Wenn Sie Fliehen Würde

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Kapitel zwei

Sowohl Kate als auch DeMarco waren in der Lage, auf dem Flug von Washington DC nach Chicago, der in aller Herrgottsfrühe ging, ein wenig zu schlafen. Doch zumindest was Kate anging, war es bestenfalls ein sehr unruhiges Nickerchen gewesen. Sie fühlte sich gerädert, als sie um 6:15 Uhr während des Landeanflugs auf Chicago erwachte. Ihre ersten Gedanken galten Melissa, Michelle und Alan. Wie ein Ziegelstein schlugen die Schuldgefühle ein, während sie Chicago im sanften Licht der Dämmerung durch das Flugzeugfenster betrachtete.

Die ersten Momente in Chicago verbrachte sie damit, sich schwere Vorwürfe zu machen. Es wurde ein bisschen besser, als sie und DeMarco durch den Terminal auf den Schalter der Autovermietung zugingen.

Jetzt, da sie nach Frankfield, einer Kleinstadt in Illinois, fuhren, waren die Schuldgefühle kaum mehr als ein Geist in ihrem Kopf, komplett mit rasselnden Ketten und knarrenden Dielen.

DeMarco saß hinterm Steuer und nippte an ihrem Starbucks-Kaffee, den sie sich im Flughafen O’Hare besorgt hatte. Sie warf Kate einen Blick zu, die aus dem Fenster starrte, und stieß sie an.

„Okay, Wise“, sagte DeMarco, „hier im Raum steht ein großer, fetter Elefant, und er stinkt. Was ist los? Du siehst furchtbar aus.“

„Sind wir schon auf dem lass-uns-unsere-Herzen-ausschütten-Level?“

„Sind wir das nicht immer?“

Kate setzte sich aufrechter hin und seufzte. „Ich habe gerade Michelle gebabysittet, als ich bemerkte, dass ich einen Anruf von Duran verpasst habe. Ich bin einfach auf und los. Und noch schlimmer ist es, dass ich sie Alan überlassen habe, weil Melissa und ihr Mann gerade dabei sind, ihre Probleme durchzukauen. Die ganze Sache wurmt mich.“

„Ich persönlich bin froh, dass du hier bist“, meinte DeMarco. „Aber du hättest einfach Nein sagen können. Du hast doch keinen wirklichen Vertrag, oder?“

„Nein, habe ich nicht. Aber nein zu sagen ist nicht so einfach, wie du vielleicht glaubst. Ich befürchte, dass ich zu viel investiere. Ich glaube, ich definiere mich über diesen Job.“

„Großmutter zu sein reicht dir nicht?“, fragte DeMarco.

„Doch, natürlich. Aber ich … ich weiß auch nicht recht.“

Ihre Worte verloren sich und DeMarco fiel in das Schweigen mit ein … zumindest einen Moment lang. „Also, dieser Fall hier“, begann sie, „sieht ziemlich unkompliziert aus, richtig? Hast du schon die Akten gelesen?“

„Hab ich. Der Tathergang scheint ziemlich klar zu sein. Doch ohne Spuren oder Hinweise oder auch nur die leisesten Vorschläge der Polizei vor Ort wird die Lösung dieses Falls eine Herausforderung sein.“

„Also … das jüngste Opfer ist eine vierundfünfzigjährige Frau. Sie war nachmittags vor zwei Tagen allein zu Hause. Es gibt keine Anzeichen von einem gewaltsamen Eindringen. Sie ist von ihrem Mann entdeckt worden, als er von der Arbeit nach Hause kam. Sieht nach einer brutalen Strangulierung aus, die tief in ihren Hals geschnitten hat.“

„Und genau das könnte ein Anhaltspunkt sein“, meinte Kate. „Womit erwürgt man jemanden, und schneidet dabei tief in ihren Hals?“

„Stacheldraht?“

„Dann wäre da mehr Blut gewesen“, hielt Kate dagegen. „Der Tatort wäre mehr als nur ein bisschen blutig.“

„Und in den Berichten steht, dass er ziemlich sauber war.“

„Das erklärt auch, warum das Police Department vor Ort solche Probleme hat. Aber irgendwo müssen wir anfangen, richtig?“

„Dann lass uns das mal genauer ansehen“, sagte DeMarco, verlangsamte das Tempo und nickte geradeaus. „Wir sind da.“

* * *

Ein einzelner Polizeibeamter wartete auf sie, als sie auf die U-förmige Auffahrt fuhren. Es saß in seinem Wagen und trank aus einem Kaffeebecher. Als Kate und DeMarco sich seinem Wagen näherten, nickte er ihnen höflich zu. Er trug Uniform und aufgrund seines sternförmigen Abzeichen war klar, dass er der Sheriff war. Kates Meinung nach hielt er diese Position nicht mehr lange. Er ging locker auf die Sechzig zu, was vor allem anhand seiner Augenbrauen und seiner fast komplett grauen Haare offensichtlich war.

