Vermisst

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Jenn schaute von den Fotos auf und sah den älteren Polizeichef an.

Sie fragte ihn: „Was ist über das erste Opfer bekannt?“

Chief Kree sagte: „Sein Name war Justin Selves und er arbeitete als Kundenberater in einer Bank in Petersboro. Sein Sohn ist eines Nachmittags vor ein paar Wochen nach Hause gekommen und hatte seinen Vater direkt in der Eingangstür tot vorgefunden.“

Jenn fragte: „Gab es irgendwelche Anhaltspunkte für einen Einbruch?“

Kree sagte: „Nein, es sieht danach aus, als hätte Selves einfach die Tür geöffnet, als der Mörder angeklopft oder geklingelt hatte. Dann trat der Mörder ein und vollbrachte seine Tat an Ort und Stelle.“

Riley zeigte auf ein Foto, das einen Blutfleck auf einem Türrahmen zeigte und sagte: „Es sieht so aus, als wäre er bewusstlos geschlagen worden, genau wie das Opfer hier.“

Kree nickte: „Ja, er war vermutlich mit dem Kopf gegen den Türrahmen gestoßen worden, wahrscheinlich als die Tür geschlossen war.“

Während Jenn mit der Befragung der beiden Chiefs fortfuhr, stand Riley einen Moment da und starrte auf den abgeklebten Umriss auf dem Boden. Ihre größte Stärke als Agentin war ihre beinahe unheimliche Fähigkeit in die Gedanken eines Mörders vorzudringen, während sie den Tatort untersuchte. Doch das passierte nicht immer, und gerade jetzt geschah gar nichts. Bisher blieben ihre Gedanken leer.

Jenn erschien nun durchaus engagiert und fragte die zwei Polizeichefs alle erforderlichen Routinefragen ab. Riley wusste, dass es unwahrscheinlich war, dass Jenn irgendwelche vielversprechenden Antworten bekommen würde. Riley beschloss, dass sie sich in diesem Moment genauso gut im Haus umsehen konnte, um zu versuchen irgendeine Art intuitiver Eingebung darüber zu bekommen, was hier vorgefallen war.

Während Riley im Erdgeschoss umherwanderte, spähte sie hinab in den Keller, in dem sich augenscheinlich ein großer Hobbyraum befand. Sie ging weiter durch ein Frühstückszimmer und ein großes Wohnzimmer mit einem schönen Kamin. Auf dem Klavier und anderorts waren mehrere Familienfotos aufgestellt – alle bildeten die Mutter und die vier Kinder im unterschiedlichen Alter ab, doch keins davon zeigte ihren Ex-Mann.

Nicht gerade überraschend, dachte Riley.

Sie hatte auch keine Fotos von Ryan in ihrem eigenen Haus stehen.

Riley stieg hinauf in den ersten und zweiten Stock, wo sie feststellte, dass die Kinderzimmer seit den Jugendjahren der Kinder wohl ziemlich unverändert beibehalten worden waren.

Sie dachte an die von Chief Shore erwähnte Tochter, die in der Nähe lebte und das Opfer regelmäßig besucht hatte, und die auch die Leiche entdeckt hatte. Riley fragte sich, wie oft die Ermordete wohl ihre anderen Kinder gesehen hatte, nachdem sie erwachsen geworden und ausgezogen waren. Sie bezweifelte, dass in einer zerbrochenen Familie wie dieser, alle Familienmitglieder regelmäßig aufeinandertrafen.

Es war ein trauriger Gedanke. Obwohl das Haus um einiges größer war als Rileys eigenes Haus, fragte sie sich trotzdem: Wie wird es wohl sein, wenn April und Jilly weg sind?

Würden sie beide weit wegziehen und selten zu Besuch kommen?

Und natürlich würde auch Gabriela nicht ewig da sein.

Wie würde Rileys Leben dann aussehen?

Würde sie sich allein und vergessen fühlen?

Falls ihr zuhause etwas schreckliches passieren würde, wie lange würde es dauern, bis irgendjemand mal vorbeischaute und es feststellte?

