Wenn Sie Rennen Würde

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Aus der Reihe: Ein Kate Wise Mystery #3
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„Also“, begann DeMarco, „ich würde sagen, es ist ziemlich klar, woran er gestorben ist.“

Dies war richtig. Im Hinterkopf des Opfers befand sich ein einzelnes Einschussloch. Es war recht sauber, wenn auch an den Rändern leicht verkohlt und blutig – genau wie damals bei Frank Nobilini. Dieses Opfer hier war ein Mann, den Kate auf Ende Dreißig oder Anfang Vierzig schätzte. Er trug teure Fitnesskleidung – eine dünne Kapuzenjacke mit Reißverschluss und teuer wirkende Fitnesshosen. Die Schnürbänder seiner High-Class-Laufschuhe waren sorgfältig gebunden und die Apple-Kopfhörer lagen wie absichtlich platziert neben seinem Kopf.

„Ist er schon identifiziert worden?“, fragte Kate.

„Ja“, sagte Pritchard. „Er heißt Jack Tucker. Nach den Ausweispapieren in seinem Portemonnaie wohnt er in einer Stadt namens Ashton. Das war für mich eine noch stärkere Verbindung zu dem Nobilini-Fall.“

„Kennen Sie Ashton, Detective?“, fragte Kate.

„Nicht besonders gut. Ich bin ein paar Mal durchgefahren, aber der Ort sagt mir nicht sonderlich zu. Zu perfekt, zu ruhig; stößt mir sauer auf.“

Kate wusste, was der Detective damit meinte. Sie fragte sich, wie er es wohl finden würde, wieder nach Ashton zurückkehren zu müssen.

„Wann wurde die Leiche entdeckt?“, fragte DeMarco.

„Heute morgen um 4:30 Uhr. Um kurz nach 5 Uhr bin ich hier am Tatort eingetroffen und habe gleich die Verbindungen zum Nobilini-Fall erkannt. Ich musste das NYPD geradezu anflehen, die Leiche nicht zu bewegen, bis Sie eintreffen, denn ich meine, Sie müssen den Tatort und die Leiche selbst in Augenschein nehmen.“

„Na, das hat Sie bei denen sicher sehr beliebt gemacht“, kommentierte Kate.

„Ach was, daran bin ich nun wirklich gewöhnt. Ich meine das ernst, wenn ich sage, dass mich viele der Polizisten hier „Cold Case Pritchard“ nennen.“

Kate wusste, dass unaufgeklärte Fälle polizeiintern oftmals als „Cold Cases“ bezeichnet wurden und fand den Spitznamen für Pritchard daher passend.

„Sie haben das ganz richtig entschieden“, stimmte Kate ihm zu. „Selbst wenn sich herausstellt, dass die Fälle nichts miteinander zu tun haben… dennoch läuft ja jemand frei herum, der diesen Mann erschossen hat. Jemand, den wir so schnell wie möglich ausfindig machen müssen, denn wir müssen in Betracht ziehen, dass dies kein Einzelfall war.“

„Tja, dazu kann ich nichts sagen“, sagte Pritchard. „Ich habe das, was mir zu dem Fall durch den Kopf ging, als Sprachnotiz aufgenommen. Sie können es sich gern anhören.“

„Das könnte sehr hilfreich sein. Ich gehe davon aus, dass die Forensiker Fotos gemacht haben?“

„Ja, die digitalen Fotos stehen sicherlich schon zur Verfügung.“

Während sie Jack Tuckers Leichnam nicht aus den Augen ließ, erhob sich Kate langsam.

Jack Tuckers Kopf war nach rechts gedreht, so als starre er sehnsüchtig auf die Kopfhörer, die so sorgsam neben ihn gelegt worden waren.

„Ist seine Familie schon informiert worden?“, fragte DeMarco.

„Nein. Und ich befürchte, dass das NYPD diese Aufgabe nun mir überlässt, da ich sie doch davon abgehalten haben, den Leichnam abzutransportieren, bis Sie beide eingetroffen waren.“

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann würde ich gerne diese Aufgabe übernehmen. Je weniger Leute mit den Details vertraut sind, desto besser.“

„Natürlich, wenn Sie dies für das Beste halten“, gab Pritchard zurück.