„Agents Wise und DeMarco“, sagte Kate und zeigte ihre FBI-Marke.

„Sheriff Bannerman“, sagte der alternde Polizist. „Schön, dass Sie da sind. Dieser Fall stellt uns alle vor ein Rätsel.“

„Könnten Sie bitte mit uns hineingehen und uns über die Details aufklären?“, bat Kate.

„Natürlich.“

Bannerman ging voran auf die spärlich dekorierte Veranda. Die Einrichtung drinnen war ebenso minimalistisch gehalten wie draußen und ließ das ohnehin schon große Haus noch größer wirken. Sobald sie durch die Haustür traten, standen sie in einem gefliesten Foyer, das in einen großen Flur überging, von wo aus eine gewundene Treppe in das obere Stock führte. Bannerman führte sie den Flur hinunter und nach rechts. Sie betraten einen großen Raum, dessen hintere Wand von einem einzigen, großen Bücherregal eingenommen wurde. Ansonsten gab es nur ein elegantes Sofa und ein Klavier.

„Das Arbeitszimmer des Opfers ist hier hindurch“, sagte Bannerman und führte sie durch den Raum in einen Bereich, der genauso gefliest war wie das Foyer. Ein einfacher Schreibtisch stand an der Wand. Rechter Hand sah man durch ein Fenster auf einen winzigen Gemüsegarten hinaus. Aus einer großen Vase in der Ecke schauten Zweige einer Baumwollpflanze hervor. Es war ein simples Arrangement und ganz offensichtlich künstlich, passte jedoch sehr gut zu dem Raum.

„Der Leichnam wurde beim Schreibtisch entdeckt, genau in diesem Stuhl“, sagte Bannerman. Dabei nickte er in Richtung des einfachen Schreibtischs. Es war allerdings die Art von einfach, die normalerweise ein beachtliches Preisschild trägt. Allein bei dem Anblick begann Kates Körper zu kribbeln.

„Das Opfer heißt Karen Hopkins. Soweit ich weiß, hat sie fast ihr ganzes Leben hier gelebt. Sie arbeitete gerade, als sie umgebracht wurde. Eine Email, die sie nie beenden konnte, war noch auf dem Bildschirm, als ihr Ehemann sie fand.“

„Im Bericht steht, dass es keine Anzeichen gewaltsamen Eindringens gibt, ist das richtig?“, fragte DeMarco.

„Das stimmt, ja. Der Ehemann hat ausgesagt, dass sogar alle Türen abgeschlossen waren, als er nach Hause kam.“

„Das heißt, der Killer hat abgeschlossen, bevor er verschwand“, meinte Kate. „Das ist nicht ungewöhnlich. Das ist eine exzellente Art, um die Ermittler in eine falsche Richtung zu locken. Trotzdem … irgendwie muss er ins Haus gekommen sein.“

„Mrs. Hopkins ist das zweite Opfer. Das erste gab es vor fünf Tagen. Eine Frau etwa gleichen Alters, die zuhause ermordet wurde, während ihr Mann bei der Arbeit war. Marjorie Hix.“

„Sie sagten, Karen Hopkins arbeitete, als sie ermordet wurde. Was hat sie denn gemacht?“, fragte Kate.

„Nach dem, was ihr Mann sagt, war es kein wirklicher Job. Nur etwas, was sie nebenbei tat, um zusätzliches Geld zu verdienen, damit sie früher in Rente gehen konnten. Online Marketing oder so etwas.“

Kate und DeMarco schauten sich ein Weilchen in dem Arbeitszimmer um. DeMarco untersuchte den Papierkorb beim Schreibtisch und die verschiedenen Papiere, die in einem Korb lagen, der am Rand der Tischplatte stand. Kate suchte mit den Augen den Boden ab. Als sie neben der Vase mit de künstlichen Pflanze stand, berührte sie instinktiv die glatten Zweige. Genau wie sie erwartet hatte, waren sie so weich, dass die Berührung beruhigend wirkte. Sie bemerkte, dass einige der Zweige abgebrochen waren und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder dem Schreibtisch zu.