Riley war nun wieder im Erdgeschoss und schaute ins Esszimmer hinein. Erneut kam ihr der kleine quadratische Esstisch mit seinen drei Stühlen viel zu klein für den Raum vor. Und erneut war es ein merkwürdig beunruhigender Anblick für Riley. Sie war sich sicher, dass er gekauft worden war, um einen viel größeren Tisch zu ersetzen, der zu viele Erinnerungen beherbergte, als dass Joan Cornell damit hatte leben können.

Riley spürte, dass sie einen Kloß im Hals hatte, als sie über Joan Cornells einsame Existenz nachdachte – und darüber, wie schrecklich ihr Leben geendet war.

Ihre Gedanken wurden von Jenns scharfer Stimme unterbrochen, als diese sagte: „Sie wissen nicht, wovon Sie sprechen.“

Riley drehte sich um und sah, dass Jenn eine hitzige Diskussion mit Chief Shore führte, während sein älterer Kollege dastand und die beiden amüsiert beobachtete.

„Hier gab es keinen Kampf“, fuhr Jenn fort und lief in der Küche auf und ab. „Es gibt keinerlei Anzeichen eines Kampfes, überhaupt keine Beschädigungen von irgendwelchen Gegenständen in der Küche. Der Mörder hat sie komplett überrascht. Er hat sie plötzlich ergriffen – an den Haaren vielleicht – und hat ihren Kopf hier gegen den Tresen gerammt. Dann schnitt er ihr die Kehle durch. Sie hatte nicht einmal begriffen, was passiert war.“

„Aber wie —?“, begann Chief Shore etwa.

Jenn unterbrach ihn: „Wie hat er es getan? Vielleicht so.“

Jenn ging um den Tresen und stellte sich auf die Seite in Rileys Nähe, welche ins Esszimmer hinausragte.

Jenn sagte: „Er hätte genau hier stehen können, wo ich stehe. Vielleicht hat er das Opfer um ein Glas Wasser gebeten. Sie ging rüber in den Küchenbereich und er griff über den Tresen und…“

Sie spielte nach wie der Mörder die Frau an den Haaren gegriffen haben und ihren Kopf vorgezogen haben könnte, bevor er ihn gegen den Tresen schmetterte.

„Genauso ist es passiert, könnte ich wetten“, sagte Jenn. „Sie sollten den Gerichtsmediziner bitten, die Kopfhaut des Opfers genauer zu untersuchen, um zu sehen, ob ihr Haare ausgerissen wurden.“

Chief Shore blinzelte und sagte: „Was wollen Sie damit sagen? Dass das Opfer ihren Mörder gekannt hatte? Dass sie ihm vertraute?“

Jenn antwortete ungeduldig: „Ich weiß es nicht. Vielleicht ist das etwas, was sie versuchen sollten herauszubekommen. Vielleicht sollten sie in diese Richtung ermitteln.“

Der beißende Sarkasmus in Jenns Stimme alarmierte Riley. Sie hatte dieses Verhalten auch früher bei Jenn beobachtet und es war natürlich keine gute Art die Zusammenarbeit mit der lokalen Polizei zu beginnen. Riley wusste, dass sie das sofort unterbinden musste.

Bevor ihre jüngere Partnerin noch etwas sagen konnte, melde Riley sich scharf zu Wort: „Agentin Roston.“

Jenn drehte sich mit einem überraschten Gesichtsausdruck zu ihr hin.

Riley versuchte so zu tun, als würde sie das Gespräch nicht absichtlich unterbrechen und sagte zu ihr: „Ich denke, wir haben alles was wir brauchen gesehen. Gehen wir.“

Dann sagte Riley zu Chief Shore: „Ich würde gerne die Tochter des Opfers befragen – diejenige, die die Leiche entdeckt hat. Wissen Sie, wo ich sie finden kann?“

Shore nickte und sagte: “Sie hat mir gestern gesagt, dass sie heute zuhause bleiben wird. Ich kann Ihnen ihre Adresse und eine Anfahrtsbeschreibung geben.“

Riley hörte ihm zu und notierte die Adresse und die Wegbeschreibung. Sie tauschte Nummern mit den Polizisten aus, damit sie alle im engen Kontakt bleiben konnten. Dann dankte Riley ihnen für ihre Hilfe und sie und Jenn verließen das Haus.