Schließlich wandte Kate ihren Blick von dem Leichnam ab und blickte in Richtung des Zugangs der Seitengasse, wo die beiden Beamten mit dem Polizisten, der für Kate und DeMarco das Absperrband angehoben hatte, zusammen standen. Kate hatte schon mehr Todesnachrichten überbringen müssen als sie noch zählen konnte, und es wurde niemals einfacher. Tatsächlich schien es sogar von Mal zu Mal schwieriger zu werden. Allerdings hatte sie auch gelernt, dass es gerade in den Momenten tiefster Trauer war, dass die Betroffenen sich an die kleinsten Details erinnerten.

Kate hoffte, dass dies auch diesmal zutraf.

Und wenn dem so war, dann half ihr vielleicht eine nichtsahnende Witwe, einen Fall abzuschließen, der sie fast ein Jahrzehnt lang verfolgt hatte.

KAPITEL DREI

Die Fahrt von Midtown nach Ashton dauerte nur zwanzig Minuten. Es war 21:20 Uhr, als sie den Tatort verließen, und der Verkehr New York Citys war nach wie vor unnachgiebig und zäh. Als sie den dichtesten Teil des Verkehrs hinter sich gelassen hatten und endlich auf dem Freeway waren, wurde Kate bewusst, dass DeMarco ungewöhnlich still war. Sie saß auf dem Beifahrersitz und starrte geradezu rebellisch auf die an ihr vorbeiziehende Skyline von New York.

„Alles klar bei dir?“, fragte Kate.

DeMarco antwortete sofort, ohne sich jedoch Kate zuzuwenden. Damit war Kate klar, dass DeMarco etwas beschäftigt hatte, schon seitdem sie den Tatort verlassen hatten.

„Ich weiß, dass du diesen Job schon eine Weile machst und dich wirklich auskennst“, begann sie. „Aber ich habe erst ein einziges Mal eine Todesnachricht überbringen müssen, und ich habe es gehasst. Ich habe mich ganz furchtbar gefühlt. Und ich hätte mir wirklich gewünscht, dass du das mit mir besprochen hättest, bevor du uns freiwillig für den Job gemeldet hast.“

„Das tut mir leid, das habe ich gar nicht bedacht. Allerdings ist es in einigen Fällen einfach Teil des Jobs. Auch wenn das jetzt herzlos klingt, es ist am besten, sich gleich zu Anfang daran zu gewöhnen. Außerdem leiten wir jetzt die Ermittlungen; was bringt es also, diese miese Aufgabe dem armen Detective aufzudrücken?“

„Trotzdem… wie wäre es in Zukunft mit einer kleinen Vorwarnung, was das anbelangt?“

In DeMarcos Tonfall schwang Wut mit, etwas, was Kate von DeMarco noch nicht gehört hatte, zumindest nicht an sie gerichtet. „Klar“, antwortete sie nur und beließ es dabei.

Den Rest der Fahrt nach Ashton schwiegen beide. Da Kate schon so oft Todesnachrichten überbracht hatte, wusste sie, dass Spannungen innerhalb des Teams die Aufgabe erschwerte. Allerdings war ihr auch klar, dass DeMarco keine Ratschläge annehmen würde, solange sie wütend war. Diese Lektion, meinte Kate, würde sie vielleicht einfach lernen müssen, indem sie sich in die Aufgabe stürzte.

Um 21:42 Uhr erreichten sie das Haus der Tuckers. Es erstaunte Kate nicht, dass das Licht auf der Veranda brannte, ebenso wie quasi jedes andere Licht innerhalb des Hauses. Seiner Kleidung nach zu urteilen, war Jack Tucker auf seiner morgendlichen Joggingrunde unterwegs gewesen. Die Frage, warum sein Leichnam in New York gefunden worden war, warf deshalb viele Frage auf. Die Antwort auf all diese Fragen konnte eventuell seine besorgte Ehefrau geben.

Eine besorgte Ehefrau, die kurz davor ist herauszufinden, dass sie jetzt Witwe ist, dachte Kate. Mein Gott, ich hoffe, sie haben keine Kinder.

Kate parkte den Wagen vor dem Haus und stieg aus. Dann stieg auch DeMarco aus, langsam, so als wolle sie Kate damit unmissverständlich klar machen, dass es ihr ganz und gar nicht passte, hier dabei sein zu müssen. Sie gingen den mit Steinplatten ausgelegten Weg zur Haustür entlang und Kate sah, wie sich die Vordertür öffnete, noch bevor sie die Stufen der Veranda erreicht hatten.