Respektvoll hielt Bannerman Abstand, ging zwischen dem Schreibtisch und dem Fenster auf und ab und sah in den Garten hinaus, der vor dem Fenster des Arbeitszimmers lag.

Kate stellte fest, dass der Schreibtisch an der Wand stand und nicht unter dem Fenster oder in Richtung des Eingangs. Soweit ihr bekannt war, war dies nicht weiter ungewöhnlich. Es half Menschen, die sich nur schwer konzentrieren konnten, ihre Konzentration über einen längeren Zeitraum zu halten. Allerdings bedeutete dies auch, dass das Opfer die Attacke nicht hatte kommen sehen, bis es zu spät war.

Automatisch verdächtigte sie den Ehemann. Wer auch immer Karen getötet hatte, war leise und unbemerkt ins Haus gekommen.

Oder der Killer war schon hier drinnen gewesen und sie hatte nichts geahnt.

Alle Hinweise wiesen auf den Ehemann. Dies war jedoch eine Sackgasse, denn soweit sie informiert waren, hatte er ein solides Alibi. Natürlich konnte sie sein Alibi noch einmal genauer überprüfen, aber aus Erfahrung wusste sie, dass ein Alibi im Zusammenhang mit der Arbeit für gewöhnlich wasserdicht war.

Bevor sie diese Gedanken gegenüber DeMarco oder Bannerman äußerte, betrat sie den Nebenraum. Um ins Arbeitszimmer zu gelangen, musste man diesen Raum durchqueren. Auf dem Boden lag ein hübscher, orientalischer Teppich. Das Sofa machte den Eindruck, als wurde es kaum benutzt, und das Klavier schien antik zu sein – die Art von Klavier, auf dem nie gespielt wurde, das aber schön anzusehen war.

Im Bücherregal standen verschiedene Titel, die – wie Kate meinte – wahrscheinlich nie geöffnet worden waren … es waren Bücher, die der Dekoration der Regale dienten. Nur am Ende des einen Regals sah sie welche, die augenscheinlich gelesen worden waren: einige Klassiker, ein paar Taschenbuch-Krimis und mehrere Kochbücher.

Sie suchte nach etwas ungewöhnlichem, das ihr ins Auge sprang, entdeckte jedoch nichts. DeMarco kam herein. Auf ihrem Gesicht lag ihr typischer Ausdruck, wenn sie nachdachte. Dann zuckte sie mit den Schultern.

„Was denkst du?“, fragte Kate.

„Ich glaube, wir sollten mit dem Ehemann sprechen. Auch wenn er ein wasserdichtes Alibi hat, kann er uns vielleicht Informationen geben, die uns weiterhelfen.“

Mit vor der Brust verschränkten Armen stand Bannerman im Eingang zu dem Nebenraum. „Wir haben ihn natürlich schon vernommen. Sein Alibi ist in der Tat ziemlich wasserdicht. Neun seiner Mitarbeiter sahen ihn und haben mit ihm gesprochen, während seine Frau ermordet wurde. Er hat jedoch angeboten, jegliche Fragen zu beantworten, die wir haben.“

 

„Wo ist er jetzt?“, fragte Kate.

„Bei seiner Schwester, etwa drei Meilen von hier.“

„Sheriff, haben Sie die Akte hinsichtlich des ersten Opfers?“

„Ja. Wenn Sie möchten, kann ich veranlassen, dass sie Ihnen geemailt wird.“

„Das wäre hilfreich.“

Bannermans Alter brachte Erfahrung mit sich. Ihm war klar, dass die Agents im Haus der Hopkins fertig waren. Ohne, dass sie es ihm sagen mussten, wandte er sich um und ging zur Tür. Kate und DeMarco folgten ihm.

Als sie zu ihren Wagen zurück gingen und Bannerman für seine Hilfe dankten, stand die Sonne am Himmel. Es war kurz nach 8 Uhr morgens und Kate hatte das Gefühl, dass sich in dem Fall schon jetzt etwas rührte.

Sie hoffte, dass das ein gutes Omen war.

Als sie in den Wagen stieg, ignorierte Kate absichtlich die grauen Wolken, die sich weiter hinten am Himmel zusammenzogen.