Als sie zu ihrem Leihfahrzeug liefen, fauchte Riley Jenn an: „Was sollte denn das eben werden?“

Jenn knurrte: „Ich wollte nur was klarstellen, sonst nichts. Die zwei Kerle haben keine Ahnung. Sie sollten in der Lage sein den Fall ganz alleine noch vor Tagesende zu lösen. Sie sollten unsere Hilfe gar nicht brauchen. Wir verschwenden hier nur Zeit und Steuergelder.“

„Wir sind die Verhaltensanalyseeinheit“, sagte Riley. „Der lokalen Polizei zu helfen ist ein großer Teil unserer Arbeit.“

„Ja, in ernsten Fällen, zum Beispiel bei echten Serienmördern“, sagte Jenn. „Das ist kein solcher Fall und ich denke wir wissen das beide. Es ist nur ein dummer Einbrecher, der sich verzetteln und auffliegen wird, noch bevor er es schafft, weiteren Schaden anzurichten.“

Als sie ins Auto stiegen und Riley den Zündschlüssel drehte, riss sie sich zusammen, um nicht zu sagen: „Ich weiß nicht, ob das stimmt.“

In Wirklichkeit hatte sie ein ziemlich starkes Gefühl, dass die zwei Morde bloß der Anfang von einer richtig grässlichen Geschichte waren.

Kapitel vier

Während Riley durch Springett fuhr, entschloss sie sich direkt zu sein. Sie sagte Jenn: „Du hast uns womöglich einen Rückschlag beschert.“

Jenn knurrte etwas unverständliches vor sich hin.

„Wir sind hier, um der örtlichen Polizei zu helfen, nicht um mit ihr zu streiten“, sagte Riley. „Gegenseitiges Vertrauen zu wahren kann unter den besten Umständen schwierig sein. Und es ist verdammt wichtig. Du hast die Grenze vorhin total überschritten.“

„Komm schon, Riley“, antwortete Jenn ungeduldig. „Shore hat sich klar geirrt darüber, was passiert ist. Hast du irgendwelche Spuren von einem Kampf in dieser Küche gesehen?“

„Das ist nicht der Punkt“, sagte Riley. „Wir müssen trotzdem mit ihnen zusammenarbeiten. Und außerdem, deinen eigenen Beobachtungen zufolge denke ich, dass deine Schlüsse falsch sind.“

„Ja? Wieso?“

Riley zuckte mit den Schultern. „Du hast selbst gesagt, dass der Mörder schnell reagiert hat und Joan Cornell komplett aus heiterem Himmel übermannt hat. Es ist wahrscheinlich genau so passiert, wie du gesagt hast. Er griff über den Tresen, nahm sie am Schopf und knallten ihren Kopf gegen die Platte.“

Sie folgte Chief Shores Wegbeschreibung und bog an einer Ampel ab. „Dann ging er hinter den Tresen“, fuhr sie fort, „und schnitt ihr die Kehle durch, als sie bewusstlos war. Und den Fotos vom Tatort in Petersboro nach zu urteilen, hat er Justin Selves auf die ziemlich gleiche Art und Weise umgebracht, überraschend und effizient. Wirkt das wirklich wie ein schiefgelaufener Einbruch auf dich?“

„Nein“, grummelte Jenn.

„Auf mich auch nicht“, sagte Riley. „Eigentlich wirkt es ziemlich kaltblütig, sogar vorsätzlich.“

Während Riley durch die wohlhabende Nachbarschaft fuhr, stellte sich ein Schweigen zwischen ihnen ein. Rileys Besorgnis wuchs.