Die Frau, die in der Tür stand, erblickte sie und erstarrte. Es hatte den Anschein, dass es ihr nicht leicht fiel, Worte zu finden. Am Ende konnte sie nichts weiter sagen als „Wer sind Sie?“

Ganz langsam griff Kate in ihre Jackentasche und zog ihre FBI-Marke hervor. Bevor sie sie der Frau richtig zeigen konnte, hatte diese schon begriffen, was los war. Man konnte es in ihren Augen sehen. Ihr Gesichtsausdruck fiel langsam in sich zusammen. Und als Kate und DeMarco endlich die Treppenstufen erreicht hatten, ging die Frau auf die Knie und begann zu schreien.

***

Wie sich herausstellte, hatten die Tuckers in der Tat Kinder. Und zwar drei, im Alter von sieben, zehn und dreizehn Jahren. Sie alle waren noch wach und hielten sich im Wohnzimmer auf, während sich Kate alle Mühe gab, die Ehefrau – Missy, wie sie sich unter krampfhaften Schluchzern vorgestellt hatte – nach drinnen und aufs Sofa zu befördern. Die Dreizehnjährige war sogleich an der Seite ihrer Mutter, während DeMarco versuchte, die anderen beiden auf Abstand zu halten, während deren Mutter versuchte, die schlimme Nachricht, die sie soeben erhalten hatte, zu verinnerlichen.

Mit leicht schlechtem Gewissen meinte jetzt auch Kate, dass sie DeMarco gegenüber vielleicht doch etwas unbedacht vorgegangen war. Diese ersten zwanzig Minuten im Hause der Tuckers waren herzzerreißend. Ihr selbst fiel nur ein einziger anderer Moment während ihrer gesamten Karriere ein, der ebenso schlimm gewesen war. Sie beobachtete, wie DeMarco sich um die beiden Kinder kümmerte und vermutete, dass sie ihr dies noch sehr lange nachtragen würde.

Irgendwann inmitten des Chaos wurde Missy Tucker klar, dass sie jemanden finden musste, der bei den Kindern sein konnte, wenn sie irgendeine Hilfe für Kate und DeMarco sein wollte. Immer wieder unterbrochen von langem Schluchzen rief sie ihren Schwager an, dem sie nun ihrerseits die Nachricht vom Tod seines Bruders überbringen musste. Der Bruder von Jack Tucker lebte auch in Ashton, und seine Frau und er fuhren sofort los, um sich um die Kinder zu kümmern.

In erster Linie, um Missy und den Kinder etwas Privatsphäre zu ermöglichen und mit ihrer Trauer klarzukommen, holte Kate Missys Einverständnis ein, sich im Haus umzugucken und so vielleicht auf etwas zu stoßen, was darauf hinwies, was dazu geführt haben konnte, dass Jack Tucker ermordet worden war. Sie begannen im Eheschlafzimmer, wo sie die Nachttische der Eheleute Tucker durchsuchten und private Gegenstände untersuchten, begleitet vom Schluchzen der Familie, das von unten zu ihnen herauf drang.

 

„Das hier ist wirklich das Allerletzte“, meinte DeMarco.

„Das ist es. Und es tut mir leid, DeMarco. Wirklich. Ich dachte nur, dass es so für alle Beteiligten leichter wird.“

„Ach, wirklich?“, schoss DeMarco zurück. „Ich weiß, dass ich dich nicht allzu gut kenne. Was ich allerdings weiß ist, dass du dazu neigst, alles daran zu setzen, um dir selbst soviel Druck wie irgend möglich zu machen. Deshalb verstehe ich nur allzu gut, dass es dir Schwierigkeiten bereitet, die relativ einfach Balance zwischen deiner Familie und der Arbeit für das FBI zu finden.“

„Wie bitte?“, hakte Kate nach und spürte, wie die Wut in ihr hochkochte.

„Tut mir ja leid, aber genau so ist es doch“, entgegnete DeMarco und zuckte die Schultern. „Die hiesige Polizei hätte dies doch erledigen können und du könntest schon längst woanders nach Spuren in diesem Fall suchen.“

„Ohne Zeugen ist die Ehefrau die beste Option“, entgegnete Kate. „Außerdem muss sie gerade den Tod ihres Mannes verdauen. Es ist für alle Beteiligten eine beschissene Situation. Aber du musst darüber hinwegkommen, dass dir die Situation an die Nieren geht. Und frage dich doch mal, wer es denn im Großen und Ganzen am schwersten hat; du oder die trauernde Witwe, die da unten sitzt?“

Kate war sich nicht bewusst gewesen, wie laut sie bei ihren letzten Worten geworden war. DeMarco starrte sie einen Moment lang an, bevor sie dann einfach den Kopf schüttelte, wie ein zurechtgewiesener Teenager, dem nichts mehr zu sagen einfiel, und den Raum verließ.