Kapitel drei

Bannerman hatte den Ehemann schon angerufen und den Besuch der FBI-Agents angekündigt. Als Kate und DeMarco zehn Minuten später das Haus der Schwester erreichten, saß Gerald Hopkins draußen auf der Veranda mit einer Kaffeetasse in der Hand. Kate sah, wie erschöpft der Mann war, als sie die Stufen empor stiegen, um sich vorzustellen. Sie wusste, wie Trauer aussah und sie stand niemandem gut. Aber wenn auch noch Erschöpfung hinzu kam, war es um ein Vielfaches schlimmer.

„Vielen Dank, dass Sie eingewilligt haben, uns zu empfangen, Mr. Hopkins“, sagte Kate.

„Natürlich. Ich tue alles, damit Sie denjenigen finden, der das getan hat.“

Seine Stimme klang schwach und brüchig. Kate konnte sich gut vorstellen, dass er einen Großteil der letzten zwei Tage mit Weinen zugebracht und sehr wenig Schlaf bekommen hatte. Er starrte in seine Kaffeetasse und seinen braunen Augen machten den Anschein, als fielen sie ihm jeden Augenblick zu. Kate meinte, dass der Mann ziemlich gutaussehend war, wenn er nicht den Ausdruck der Trauer trug.

„Ist Ihre Schwester hier?“, fragte DeMarco.

„Ja. Sie ist drinnen und kümmert sich … um die Arrangements.“ Er hielt inne, schien zu versuchen, einen Weinkrampf in Schach zu halten und zuckte dann leicht mit den Schultern. Er nippte an seinem Kaffee und fuhr fort. „Sie macht das toll. Sie kümmert sich um alles und kämpft für mich. Sie hält mir die neugierigen Arschlöcher in dieser Stadt vom Hals.“

„Wir wissen, dass Sie schon mit der Polizei gesprochen haben, deshalb werden wir es kurz machen“, sagte Kate. „Bitte versuchen Sie, uns die letzte Woche mit Karen zu beschreiben. Sind Sie dazu in der Lage?“

Er zuckte abermals mit den Schultern. „Ich würde sagen, es war eine Woche wie jede andere auch. Ich bin zur Arbeit gegangen, sie ist zuhause geblieben. Wenn ich wiederkam, waren wir ein ganz normales, verheiratetes Paar. Wir hatten unsere Gewohnheiten … langweilig, könnte man fast sagen. Einige Leute würden es vielleicht eine Sackgasse nennen.“

„Irgendetwas Schlimmes?“, hakte Kate nach.

„Nein. Es ist nur … ich weiß auch nicht. Während der letzten Jahre, seit alle Kinder ausgezogen sind, haben wir uns weniger Mühe gegeben. Wir haben uns noch immer geliebt, aber es war einfach öde. Langweilig, verstehen Sie?“

Hier seufzte er und zuckte nochmals mit den Schultern. „Ach Scheiße. Die Kinder. Sie sind jetzt alle auf dem Weg hierher. Henry, unser Ältester, sollte innerhalb der nächsten Stunde hier sein. Und dann muss ich … muss ich erklären …“

Er ließ den Kopf sinken und gab ein verzweifeltes Seufzen von sich, das in einen schluckaufartigen Weinkrampf überging. Kate und DeMarco traten einen Schritt zurück, um ihm etwas Raum zu geben. Es dauerte fast zwei Minuten, bis er sich wieder gefangen hatte. Als er soweit war, wischte er sich über die Augen und blickte entschuldigend auf.

„Lassen Sie sich Zeit“, sagte Kate.

„Nein, ist schon in Ordnung. Ich wünschte nur, ich wäre gegen Ende ein besserer Ehemann gewesen, wissen Sie? Ich war zwar immer da, aber ich war nicht wirklich da. Ich glaube, sie hat sich einsam gefühlt. Tatsächlich weiß ich, dass sie sich einsam gefühlt hat. Ich wollte mir aber keine Mühe mehr geben. Ist das nicht das Allerletzte?“

„Wissen Sie von irgendjemanden, mit dem sie sich in den letzten Tagen getroffen hat?“, fragte Kate. „Hatte sie irgendwelche Treffen oder Termine, sowas in der Art?“

„Keine Ahnung. Karen stand sozusagen dem Haushalt vor. Ich weiß nicht einmal, was in meinem eigenen Haus los war … oder in meinem eigenen beschissen Leben. Sie hat sich um alles gekümmert. Hat die Rechnungen bezahlt und sich um die Konten gekümmert, hat die Termine gemacht, die Kalender geführt, sich um das Essen gekümmert, hat ihren verdammten Gemüsegarten angepflanzt, hatte die Geburtstage der Familienmitglieder im Blick und wusste, wann man sich traf. Ich habe mich um gar nichts gekümmert.“

„Wäre es in Ordnung, wenn wir Einsicht in die Kalender nehmen?“, fragte DeMarco.

