mit ihrem zweiten Ehemann, wohl mehr als einmal. Ziemlich schnell waren wir also vom Nachkriegshamburg zum Canal Grande gekommen, und der Vorstoß in die Vergangenheit war vergessen. Ich löste ihr die Rinde von einer Scheibe Ciabatta und strich Butter auf das luftige Innere, legte etwas von dem falschen San-Daniele darauf und gab ihr das Stück, und meine Mutter – das schon hagere, bis auf die Wangen eingefallene Gesicht wie umrahmt von einer perlgrauen Perücke, die fast ein Teil ihrer selbst war – entspannte sich nach diesem Sprung in eine jüngere Vergangenheit ohne dunkle Stellen. Wir sprachen nur noch über Italien, nicht das heutige der Verschuldung und der Verblödung, sondern das Italien der alten und ewigen Schönheit – die sie zum ersten Mal mit meinem Vater erlebt habe, vor tausend Jahren für ein paar Tage, sagte sie (und meinte die Alassio-Tage, von denen ich erst später etwas erfuhr, aus dem Jahresbericht). Sie sprang gleich weiter, zu Italienreisen in ihrer zweiten Ehe, und bis auf einen Vorbehalt in den Augen – Augen, die in ihrer letzten Lebensphase immer größer geworden waren, als wollte sie auch die kleinsten Anzeichen des sich nähernden Todes sehen, um noch dagegenhalten zu können – schien sie jetzt dem Frieden mit mir zu trauen, solange wir bei der Schönheit blieben. Ich schob als Dessert ein Pfirsichkompott über den Tisch und machte ihr ein Kompliment: Wie gut sie aussehe heute Abend, eine gut aussehende ältere Dame, und sie drückte mir die Hände, eine Klammer von erstaunlicher Kraft, als könnte sie damit ein Band, das es so nie gab, doch noch herstellen, das schlichte Lebensband zwischen Mutter und Sohn. Iss das, sage ich zu ihr – irgendwie immer noch an dem Tisch, der alte Sohn und seine unsterbliche Mutter – und warte, bis sie die drei überweichen Pfirsichhälften gegessen hat, mit einer Langsamkeit, als müsste sie schwer daran kauen oder kaute an etwas ganz anderem, dann reicht sie mir die leere Schüssel, damit ich sie vor ihre Tür stelle, auf eine dortige Ablage, von der sie, wie von Geisterhand, über Nacht fortgetragen wird. Kein benutztes Geschirr soll bei ihr stehen und Gerüche verbreiten oder Fliegen anziehen und sie womöglich zwingen, die Balkontür zu öffnen. Wollen wir jetzt zum Bett gehen, sage ich und helfe ihr vom Stuhl auf, eingestellt auf kleinere Schreie; immer ist der Griff unter den Armen nicht zart genug, immer geht alles zu schnell. Sie will im Grunde keine Hilfe, sie will Zärtlichkeit, also geleite ich sie mit einem Arm um die Schulter, ohne sie das Gewicht des Armes spüren zu lassen, zum Bett. Noch kann sie sich allein ausziehen, kann sich auch waschen und die Zähne putzen, ich soll währenddessen im Flur vor der Tür auf und ab gehen, nicht etwa verschwinden. Genau zwanzig Minuten soll ich im Flur auf und ab gehen, das würde auch dem vollen Magen guttun, danach wieder hereinkommen und als Abschluss noch etwas am Bett sitzen.

Also verließ der Sohn das Appartement – geschmackssicher und liebevoll von der Tochter, seiner einstigen kleinen Schwester, gestaltet, mit Schlaf- und Essbereich, Garderobe und Bad, einer ungenutzten Kochnische und dem ungenutzten Balkon. Der Flur vor der Tür war lang und still, die anderen Bewohner bekam der Besucher nie zu Gesicht, seine Mutter aber machte dort ihre tagtäglichen Gänge, auf einen Rollator gestützt, seit die Körperkräfte nachgelassen hatten. Nur verlangte der Flur auch innere Kraft: Es auszuhalten, die immer selbe schnurgerade Strecke zwischen einem rückwärtigen Fenster mit Pflanze und Stuhl davor und dem Treppenhaus mit der gegenüberliegenden Fahrstuhltür im Schein einer Sparbeleuchtung hin- und herzugehen, mit wie durch die Stille und das Licht verlangsamten Schritten, tagein, tagaus jeweils für zwanzig Minuten, immer wieder mit Blicken auf eine kleine goldene Uhr (die ihr noch gestohlen werden sollte von einer Betreuerin), ob nicht etwa mit einem weiteren Gang bis zum hinteren Fenster und dem Rückweg zu ihrer Tür die Zeit schon überschritten wäre. Sie darf nicht zu wenig und darf nicht zu viel gehen, bei jeder zweiten Kehre am Fenster setzt sie sich kurz auf den Stuhl neben der Pflanze, um die Atmung zu beruhigen, und sieht auf die Uhr, da sind erst wenige Minuten um, folglich muss sie noch etliche Male gehen – wie auch ich hin- und herging, um die Minuten herumzubringen. Ein Gehen vorbei an den Ablagen für benutztes Geschirr, da ließen sich die Essensreste anschauen, alle unbekömmlichen Hinterlassenschaften, ein Stück Fisch oder etwas Rosenkohl, und nach weiterem Gehen, wieder bei der Wende an der Fahrstuhltür, ließ sich der dort angebrachte Tageskalenderspruch lesen, in dem Fall ein Goethewort, auswendig gelernt, um die Zeit zu verkürzen – Ich besänftige mein Herz, mit süßer Hoffnung ihm schmeichelnd. Eng ist das Leben fürwahr, aber die Hoffnung ist weit. Und bei jeder Runde die Überlegung, warum man genau das Wort und kein anderes gewählt hatte für diesen Tag, auch so vergingen Minuten, bis plötzlich sogar Eile geboten war; ich musste zügig von der Fahrstuhltür zu der Appartementtür gehen, um noch in der Zeit am mütterlichen Bett zu erscheinen.