Als auch Kate mit der Überprüfung des Schlafzimmers fertig war, sah sie, dass DeMarco den Flur entlang ein Büro und eine kleine Bibliothek untersuchte. Kate entschied, DeMarco einen Augenblick in Frieden zu lassen und ging selbst nach draußen, um sich dort nach irgendwelchen Hinweisen umzusehen. Sie erwartete eigentlich nicht, auf etwas zu stoßen, als sie so um das Haus herumging, aber ihr war bewusst, dass es grob fahrlässig gewesen wäre, nicht alles zu untersuchen.

Als sie wieder das Haus betrat, sah sie, dass Jack Tuckers Bruder und dessen Frau inzwischen eingetroffen waren. Der Bruder und Missy hielten sich in einer festen, verzweifelten Umarmung, während seine Ehefrau bei den Kindern kniete und sie umarmte. Kate bemerkte den leeren Gesichtsausdruck der Dreizehnjährigen – einem Mädchen, das ihrem Vater sehr ähnelte, und Kate konnte nicht umhin, DeMarco ihre Wut nicht länger übelzunehmen.

„Agent Wise?“

Gerade als sie wieder nach oben gehen wollte, kam ihr Missy den Flur entlang entgegen geeilt. Kate wandte sich um. „Ja?“

„Wenn wir uns unterhalten sollen, dann bitte jetzt. Ich weiß nicht, wie viel länger ich mich noch zusammenreißen kann.“ Ihr kamen schon jetzt Klagelaute und Stöhnen über die Lippen. In Anbetracht dessen, dass sie die Nachricht des Todes ihres Mannes vor kaum einer Stunde erhalten hatte, musste Kate sie für ihre Stärke wirklich bewundern.

Mit einem schnellen Blick zum Wohnzimmer hinter sich, in dem sich ihre Kinder und Verwandten aufhielten, ging sie rasch die Treppe hinauf. DeMarco, die sich gerade das Medizinschränkchen im Badezimmer oben vorgenommen hatte, gesellte sich zu ihnen und zu dritt gingen sie in das Eheschlafzimmer, das Kate und DeMarco schon untersucht hatten.

Missy setzte sich auf die Bettkante; sie wirkte wie eine Frau, die gerade aus einem Albtraum erwacht war, nur um sich bewusst zu werden, dass er niemals enden würde.

„Sie haben mich gefragt, warum Jack in New York City gewesen ist“, begann sie. „Jack arbeitete in einer leitenden Funktion in der Buchhaltung einer ziemlich großen Firma – bei Adler and Johnson. In letzter Zeit haben sie Tag und Nacht an den Finanzen einer Firma in South Carolina, die mit der Stilllegung von Atomkraftwerken zu tun hat, gearbeitet. Wenn es richtig spät wurde, hat er in New York übernachtet.“

„Haben Sie ihn heute Abend zurück erwartet, oder haben Sie angenommen, er übernachte in New York im Hotel?“, fragte DeMarco.

„Ich habe heute Morgen gegen 7 Uhr mit ihm gesprochen, bevor er zu seiner morgendlichen Joggingrunde aufgebrochen ist. Er sagte, dass er nicht nur plane, heute Abend nach Hause zu kommen, sondern sogar ziemlich früh – circa gegen 16 Uhr.“

„Ich nehme an, Sie haben zu einer bestimmten Uhrzeit anfangen, ihn anzurufen, als Sie feststellten, dass er sich verspätete?“

„Ja, aber erst so gegen 19 Uhr. Wenn es bei seiner Firma richtig zur Sache geht, zerrinnt ihnen Zeit oftmals zwischen den Fingern.“

„Mrs. Tucker, das FBI wurde eingeschaltet, weil die Umstände des Mordes an Ihrem Mann sich decken mit denen eines Falls von vor acht Jahren. Das damalige Opfer war ein Mann, der auch hier in Ashton lebte, und ebenfalls in New York getötet wurde“, erklärte Kate. „Es gibt keine handfesten Beweise, die diese Verbindung untermauern, aber die Umstände ähneln sich dennoch ausreichend, dass das FBI den Fall an sich gezogen hat. Deshalb ist es sehr wichtig, dass Sie darüber nachdenken, ob Ihr Mann sich Feinde gemacht hat.“

Es war Missy anzusehen, dass sie wieder mit den Tränen kämpfte. Sie unterdrückte das Bedürfnis, ihrer Trauer freien Lauf zu lassen und bekam sich wieder in den Griff.