„Was immer Sie benötigen. Egal was. Bannerman und seine Leute haben schon Zugriff auf unsere synchronisierten Kalender. Die waren auf unseren Handys. Er kann Sie einloggen.“

„Vielen Dank, Mr. Hopkins. Wir lassen Sie jetzt in Frieden, aber bitte … wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, was von Interesse sein könnte, dann setzen Sie sich bitte mit Sheriff Bannerman oder mit uns in Verbindung.“

Er nickte, aber es war offensichtlich, dass die nächste Tränenflut im Begriff war, jeden Moment loszubrechen.

Kate und DeMarco verabschiedeten sich und gingen zurück zu ihrem Wagen. Sehr erkenntnisreich war diese Unterhaltung nicht gewesen, Kate war jedoch nun überzeugt, dass Gerald Hopkins seine Frau nicht umgebracht hatte. Solch eine Trauer konnte man nicht vorspielen. Während ihrer Karriere hatte sie mehr als genug Männer erlebt, die genau das versucht hatten, und es war nie authentisch gewesen. Gerald Hopkins war außer sich vor Trauer, und er tat ihr unendlich leid.

„Nächster Stop?“, fragte DeMarco, als sie sich hinter das Lenkrad setzte.

„Ich möchte noch einmal zu dem Hopkins-Haus fahren … und vielleicht mit den Nachbarn sprechen. Er hat den kleinen Gemüsegarten erwähnt, den sie angelegt hatte, direkt unter dem Fenster des Arbeitszimmers. Da ist ein Nachbar in Sichtweite dieses Fensters. Es ist zwar nur ein Versuch, aber vielleicht lohnt es sich.“

DeMarco nickte und ließ den Wagen an. Während sie wieder zum Haus der Hopkins fuhren, brauten sich die ersten Sturmwolken zusammen und verdeckten die Sonne.

* * *

Sie begannen mit dem Nachbarn, der auf der rechten Seite der Hopkins wohnte. Sie klopften an die Haustür, doch nichts rührte sich. Nach dreißig Sekunden klopfte Kate erneut, aber das Ergebnis war das gleiche.

„Weißt du“, begann Kate, „wenn man in solchen Nachbarschaften lange genug sein Glück versucht, ist am Ende mindestens ein Teil der Bewohner zuhause.“

Sie klopfte nochmals und als noch immer niemand öffnete, gaben sie auf und durchquerten den Garten der Hopkins, um es bei dem Nachbarn auf der anderen Seite zu versuchen. Kate spähte über den Rasen, der zwischen den Häusern lag. Sie konnte gerade so eben das Haus sehen, dass man auch von Karen Hopkins‘ Arbeitszimmerfenster aus sehen konnte. Es war die Rückseite dieses Hauses. Die Vorderseite des Hauses lag allem Anschein nach an einer Straße, die von der der Hopkins abzweigte.

Als sie zu dem Haus links von den der Hopkins gingen, trafen Kate die ersten Regentropfen. Sie wollte gerade die Treppe hinauf steigen, als sie spürte, wie ihr Handy in ihrer Tasche summte. Sie zog es hervor und überprüfte das Display. Es war Melissa. Leichte Schuldgefühle überkamen sie. Sie war sicher, dass ihre Tochter anrief, um ihrem Ärger Luft zu machen, weil sie Michelle gestern Abend in Alans Obhut gelassen hatte. Und jetzt, wo Kate zu ihrer Entscheidung ein wenig Abstand gewonnen hatte, meinte sie, dass Melissa durchaus das Recht hatte, sauer zu sein.

Allerdings war dies kein Gespräch, das sie genau jetzt – wo sie die Stufen zum Nachbarhaus hinauf stiegen – führen wollte. Diesmal klopfte DeMarco an. Fast sofort wurde die Tür von einer jung aussehenden Frau geöffnet, die ein sechszehn oder achtzehn Monate altes Baby auf dem Arm hatte.