 

Endlich sagte sie: „Jenn, ich habe dich vorhin gefragt und ich muss es dich nun noch mal fragen. Stimmt irgendetwas nicht, worüber ich Bescheid wissen sollte?“

„Was sollte nicht stimmen?“, sagte Jenn.

Riley verzog die Miene, als sie dieselbe ausweichende Antwort wie zuvor erhielt.

Ich sollte einfach direkt zum Punkt kommen, dachte sie.

„Hat dich Tante Cora kontaktiert?“, fragte sie.

Es war still, als Jenn sich zu Riley drehte und sie anstarrte.

„Was für eine Frage ist das denn?“, fragte Jenn.

Riley sagte: „Eine, die leicht zu beantworten ist, so eine Frage ist das. Ja oder nein. Entweder hast du von ihr gehört oder du hast es nicht.“

Sie spürte, dass Jenn kurz davor war zu protestieren und fügte hinzu: „Und sag mir nicht, dass es mich nichts angeht. Du und ich, wir wissen Dinge über einander, von denen wir vorziehen würden, dass sie sonst niemand weiß. Wir müssen beide über alles offen und ehrlich sprechen. Und du bist meine Partnerin und irgendetwas scheint dich zu bedrücken. Ich mache mir Sorgen, dass es deine Arbeit beeinflussen könnte. Somit geht es mich etwas an.“

Jenn starrte einen Moment lang zur Straße hinaus.

„Nein“, sagte sie endlich.

„Du meinst, nein, sie hat dich nicht kontaktiert?“, sagte Riley.

„Genau so ist es“, sagte Jenn.

„Und du würdest es mir sagen, wenn sie es hätte?“

Jenn schnaubte leicht entrüstet.

„Natürlich würde ich das“, sagte sie. „Du weißt, dass ich es tun würde. Wie kannst du was anderes denken?“

„Ok“, sagte Riley.

Sie schwiegen wieder und Riley fuhr weiter. Sie hatte das Gefühl, dass Jenn ganz aufrichtig geklungen hatte und sogar ein bisschen verletzt davon war, dass Riley sie anzweifeln konnte. Riley wollte ihr vertrauen. Doch trotz allem, was Jenn in ihrem jungen Leben erreicht hatte, war es schwer die Tatsache zu ignorieren, dass sie einst Schülerin einer Meisterkriminellen war.

Aber vielleicht reagiere ich zu übertrieben.

Erneut rief sie sich all das ins Gedächtnis, was gestern zuhause vorgefallen war. Nach Aprils Nachlässigkeit mit der Pistole, war Riley einfach nicht in einer sehr vertrauensvollen Stimmung. Vielleicht ließ sie gerade zu, dass ihre eigene schlechte Laune sie vereinnahmte. Sie sagte sich: Werde jetzt bloß nicht paranoid.

Trotzdem dachte sie, dass sie vielleicht darauf hätte bestehen müssen, Bill mitzunehmen, als Meredith sie angerufen hatte. Sie war sich sicher, dass Bill sehr viel schlimmere Krisen erlebt hatte, als die, die er gerade durchmachte. Bestimmt hätte er auch diese hier hinter sich lassen können, wenn Riley darauf bestanden hätte. Er war ihr ältester und bester Freund. Mit ihm an ihrer Seite fühlte Riley sich immer sicherer und stabiler.

Doch so wie die Dinge standen, musste sie einfach das Beste aus dem machen, was sie hatte.

Bald darauf kamen sie an der Adresse an, die man ihnen gegeben hatte. Riley parkte das Auto vor einem alten und eleganten Wohnhaus aus rotem Backstein. Sie stiegen aus dem Auto, liefen zum Eingang und klingelten bei der entsprechenden Wohnungsnummer. Als eine Frauenstimme sich über die Gegensprechanlage meldete, sagte Riley: „Ms. Tovar, ich bin Agentin Riley Paige vom FBI und hier mit meiner Partnerin, Jenn Roston. Wir würden gerne reinkommen und mit Ihnen sprechen, wenn sie nichts dagegen haben.“