„Nein, mir fällt niemand ein. Das sage ich nicht nur, weil ich meinen Mann liebe, sondern weil er ein sehr gutherziger Mensch war. Abgesehen von einigen kleinen Meinungsverschiedenheiten bei der Arbeit kann ich mich an keinen wirklichen Streit in seinem Leben erinnern.“

„Wie sieht es mit engen Freunden aus?“, fragte Kate. „Gibt es Freunde, insbesondere männliche, mit denen er Zeit verbrachte und die vielleicht eine andere Seite Ihres Mannes kennengelernt haben könnten?“

„Nun ja, er hatte diese Gruppe von Freunden - draußen im Yachtclub, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die irgendetwas Negatives über ihn zu berichten haben.“

„Haben Sie die Namen von denjenigen, mit denen Ihr Mann dort seine Zeit verbrachte, damit wir uns mit ihnen unterhalten könnten?“, fragte DeMarco.

„Ja, es gab diesen harten Kern der Gruppe… mein Mann und noch drei weitere. Sie haben sich am Yachtclub getroffen, oder gingen zusammen in eine Zigarren-Bar, wo sie Sport geguckt haben. Vor allem Football.“

„Wissen Sie, ob einer der anderen Feinde hatte?“, wollte DeMarco wissen. „Selbst eifersüchtige Ex-Frauen oder Familienmitglieder, mit denen es nicht so glatt lief?“

„Ich weiß nicht. Ich kenne die nicht allzu gut und…“

Das unkontrollierte Schluchzen, das von unten zu ihnen drang, unterbrach Missy. Sie blickte zur Schlafzimmertür mit einem Gesichtsausdruck, der Kate im Herzen weh tat.

„Das war Dylan, unser mittleres Kind. Er und Jack waren…“

Mit zitternder Lippe hielt sie inne und versuchte, sich zusammenzureißen.

„Es ist okay, Mrs. Tucker“, sagte DeMarco. „Gehen Sie nach unten zu Ihren Kindern. Wenn Sie noch so nett wären, uns die Namen von Jacks Freunden aus dem Yachtclub zu geben, haben wir erstmal genügend Informationen.“

Schnell erhob sich Missy und rannte weinend zur Tür. DeMarco ging hinter ihr und bedachte Kate mit einem wütenden Blick. Kate selbst blieb einen Moment länger inmitten des Schlafzimmers stehen und versuchte, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Nein, dieser Teil des Jobs war wahrlich niemals leicht gewesen. Und die Tatsache, dass sie eigentlich kaum brauchbare Informationen von Missy bekommen hatten, machte es nur noch schlimmer.

Schließlich betrat sie den Flur. Ihr war klar, warum DeMarco sauer auf sie war. Herrgott nochmal, sie war sogar etwas sauer auf sich selbst.

Kate ging nach unten und verließ das Haus. Sie sah, dass sich DeMarco die Tränen wegwischte, als sie gerade in den Wagen einstieg. Kate schloss leise die Haustür und spürte, wie die Trauer sie tiefer und tiefer in einen alten Fall hineinschob, den sie schon verloren geglaubt hatte.

KAPITEL VIER

Um 9 Uhr morgens hatte die Nachricht von Jack Tuckers Mord in Ashton schon die Runde gemacht. Das war der Grund, warum es für Kate und DeMarco so einfach war, Jacks Freunde zu kontaktieren. Die Namen hatte Missy am vorigen Abend DeMarco gegeben. Nicht nur hatten sie die Nachricht vom Tod ihres Freundes schon gehört, sondern hatten sich sogar schon Gedanken gemacht, wie sie Missy und den Kindern zur Seite stehen konnten in dieser schweren Zeit der Trauer.