„Hallo?“, fragte die junge Frau.

„Hallo. Wir sind Agents Wise und DeMarco vom FBI. Wir ermitteln im Mord an Karen Hopkins und hatten gehofft, Informationen von den Nachbarn zu bekommen.“

„Nun ja, ich bin genau genommen keine Nachbarin“, sagte die junge Frau. „Aber so etwas Ähnliches. Ich bin Lily Harbor, die Nanny von Barry und Jan Devos.“

„Kannten Sie das Ehepaar Hopkins gut?“, fragte DeMarco.

„Eigentlich nicht. Wir waren zwar per Du und haben uns beim Vornamen genannt, aber ich habe nicht öfter als vielleicht ein- oder zweimal die Woche mit ihnen gesprochen. Und selbst dann hat man sich nur gegrüßt, wenn man sich zufällig begegnete.“

„Haben Sie sich ein Bild davon machen können, was für Leute sie waren?“

„Anständig, meiner Meinung nach.“ Sie hielt inne, da der kleine Junge auf ihrem Arm begann, an ihren Haaren zu ziehen und ein wenig zu jammern. „Aber wie ich schon sagte, ich kannte sie nicht besonders gut.“

„Kennen die Devos‘ sie gut?“

„Ich denke schon. Barry und Gerald leihen sich hin und wieder Dinge voneinander aus. Benzin für den Rasenmäher, Grillkohle, solche Sachen. Aber ich glaube nicht, dass sie wirklich Zeit miteinander verbringen. Sie sind höflich zueinander, aber befreundet sind sie nicht.“

„Wissen Sie von irgendjemandem hier in der Gegend, der sie gut kannte?“, fragte Kate.

„Nein, eigentlich nicht. Die Leute hier legen Wert auf ihre Privatsphäre. Hier gibt es keine Nachbarschaftspartys, wissen Sie? Aber … ich fühle mich ein wenig schlecht, dies zu sagen, aber dennoch … wenn Sie irgendetwas wissen möchten über die Leute aus der Gegend, egal über wen, dann sollten Sie vielleicht mit Mrs. Patterson sprechen.“

„Und wer ist das?“

„Sie wohnt in der nächsten Straße. Von den Devos aus können wir ihr Haus sehen. Ich bin mir sicher, dass man es auch von der hinteren Veranda der Hopkins aus sehen kann.“

„Wie lautet die Adresse?“

„Das weiß ich nicht genau. Aber es ist ganz leicht zu finden. Draußen auf der Veranda hat sie überall diese unheimlich aussehenden Katzenstatuen stehen.“

„Glauben Sie, dass sie uns behilflich sein kann?“, fragte DeMarco.

„Ja, ich glaube, sie könnte am ehesten helfen. Ich bin nicht sicher, inwieweit ihre Informationen der Wahrheit entsprechen, aber man kann nie wissen …“

„Danke, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben“, sagte Kate. Sie lächelte den kleinen Jungen kurz an, wodurch ihr klar wurde, wie sehr sie Michelle vermisste. Es erinnerte sie auch daran, dass auf ihrem Handy höchstwahrscheinlich eine wütende Sprachnachricht ihrer Tochter auf sie wartete.

Kate und DeMarco gingen zurück zum Wagen. Als sie eingestiegen und auf die Straße zurücksetzten, hatte es schon angefangen, stärker zu regnen.

„Ich glaube, dass Mrs. Patterson, die in einem Haus lebt, das man von den Devos‘ aus sieht, aller Wahrscheinlichkeit nach die Person ist, die ich aus Karen Hopkins‘ Arbeitszimmerfenster gesehen habe“, meinte Kate. „All diese Gärten, die nur durch Zäune voneinander getrennt sind … ein Paradies für eine neugierige alte Dame.“

„Also“, sagte DeMarco, „dann lass uns mal sehen, was Mrs. Patterson in den letzten Tagen so getrieben hat.“

* * *

Kate konnte einfach nicht anders, sie sah sofort, wie sich Mrs. Pattersons Augen weiteten, als ihr klar wurde, dass zwei FBI-Agents auf ihrer Veranda standen. In ihrem Gesicht stand jedoch kein Ausdruck der Angst, sondern der von Aufregung. Kate stellte sich vor, wie die alte Dame schon überlegte, wie sie ihren Freundinnen brühwarm davon erzählte.