Die Stimme stammelte: „FBI? Ich – ich hatte nicht erwartet…“

Nach einer Pause drückte die Frau den Buzzer und ließ Riley und Jenn rein. Riley und Jenn stiegen die Treppen hoch in den zweiten Stock und klopften an die Wohnungstür. Die Tür ging auf und brachte eine Frau Mitte Zwanzig zum Vorschein, die vor ihnen in einem Morgenmantel und Hausschuhen stand. Von Lori Tovars ausgemergeltem Gesicht konnte Riley nicht ablesen, ob sie bis vor kurzem geschlafen oder geweint hatte. Die Frau warf nicht mal einen richtigen Blick auf ihre Ausweise, dann bat sie Riley und Jenn einzutreten und sich zu setzen.

Als sie zu einer Sitzgruppe aus Sofas und Sesseln hinüberschritten, schaute Riley sich in der geräumigen Wohnung um. Im Gegensatz zum ehrwürdigen äußeren Erscheinungsbild des Hauses, was das Interieur der Wohnung schnittig und modern und es war offensichtlich, dass die Wohnung vor einigen Jahren saniert worden war.

Ebenso kam Riley die Wohnung merkwürdig leer und streng vor. Das Mobiliar sah teuer und geschmackvoll einfach aus, doch es gab nicht viel davon, und auch gab es nur wenige Bilder oder Dekorationen. Alles schien so…

Vorläufig, dachte Riley.

Es fühlte sich beinahe so an, als wären die Menschen, die hier lebten, nie wirklich angekommen.

Als Lori Tovar sich gegenüber von Riley und Jenn setzte, sagte sie: „Die Polizei hat mir so viele Fragen gestellt. Ich habe ihnen alles gesagt, was ich wusste. Ich kann mir nicht vorstellen…was Sie noch von mir wissen wollen könnten.“

„Lassen sie uns ganz am Anfang beginnen“, sagte Riley. „Wie haben Sie herausgefunden, was ihrer Mutter zugestoßen ist?“

Lori holte abrupt Luft.

Sie sagte: „Es war gestern, am späten Nachmittag. Ich bin einfach vorbeigekommen, um nach ihr zu schauen.“

„Haben Sie sie oft besucht?“, fragte Jenn.

Lori seufzte und sagte: „So oft es ging. Ich – Ich war so ziemlich die Einzige, die sie noch hatte. Dad hat sie vor ein paar Jahren verlassen und meine Brüder und Schwester leben alle zu weit weg. Gestern bin ich früh aus der Arbeit rausgekommen – ich bin eine Krankenschwester im South Hill Krankenhaus hier in Springett – also beschloss ich vorbeizufahren und zu sehen, wie es ihr geht. In letzter Zeit war sie ziemlich traurig.“

Lori starrte einen Moment lang ins Leere und fuhr dann fort: „Als ich dort angekommen war, habe ich die Haustür unverschlossen vorgefunden, was mich besorgte. Dann ging ich rein.“

Sie verstummte. Riley lehnte sich ein wenig zu ihr vor und sagte mit sanfter Stimme: „Haben Sie sie sofort entdeckt? Sobald Sie ins Haus gekommen sind, meine ich?“

„Nein“, sagte Lori. „Ich habe nach ihr gerufen, als ich reinkam, aber sie antwortete mir nicht. Ich bin hochgegangen, um zu schauen, ob sie ein Nickerchen machte, aber sie war nicht in ihrem Schlafzimmer. Ich habe gedacht – gehofft – dass sie mit ihren Freunden ausgegangen war. Ich bin wieder runtergekommen und…“

Lori runzelte nachdenklich die Stirn.

„Ich schaute ins Esszimmer und bemerkte, dass einer der Esstischstühle weg war. Das erschien mir merkwürdig. Ich habe einen Fleck am Küchentresen bemerkt und habe in die Küche geschaut und…“

Sie zuckte heftig zusammen und sprach angespannt weiter.

