Heimkehr

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Sie folgten ihr durch die Eingangshalle und einen langen Flur. Als sie zu dem Untersuchungsraum kamen, der Luntz“ Leiche enthielt, öffnete sie die Tür und hielt sie mit einem Lächeln auf, als wäre es für eine Essensrunde mit Freunden und nicht zur Vorbereitung auf die Besichtigung eines Mordopfers. Sie traten in den Raum und Chloe brauchte einen Moment, um sich an die hellen Lichter und die sterile Umgebung zu gewöhnen. Jedes Mal, wenn sie in einen Leichenschauraum trat, war ihr, als ob sie in eine andere Welt überging. Aber beim Anblick der Leiche kam sie immer sofort wieder in die Realität zurück.

So war es auch jetzt, mit Bo Luntz. Er lag auf dem Tisch, die leblosen Augen geschlossen. Ohne die Wunde auf der Stirn, hätte er normal ausgesehen. Holloway erlaubte den Agenten einen Moment, um sich an den Anblick zu gewöhnen, bevor sie, mit einem Tablet in der Hand, an den Tisch trat.

„Wie Sie sehen können, erlitt er einen offensichtlichen Schlag auf den Kopf.“ begann Holloway. „Leider können wir nicht sicher sagen, womit geschlagen wurde, aber in Anbetracht des Winkels, der Wundtiefe und der Art und Weise, wie der Schädel zusammengefallen ist, tippe ich auf etwas Einfaches, wie einen Stein, oder komplizierteres, wie eine Betonfigur aus dem Garten.“

„Können wir etwas über den Mörder aussagen?“ fragte Chloe.

„Nun, wie Sie sehen können, scheint die Wunde einen leichten Aufwärtswinkel zu haben. Auch das Momentum scheint in diese Richtung zu gehen. Es gibt viele mögliche Faktoren dafür, aber es ist recht sicher, dass der Mörder kleiner als sein Opfer war.“

„Den Akten zufolge war Bo Luntz sechs Fuß eins. Also sind viele Leute kleiner“, bemerkte Rhodes.

„Stimmt“, bestätigte Holloway. “Wenn Sie sich aber die Einbuchtung des Schädels ganz genau ansehen, gibt es Hinweise darauf, dass es nicht nur ein, sondern zwei Einschläge waren. Der zweite Schlag scheint etwas kräftiger gewesen zu sein, aber es war ein Schleifschlag.“

Chloe trat näher an den Tisch heran und sah genau, was Holloway meinte. Auf der linken Seite war die Delle auf Luntz’ Stirn ungefähr zwei Inches tiefer. Das Umfeld wirkte etwas dunkler, als wenn sie mit mehr Kraft als der Rest der Wunde geschlagen worden war. Chloe legte den Kopf zur Seite und versuchte, sich zu entscheiden, ob dies lediglich von einer komisch geformten Waffe hervorgerufen sein konnte.

„Meine Theorie“, fuhr Holloway fort, „ist, dass er zweimal kurz hintereinander geschlagen worden ist. Zwei schnell aufeinander folgende Schläge. Das erklärt die unglaubliche Zielsicherheit. Ein Schlag genau auf dem anderen. Aber da der zweite Schlag ihn fast verfehlt hätte, nehme ich an, dass Luntz schon im Fallen war, als der Schlag traf.“

„Und beide Schläge sind genau in der Kopfmitte“, bemerkte Chloe. „Hätte ihn jemand überrascht – vielleicht durch Anschleichen – wäre so ein perfekt platzierter Schlag unwahrscheinlich, oder?“

„Ja. Nicht unmöglich, aber sehr unwahrscheinlich.“

„Also war es jemand, von dem er wusste, dass er im Haus war?“ fragte Rhodes.

„Das ist meine Wette“, entgegnete Holloway.

Chloe dachte an die Informationen von Johnson und Anderson. Keine Anzeichen von Einbruch oder Kampf und am Hochzeitstag. Einfaches Ausschlussverfahren und Erfahrung deuteten auf die Ehefrau.

„Haben Sie in der Kehle außer der Socke noch etwas gefunden?“, fragte Chloe.