„Ich habe alles darüber gehört, was Karen passiert ist, jawohl, das habe ich“, sagte Mrs. Patterson auf eine Art und Weise, als sei dies ein Beweis der Ehre. „Die Arme … sie war so eine charmante und nette Frau.“

„Dann kannten Sie sie?“, fragte Kate.

„Ja, ein wenig“, antwortete Mrs. Patterson. „Aber bitte … kommen Sie doch herein.“

Sie führte Kate und DeMarco ins Haus. Während sie hinein gingen, musterte Kate die zahlreichen Dinge, aufgrund derer sie das richtige Haus gefunden hatten. Acht verschiedene Katzenstatuen waren auf der Veranda versammelt; Gegenstände, die aussahen, als kämen sie direkt vom Flohmarkt. Einige von ihnen sahen wirklich unheimlich aus, genau wie Lily Harbor gesagt hatte.

Mrs. Patterson ging mit ihnen ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief. Über den Bildschirm flimmerte Good Morning America. Der Ton war leise gestellt. Daraus leitete Kate ab, dass Mrs. Patterson eine Witwe war, die sich nicht an das Alleinsein gewöhnen konnte. Sie hatte einmal gelesen, dass ältere Leute, die einen Ehepartner verloren hatten, dazu neigten, immer den Fernseher oder das Radio laufen zu haben, damit ihr Haus lebendiger erschien.

 

Als Kate sich in einem Sessel niederließ, fiel ihr Blick aus dem Wohnzimmerfenster an der Ostseite des Hauses. Sie konnte die Straße sehen und versuchte, das Layout des Gartens und der Straße zu schätzen. Sie war sich sicher, dass sie sich tatsächlich in dem Haus befanden, das sie von Karen Hopkins‘ Arbeitszimmerfenster aus gesehen hatte.

„Mrs. Patterson, ich habe eine Frage“, begann Kate. „Als wir im Haus der Hopkins waren, habe ich aus Karens Fenster gesehen und konnte ein Haus am rechten Rand ihres Gartens sehen. Das war Ihr Haus, richtig?“

„Ja, das ist richtig“, sagte Mrs. Patterson mit einem Lächeln.

„Sie sagten, Sie kennen die Hopkins‘ ein wenig. Könnten Sie das bitte genauer ausführen?“

„Natürlich, gerne! Von Zeit zu Zeit fragte mich Karen hinsichtlich ihres kleinen Gemüsegartens um Rat. Sie hat einen direkt unter ihrem Fenster angelegt, wissen Sie. Viel hat sie darin nicht gepflanzt, nur Kräuter, die sie zum Kochen verwendete: Basilikum, Rosmarin, ein wenig Koriander. Ich hatte immer einen grünen Daumen. Das wissen alle hier in der Nachbarschaft, deshalb bitten sie mich für gewöhnlich um Rat. Ich habe natürlich einen eigenen Gemüsegarten, hinterm Haus … falls Sie ihn sehen wollen?“

„Nein, vielen Dank“, sagte DeMarco höflich. „Wir sind ein bisschen in Zeitdruck. Wir möchten nur, dass Sie uns erzählen, was Sie über die Hopkins wissen. Erschienen sie glücklich, wenn Sie sie sahen?“

„Ich finde schon. Gerald kenne ich nicht allzu gut. Aber hin und wieder sah ich sie zusammen hinten auf der Veranda sitzen. Vor kurzem erst sah ich sie sogar Händchen halten. Das war wirklich herzerwärmend. Ihre Kinder sind alle erwachsen und aus dem Haus, das wissen Sie wahrscheinlich. Ich habe mir vorgestellt, wie sie vielleicht über ihre Pläne für die Rentenjahre sprechen, oder Reisepläne schmieden.“

„Hatten Sie jemals die Vermutung, dass die beiden Probleme miteinander hatten?“, fragte Kate.