„Und dort lag sie auf dem Boden. Was danach geschah ist wie im Traum. Ich erinnere mich vage daran, den Notruf gewählt zu haben, dann gefühlt eine sehr lange Zeit gewartet zu haben, obwohl es wahrscheinlich nur ein paar Minuten waren. Dann war die Polizei da und…“

Ihre Stimme verstummte erneut.

Dann sprach sie ruhiger und sagte: „Ich weiß nicht, wieso ich in so einen Schockzustand geraten bin. Ich habe schreckliche Dinge in meiner Arbeit gesehen, besonders in der Notaufnahme. Schreckliche Wunden, viel Blut, Menschen, die in grauenhaften Schmerzen starben, oder sich wünschten zu sterben, bevor wir ihre Schmerzen lindern konnten. Ich habe immer damit umgehen können. Selbst als ich meine erste Leiche gesehen hatte, habe ich nicht so heftig reagiert. Ich hätte besser damit umgehen sollen.“

Jenn schaute verdutzt zu Riley rüber. Riley vermutete, dass Jenn von der scheinbaren Distanz in Loris Stimme überrascht war. Doch Riley konnte es ziemlich gut verstehen.

Über die Jahre hatte Riley es mit vielen Menschen zu tun gehabt, die mit noch frischen traumatischen Erfahrungen konfrontiert waren. Sie wusste, dass diese Frau immer noch versuchte die Realität dessen, was geschehen war, zu verarbeiten. Lori hatte bisher immer noch nicht ganz die Tatsache fassen können, dass ihre Mutter ermordet worden war, und nicht irgendein Notaufnahmepatient, den sie nie zuvor gesehen hatte.

Am allerwenigsten hatte Lori akzeptiert, dass ihr eigener Stoizismus Grenzen hatte.

Riley fragte sich, ob es wohl Menschen in Loris Leben gab, die ihr helfen würden, mit all dem klarzukommen.

Sie sagte zu Lori: „Soweit ich weiß, sind sie verheiratet.“

Lori nickte benommen.

„Roy ist Inhaber einer Wirtschaftsprüfungskanzlei hier in Springett. Er hatte mir angeboten, heute mit mir zuhause zu bleiben, aber ich habe ihm gesagt, dass ich auch alleine klarkomme und dass er zur Arbeit gehen soll.“

Dann fügte sie mit einem kleinen Schulterzucken hinzu: „Das Leben geht weiter.“

Riley schreckte hoch, als sie Lori dieselben Worte sagen hörte, die sie selbst laut ausgesprochen hatte, nachdem Blaine gestern das Haus verlassen hatte. Zu hören, wie jemand anders das sagte, war verstörend. Sie begriff, was für ein vollkommenes Cliché der Ausdruck war. Schlimmer noch, es stimmt nicht einmal.

Rileys ganzes Leben war um die schreckliche Tatsache herum aufgebaut, dass jedes Leben früher oder später mit dem Tod endete.

Wieso bestanden Menschen also auf dieser Redewendung?

Wieso hatte sie selbst sie gerade erst gestern verwendet?

Ich nehme an, es ist bloß eine dieser Lügen, an denen wir uns festkrallen.

Lori schaute hin und her zwischen Jenn und Riley und sagte: „Die Polizei hat mir gesagt, dass es vor einigen Wochen ein weiteres Opfer gegeben hatte – einen Mann, drüben in Petersboro.“

„Das stimmt“, sagte Jenn.

Lori fügte hinzu: „Sie haben gesagt, dass aus seiner Esszimmergarnitur ebenfalls ein Stuhl abhanden gekommen sei, genau wie bei Mom. Ich verstehe es nicht. Was bedeutet das? Wieso würde irgendjemand einen anderen Menschen wegen einem Esszimmerstuhl umbringen?“

Riley antwortete nicht, Jenn auch nicht.

Wie konnten sie diese Frage auch beantworten?

War es möglich, dass sie tatsächlich nach einem Irren fahndeten, der Menschen wegen ihrer Möbel umbrachte? Es erschien zu absurd, um es glauben zu können. Doch sie wussten noch so wenig zu diesem Zeitpunkt ihrer Ermittlungen.