Es bedurfte nur einiger kurzer Telefonate, bis Kate und DeMarco ein Treffen mit drei von Jacks Freunden am Yachtclub arrangiert hatten. Da es Samstag war, war der Parkplatz schon um 9 Uhr morgens ziemlich voll. Der Club lag direkt am Long Island Sound und hatte wohl den bestmöglichen Ausblick, ohne dass angeberische Yachtbesitzer mit ihren Yachten die Sicht versperrten.

Der Club selbst war in einem zweistöckigen Gebäude angesiedelt, das im Kolonialstil gehalten war, jedoch mit einer modernisierten Fassade und schöner Gartenlandschaft. Kate wurde von einem Mann begrüßt, der sie schon am Eingang empfing. Er trug ein einfaches Hemd und Khakihosen – was wahrscheinlich als legere Kleidung zu werten war für jemanden, der hier Mitglied war.

„Sind Sie Agent Wise?“, fragte er.

„Ja. Und dies ist mein Partner, Agent DeMarco.“

DeMarco nickt nur. Ihr Ärger des vorherigen Abends war noch nicht verflogen. Als sie sich gestern Abend im Hotel getrennt hatten, hatte DeMarco nicht ein einziges Wort gesagt. Heute Morgen hatte sie sich gerade einmal ein kurzes Guten Morgen beim Frühstück herausgepresst, aber mehr hatte sie heute noch nicht gesagt.

„Ich bin James Cortez. Wir haben vorhin telefoniert. Die anderen sind hinten auf der Terrasse und warten auf Sie“, sagte der Mann und fügte hinzu, „mit Kaffee.“

Er führte sie durch den Club, der mit seinen hohen Decken und der warmen Einrichtung eine charmante Atmosphäre verströmte. Kate fragte sich, was es wohl kosten mochte, hier Mitglied zu sein. Der Preis lag definitiv außerhalb ihrer Preisklasse. Dies wurde umso klarer, als sie die Terrasse betraten, die den Blick auf den Long Island Sound freigab. Es war wunderschön. Man blickte direkt aufs Wasser, mit der Skyline New York Citys auf der anderen Seite.

An einem hohen Holztisch, auf dem Platten mit Gebäck und Bagels sowie eine Kanne Kaffee standen, saßen zwei weitere Männer. Beide blickten auf, als die Agents sich näherten, und erhoben sich, um sie zu begrüßen. Einer von ihnen war jung, sicherlich nicht älter als Dreißig, während James Cortez und der andere Mann locker Mitte Vierzig waren.

„Duncan Ertz“, stellte sich der junge Mann vor und streckte ihnen seine Hand entgegen.

Kate und DeMarco gaben den beiden die Hand und stellten sich ihrerseits vor.

Der ältere Mann hieß Paul Wickers, war gerade in den Ruhestand gegangen. Er war als Stockbroker tätig gewesen und schien gern darüber zu reden, da dies so ungefähr das erste war, was er sagte, nachdem er sich vorgestellt hatte.

Kate und DeMarco setzten sich und Kate nahm sich eine Tasse Kaffee sowie Zucker und Sahne.

„Es tut einem richtig weh, an die arme Missy und die Kinder zu denken“, begann Duncan und biss herzhaft in ein Stück Plunderkuchen.

Kate übermannte die Erinnerung an den vorherigen Abend und dachte, sie müsse unbedingt sehen, wie es um die arme Missy stand. Sie blickte über den Tisch hinweg DeMarco an und fragte sich, ob sie nicht auch überprüfen sollte, wie es um DeMarco stand.

Kate überlegte, ob DeMarco sich die gestrige Situation vielleicht auf Grund eines Ereignisses in ihrer eigenen Vergangenheit so sehr zu Herzen genommen hatte. Etwas, das sie noch nicht verarbeitet hatte.

„Also“, begann Kate, „Missy hat Sie als diejenigen genannt, die Jack – abgesehen von seiner Familie - am nächsten standen. Ich versuche, mir ein Bild zu machen, was für eine Art Mensch er außerhalb seiner Arbeit und seines Zuhauses war.“

 

„Das ist ja genau das“, antwortete James Cortez. „Jack war immer derselbe, unabhängig davon, wo er war. Er war gerade heraus. Einer, der immer anderen helfen wollte. Wenn er überhaupt einen Fehler hatte, dann würde ich sagen war es, dass er zu tief in seiner Arbeit steckte.“

„Er erzählte immer Witze“, sagte Duncan. „Viele davon waren zwar nicht sonderlich lustig, aber er liebte es trotzdem, sie zu erzählen.“

„Das stimmt auf jeden Fall“, fügte Paul hinzu.