„Nein. Ich habe nie etwas gesehen oder gehört, was darauf hingewiesen hätte. Soweit ich weiß, waren sie ein durchschnittliches Ehepaar. Aber ich glaube, dass jedes Ehepaar vielleicht Probleme hat, wenn die Kinder erst einmal aus dem Haus sind. Das ist wahrlich nicht ungewöhnlich, wissen Sie?“

„Haben Sie einen von ihnen innerhalb der letzten Woche gesehen?“

„Ja. Ich habe Karen gesehen, die in ihrem Gärtchen etwas schnitt. Das ist etwa vier oder fünf Tage her. Genauer kann ich es nicht sagen. Ich werde dieses Jahr vierundsiebzig und mein Gedächtnis lässt mich manchmal im Stich.“

„Haben Sie mit ihr gesprochen?“

„Nein. Aber da war etwas, was mir gestern wieder eingefallen ist … ich hatte es nicht wirklich vergessen, aber ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Und um ehrlich zu sein… ich weiß nicht einmal, an welchem Tag es war, deshalb …“

„An welchem Tag was war?“, hakte DeMarco nach.

„Nun ja, ich glaube, es war am Dienstag … soweit ich weiß, war das der Tag, an dem Karen ermordet wurde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich jemanden im Garten hinter dem Haus habe herumlaufen sehen. Einen Mann. Und es war nicht Gerald Hopkins.“

„Hatten Sie den Eindruck, dass dieser Mann versuchte, einzubrechen?“, fragte Kate.

„Nein. Er bewegte sich, als gehöre er dorthin, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er lief herum, als sei er eingeladen. Er trug eine Art von Anzug oder eine Uniform. Mit einem kleinen Logo genau hier“, und die tippte sich auf eine Stelle oberhalb der linken Brust, um zu veranschaulichen, wovon sie genau sprach.

„Haben Sie dieses Logo genauer erkennen können?“

„Nein. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es überwiegend weiß und in etwa sternförmig war. Aber vielleicht habe ich auch unrecht … meine Augen sind nicht mehr die besten.“

„Aber wirklich gesprochen haben Sie mit keinem der Hopkins in der letzten Woche?“

„Nein. Zum letzten Mal habe ich mit Karen gesprochen, als sie herüber kam, um mich nach dem Rezept meiner Ananastorte zu fragen. Und das ist fast drei Wochen her, würde ich sagen.“

Kate zerbrach sich den Kopf darüber, was für andere Ansätze es noch geben könnte, bei denen Mrs. Patterson für sie von Nutzen war, aber ihr fiel nichts ein. Allerdings hatten sie jetzt diesen Mann in Uniform zu überprüfen, also war das Gespräch nicht vollends vergebens gewesen.

„Mrs. Patterson, herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit uns zu sprechen. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte bei der Polizei. Sie kann Ihre Nachricht an uns weiterleiten.“

„Jetzt muss ich Sie doch fragen … denn jetzt, wo das FBI involviert ist, kann man davon ausgehen, dass dieser Mord mit dem vorherigen zusammenhängt? Vor … einer Woche, meine ich, war das. Ich glaube, sie hieß Marjorie Hix.“

„Genau das versuchen wir herauszufinden“, antwortete Kate. „Kannten Sie zufällig auch Marjorie Hix?“

„Nein. Ich hatte noch nie ihren Namen gehört, wirklich nicht. Bis eine meiner Freundinnen mir erzählte, was passiert war.“

Kate nickte und ging Richtung Haustür. „Nochmals danke für Ihre Zeit.“

DeMarco gesellte sich zu ihr und gemeinsam verließen sie das Haus. Draußen regnete es jetzt stärker, obwohl hier und da noch ein Sonnenstrahl durchbrach.

Fast hätte Kate ihr Handy gezückt, um zu prüfen, ob Melissa ihre eine Sprachnachricht hinterlassen hatte, besann sich dann aber eines Besseren. Das einzige, was dies nach sich zöge, wäre, dass sie sich wegen einer weiteren Sache gestresst fühlte. Und wenn sie nicht lernte, ihr Privatleben von ihrem Berufsleben zu trennen, konnte sie genauso gut jetzt sofort ihre Waffe und ihre FBI-Marke abgeben.

Sie hasste sich ein wenig selbst dafür, aber als sie zum Wagen gingen, verdrängte sie Melissa aus ihren Gedanken.

Im Hinterkopf vernahm sie eine Geisterstimme, die ihre Gedanken heimsuchte. Weißt du noch, was passiert ist, als du Melissa früher aus deinen Gedanken verbannt hast? Es hat verdammt lange gedauert, bis der Schaden wieder repariert war. Willst du all das wirklich noch einmal durchmachen?

Nein, das wollte sie nicht. Vielleicht kämpfte sie deshalb mit den Tränen, als DeMarco von Mrs. Pattersons Auffahrt zurücksetzte.