Jenn stellte die nächste Frage.

„Hatte ihre Mutter zufällig einen Justin Selves aus Petersboro gekannt?“

„War das das andere Opfer?“, fragte Lori.

Jenn nickte.

Loris Augen wurden schmal und sie sagte: „Der Name kommt mir nicht bekannt vor. Ich weiß nicht, ob sie Freunde oder Bekannte außerhalb von Springett hatte. Ich habe ihr immer wieder gesagt, dass sie nicht genug rauskäme. Sie verbrachte nicht genug Zeit mit Leuten.“

Riley sagte: „So wie ich verstehe, hat sie also nicht außerhalb des Hauses gearbeitet.“

Lori sagte: „Nein, sie lebte von den Zahlungen ihrer Scheidungsvereinbarung.“

Jenn fragte: „Ist ihre Mutter… mit jemandem ausgegangen?“

Lori kicherte traurig.

„Um Gottes Willen, nein. Ich glaube, sie hätte es mir gesagt. Sie hat das Haus selten verlassen, außer um ab und zu in die Kirche zu gehen. Oh, und sie ist auch zu den Bingoabenden an der Kirche gegangen. Die hat sie nie verpasst. Jeden Freitag gibt es einen Spieleabend in der Westminster Presbyterian Kirche. Sie hat mich mal mit Cupcakes bewirtet, die sie eines Abends dort gewonnen hatte. Sie hatte sich sehr darüber gefreut.“

Lori schüttelte den Kopf und sagte: „Sie verbrachte zu viel Zeit alleine. Das Haus war zu groß für sie. Ich habe ihr immer wieder gesagt, sie solle in eine kleinere Wohnung ziehen. Sie wollte nicht auf mich hören.“

„Was passiert nun mit dem Haus?“, fragte Jenn.

Lori seufzte und sagte: „Meine Schwester, meine Brüder und ich werden es erben. Das wird ihnen wohl nicht viel bedeuten. Da sie alle so weit weg wohnen, wird es jetzt wohl eigentlich mir gehören.“

Dann wurden ihre Augen schmal, so als ob ihr auf einmal ein besonders dunkler Gedanke gekommen war.

„Das Haus wird mir gehören“, wiederholte sie. „Und Roy.“

Sie erhob sich hastig aus ihrem Sessel.

„Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt gerne keine weiteren Fragen mehr beantworten.“

Riley spürte, dass sich Loris geistige Verfassung plötzlich verändert hatte. Sie schaute sich erneut in der großen, aber merkwürdig leeren Wohnung um und erinnerte sich dann an das geräumige Haus, in dem das Opfer ermordet wurde. Und da begann ihr etwas klar zu werden.

Jenn beugte sich vor und sagte: „Ma’am, wenn Sie uns nur noch ein paar Minuten Ihrer Zeit geben könnten —“

„Nein“, unterbrach Lori. „Nein. Ich würde jetzt gerne allein sein.“

Riley konnte sehen, dass auch Jenn die Veränderung in Loris Verhalten bemerkt hatte. Riley wusste auch, dass ihre Partnerin auf Antworten drängen würde – womöglich auf eine zu aggressive Art und Weise.

 

Riley erhob sich und sagte: „Wir danken Ihnen für ihre Zeit, Ms. Tovar. Unser herzliches Beileid.“

Die Frau seufzte und sagte: „Danke.“ Dann fügte sie erneut hinzu: „Das Leben geht weiter.“

Wenn das nur stimmen würde, dachte Riley. Oder zumindest nicht so kurzweilig wäre.

Als sie und ihre Partnerin die Wohnung verließen und die Stufen hinunterstiegen, beschwerte Jenn sich: „Wieso sind wir gegangen? Da war was, was sie uns nicht sagen wollte.“

Ich weiß, dachte Riley.

Doch sie hatte keinerlei Absicht Lori Tovar dazu zu zwingen ihnen zu sagen, was es war.

„Ich erkläre es dir im Auto“, sagte Riley.