„Nein. Aber es ist wahrscheinlich, dass sie nach der Tat hineingelegt wurde. Sie scheint mit großer Sorgfalt platziert worden zu sein. Die Zunge war zurückgeschoben. Wäre sie in seinen Mund geschoben worden als er noch lebte, hätten die Zungenmuskeln sofort dagegen gedrückt.“

Die Anwesenheit der Socke machte die ganze Sache seltsamer. Es war eine Art Merkwürdigkeit, an der Chloe die Untersuchung normalerweise aufhängen würde, weil sie sicher eine Symbolik hatte. Und wo Symbolik war, war normalerweise auch ein Motiv zu finden.

Chloe studierte die Leiche noch eine Weile und versuchte, irgendetwas zu finden, das sie in eine andere Richtung als zu der Frau lenken würde. Als klar wurde, dass es nichts zu finden gab, dankten Rhodes und Chloe Holloway und verließen den Raum.

„Glauben Sie auch, dass es die Frau war?“ fragte Rhodes als sie zum Eingang zurück gingen.

„Tue ich. Und wenn nicht als potenzieller Täter – was sie derzeit für mich ist – , dann zum Fragen, ob sie eine Idee hat, warum jemand ihm eine Socke in den Rachen schieben würde.“

Rhodes nickte zustimmend als sie den Parkplatz überquerten und ins Auto stiegen. Noch bevor sie den Parkplatz verlassen hatten, war Chloe am Telefon, um bei Kommissar Anderson den Aufenthaltsort von Sherry Luntz zu erfragen. Als sie das Telefon anhob, konnte sie den kleinen Funken Hoffnung, einen verpassten Anruf von Danielle zu finden, nicht unterdrücken.

Aber natürlich war die Hoffnung umsonst und so blieb Chloe keine andere Wahl, als das Schlimmste zu befürchten und sich in dem Fall Luntz zu vergraben.

Kapitel sechs

Zuerst schien Anderson zögerlich, sie mit Sherry Luntz sprechen zu lassen. Den Polizeiberichten zu Folge, war sie emotional so geschädigt, dass sie nach der Entdeckung der Leiche zwei Mal fast ohnmächtig geworden war. Chloe blieb aber eisern. Sie hatte schon mit trauernden Witwen gearbeitet, viele von ihnen hatten Geheimnisse beschützt und so unwissentlich die Aufklärungsarbeiten behindert – manchmal bis zur Lächerlichkeit.

„Sie ist die einzige realistische Verdächtige, die wir zur Zeit haben“, argumentierte Chloe, während sie sich des Hauses Luntz näherten. „Nichts für Ungut, aber Sie können mir ihren Aufenthaltsort jetzt sagen oder ich rufe in Washington an und bekomme ihn so heraus.“

Anderson gab schließlich nach und erzählte ihnen, dass Sherry mit ihrer Familie in der Stadt wohnte. „Aber bitte“, schloss er “ich kann nicht oft genug erwähnen, wie verstört die Frau ist. Könnte nur eine von Ihnen mit ihr sprechen?“

Es war eine Strategie, die Chloe normalerweise nicht anwendete, aber die Sache war nicht wichtig genug, um sich darüber zu streiten. Außerdem könnte dann eine von ihnen Sherry Luntz besuchen und die andere könnte schon die Straße, in der die Luntzes’ wohnten, abgrasen, um Informationen von den Nachbarn zu sammeln.

Und so endete Chloe alleine etwa zwanzig Minuten später im Haus von Tamara Nelson, Sherry’s Schwester. Rhodes hatte ganz zufrieden mit der Aufgabe der Nachbarn Befragung gewirkt, also entschied Chloe sich, Sherry zu befragen. Chloe sprach nicht gerne mit frisch trauernden Menschen aber sie wussten beide, dass sie viel mitfühlender sein konnte als Rhodes. Rhodes war nicht besonders stolz auf diese Tatsache, aber akzeptierte sie.

Anderson hatte angerufen und Tamara wissen lassen, dass ein FBI Agent zu ihr unterwegs war. Als Chloe an die Tür klopfte, wurde diese fast sofort geöffnet. Beide Frauen standen in der Tür, um sie zu begrüßen und es war leicht festzustellen, welche der beiden Sherry Luntz war. Sie stand etwas hinter ihrer Schwester. Ihre roten Haare waren zerwühlt, ihre Haut, bis auf die dunklen Ringe unter den Augen, war blass vom Weinen. Die Augen selbst waren blutunterlaufen und obwohl es schien, dass sie sich jeden Moment schließen könnten, sah Chloe eine Entschlossenheit in ihnen, die Chloe davon überzeugte, dass es dauern würde, bis diese Frau Schlaf finden würde.