„Und er hatte keine Geheimnisse, die er mit Ihnen geteilt hat?“, fragte DeMarco. „Vielleicht eine Affäre, oder auch nur Gedanken an eine Affäre?“

„Oh Gott, nein“, rief Paul aus. „Jack Tucker hat seine Frau unglaublich geliebt. Ich kann mit Sicherheit behaupten, dass der Mann alles an seinem Leben geliebt hat. Seine Frau, seine Arbeit, seine Kinder…“

„Deshalb ergibt das alles keinen Sinn“, meinte James. „Ich meine das jetzt auf die respektvollste Art und Weise, aber aus der Sicht eines Außenstehenden war Jack absoluter Durchschnitt in allen Bereichen. Fast langweilig.“

„Haben Sie eine Ahnung, ob es zwischen ihm und dem Mordopfer von vor acht Jahren irgendeine Verbindung gab?“, fragte Kate. „Einem Mann namens Frank Nobilini, der auch in Ashton lebte, und der auch in New York ermordet wurde.“

„Frank Nobilini?“, wiederholte Duncan Ertz, schüttelte dabei aber den Kopf.

„Ach ja, der…“, meinte James. „Der arbeitete doch für diese High-Profile-Marketingagentur, die all die großen Jobs machte. Seine Frau hieß Jennifer. Deine Frau kennt sie bestimmt“, sagte er an Paul gewandt. „Nette Frau. Sehr engagiert in der Gemeinde und in der Förderung zur Einbringung von Eltern in den Schulalltag. Solche Sachen eben.“

Ertz zuckte die Schultern. Anscheinend war er noch neu in dieser Gruppe und kannte sich damit nicht aus.

„Und Sie glauben, der Mord an Jack könnte etwas zu tun haben mit dem an Nobilini?“, hakte Paul nach.

„Die Ermittlungen stehen noch ganz am Anfang. Es ist noch viel zu früh, um zu spekulieren“, antwortete Kate. „Aber angesichts der Umstände müssen wir diese Möglichkeit durchaus in Betracht ziehen.“

„Kennen Sie die Namen derer, mit denen Jack zusammen gearbeitet hat?“, fragte DeMarco.

„Er hat nur zwei Vorgesetzte“, sagte Paul. „Einer von ihnen heißt Luca. Er lebt in der Schweiz und kommt drei- bis viermal im Jahr her. Der andere lebt hier, ein Kerl namens Daiju Hiroto. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er der Leiter von Adler and Johnson am Standort New York City ist.“

„Nachdem, was Jack erzählt hat, scheint Daiju so einer zu sein, der praktisch in seinem Büro lebt“, meinte Duncan.

„Kam es oft vor, dass Jack am Wochenende gearbeitet hat?“, fragte Kate.

„Immer mal wieder, ja“, antwortete James. „Und in der letzten Zeit häufiger. Sie sind inmitten eines Jobs, in dem sie eine Firma unterstützen, die mit dem Rückbau von Kernkraftwerken zu tun hat. Als ich das letzte Mal mit Jack gesprochen habe, sagte er, wenn sie es richtig anpackten, dann könnte damit ein riesiges Vermögen gemacht werden.“

„Ich verwette eine Stange Geld, dass heute sein ganzes Team arbeitet“, meinte Paul. „Vielleicht können die Ihnen etwas erzählen, wovon wir nichts wissen.“

DeMarco schob James Cortez ihre Visitenkarte zu und nahm sich dann ein Stück Gebäck, das mit Kirschen garniert war. „Bitte rufen Sie uns an, wenn Ihnen in den nächsten Tagen noch etwas einfällt.“

„Und bitte behalten Sie die Sache mit dem Fall vor acht Jahren für sich“, fügte Kate hinzu. „Das letzte, was wir brauchen, ist, dass die Leute in Ashton Panik bekommen.“

Paul nickte, da ihm klar war, dass sie in erster Linie ihn angesprochen hatte.

„Vielen Dank, meine Herren“, sagte Kate, nahm noch einen letzten Schluck Kaffee und überließ die Männer ihrem Frühstück. Gedankenverloren blickte sie über die Long Island Sound hinweg, auf dem ein Segelboot langsam durchs Wasser glitt, so, als ziehe es den Beginn des Wochenendes hinter sich her.

„Ich besorge die Adresse von Jack Tuckers Büro“, sagte DeMarco und hatte schon ihr Handy in der Hand. Aber selbst bei diesen Worten klang sie distanziert und kalt.

Sie und ich werden dies hier regeln müssen, bevor es ein Eigenleben annimmt, dachte Kate. Klar, sie ist beinhart, aber ich werde sie daran erinnern müssen, dass ihr solch ein Verhalten nicht zusteht. Und ich werde nicht zögern, ihr genau das unmissverständlich klar zu machen.

***

Die Büroräume von Adler and Johnson lagen in einem der glamouröseren Hochhäuser Manhattans. Sie nahmen die gesamte erste und zweite Etage eines Gebäudes ein, in dem ansonsten eine Anwaltskanzlei, ein Immobilienmakler und ein kleiner Verlag ansässig waren. Wie sich herausstellte, sollte Paul Wickers Recht behalten. Die meisten, die zu Jack Tuckers Team gehörten, waren an diesem Samstag tatsächlich bei der Arbeit. Im Büro lag der Duft starken Kaffees, und obwohl über den Räumlichkeiten eine Atmosphäre von Geschäftigkeit lag, arbeiteten die acht Leute dort konzentriert und still.

Sie wurden sogleich von Daiju Hiroto begrüßt, der sie in sein geräumiges Büro führte. Er wirkte wie ein Mann zwischen den Fronten – einerseits hatte er ein Projekt, das er zum Abschluss bringen musste, andererseits war er von tiefer Trauer über den Tod seines Mitarbeiters und Freundes erfüllt.

„Ich habe es heute Morgen gehört“, begann er, während er hinter seinem großen Schreibtisch Platz nahm. „Ich bin seit heute Morgen um sechs bei der Arbeit und eine unserer Mitarbeiterinnen – Katie Mayer – hat diese schlimme Nachricht überbracht. Zu dem Zeitpunkt waren fünfzehn Mitarbeiter hier, und ich habe es allen freigestellt, sich das Wochenende frei zu nehmen. Sechs von ihnen haben das Angebot angenommen, um Jack Respekt zu zollen.“

„Wären Sie nicht selbst der Vorgesetzte dieses Teams, wären Sie dann selbst gegangen?“, fragte Kate.

„Nein. Es mag egoistisch klingen, aber der Job muss zu Ende gebracht werden. Wir haben nur noch zwei Wochen bis zum Ende der Frist, und wir sind leicht in Verzug. Und die Arbeitsplätze von mehr als fünfzig Mitarbeitern sind in Gefahr, wenn wir das Projekt nicht fristgerecht zu einem erfolgreichen Abschluss bringen.“

„Wer in Ihrem Team kannte Jack Ihrer Meinung nach am besten?“, fragte DeMarco.

„Wahrscheinlich ich selbst. Jack und ich haben über die letzten zehn Jahre hinweg mehrfach eng an sehr großen Projekten zusammen gearbeitet. Sie sind zusammen durch die Welt gereist, haben die Nächte durchgearbeitet und verhandelt; wir haben an Meetings teilgenommen, von denen der Rest des Teams nicht einmal etwas wusste.“

„Aber Sie haben erwähnt, dass jemand anderes zuerst von seinem Tod erfahren hat“, fragte DeMarco nach.

„Ja, Katie. Sie wohnt auch in Ashton und ist recht eng mit Jacks Ehefrau befreundet.“

Kate wollte schon etwas zu der Tatsache sagen, dass es beleidigend war, dass Hiroto selbst nicht nach Hause gegangen war und damit auch den anderen im Team, die zurückgeblieben waren, die Chance genommen hatte, zu trauern. Doch sie war sich auch bewusst, dass Männer manchmal von ihrer Arbeit getrieben waren, und sie meinte, dass es ihr nicht zustand, eine Wertung abzugeben.

„Während all der Zeit, die Sie Jack kannten, hat er da jemals Geheimnisse gehabt, von denen Sie wussten? Zum Beispiel seiner Frau gegenüber?“, fragte DeMarco.

„Nicht, dass ich wüsste. Und falls er doch welche hatte, dann war er nicht jemand, der sie mit mir hätte teilen wollen. Aber unter uns gesagt, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er Geheimnisse hatte oder ein Doppelleben führte. Er war ein Guter. Bei ihm wusste man, woran man ist.“

„Sie können sich also nicht vorstellen, warum ihn jemand umbringen wollte?“, bohrte Kate weiter.