„Sherry Luntz?“, fragte Chloe.

Die verstrubbelte Frau nickte, aber trat nicht vor. Ihre Schwester blieb schützend vor ihr stehen.

„Ich bin Agentin Fine. Ich glaube, Kommissar Anderson hat Sie über mein Kommen informiert?“

„Hat er,“ erwiderte Tamara. „Bitte verstehen Sie es nicht falsch, aber ich werde im Raum bleiben, während Sie mit Sherry sprechen.“

„Natürlich“, entgegnete Chloe. Sie fing an, sich zu fragen, ob Sherry überhaupt etwas sagen würde. Sie sah absolut fertig aus – fast wie betäubt.

Tamara drehte sich um, und ging hinein, ohne Chloe formal aufzufordern, ihr zu folgen. Chloe tat es trotzdem, und schloss die Tür hinter sich. Tamara führte sie in ein wunderschön hergerichtetes Wohnzimmer. Ein süßlicher Geruch strömte von irgendwo her durchs Haus – irgendein Tee, vermutete Chloe.

„Ich verstehe, wie schwierig dies für Sie sein muss, Frau Luntz“, begann Chloe. „Ich werde dieses Gespräch so kurz und schmerzlos wie möglich halten.“

„Nein, ist schon in Ordnung„, sagte Sherry. Sie hatte die Stimme einer Frau, die nach einer durchzechten Nacht, nach zwölf Stunden Schlaf erwacht war. „Ich will es geklärt haben. Bitte, nehmen Sie auf mich keine Rücksicht.“

Chloe schielte rüber zu Tamara, als ob sie ihre Zustimmung suchte. Die Schwester zuckte die Achseln, als wenn die Welt auf ihren Schultern läge.

„Frau Luntz, ich kenne die Details des Nachmittages, also kann ich einige davon überspringen. Was ich brauche, sind die versteckten Dinge im Leben Ihres Mannes. Hatte er Feinde? Gab es Menschen, von denen Sie glauben, dass sie ihn nicht mochten?“

„Ich habe darüber nachgedacht. Versucht, es zu begreifen.“ sagte sie. „Die einzige Person, die mir einfiel, war ein alter Geschäftsrivale, aber der lebt irgendwo in Kalifornien. Ich weiß, es hört sich an, als lobte ich meinen toten Mann, aber alle mochten Bo.“

„Hat er Probleme bei der Arbeit erwähnt?“

„Nein. Tamara hat sogar für mich seinen Chef angerufen, um herauszufinden, ob es da etwas gab, das er vor mir versteckte. Aber da war nichts.“

„Sie haben ein gemeinsames Kind, stimmts?“ fragte Chloe.

„Ja, einen Sohn, Luke. Er hat dieses Jahr auf der Universität angefangen. Er ist auch hier. Schläft, im Gästezimmer. Er ist …. einfach leer im Moment.“

„Haben Sie ihm auch diese Fragen gestellt?“, erkundigte sich Chloe.

„Nicht so direkt, aber ja. Wir haben versucht herauszufinden, wer es getan haben könnte. Ich glaube, es könnte einer dieser zufälligen Einbrüche sein, aber… es fehlt nichts. Alles ist da.“

 

„Ich habe gestern die Kreditkartenfirmen für Sherry angerufen“, mischte sich Tamara ein. „Alle Karten waren noch in Bos Brieftasche aber ich dachte, vielleicht war es eine Art digitaler Betrug oder so. Aber alles scheint in Ordnung. Sollte es irgendein Psychopath gewesen sein, dann ging es ihm nur ums Töten.“

„Wir haben gestern Abend alles geprüft und nochmals geprüft, Luke und ich. Wir konnten nichts finden, das wir vermissten“, warf Sherry ein.

Chloe wusste, was sie als nächstes fragen wollte, aber es war schwierig in Worte zu fassen. Sie hatte schon jetzt eine recht gute Ahnung, dass Sherry absolut nichts mit dem Mord an ihrem Mann zu tun hatte. Man konnte Tränen und Zusammenbrüche vortäuschen, aber Ohnmacht durch Trauer im Beisein der Polizei und so schlafberaubt zu sein, dass man wie ein Statist in einem Zombie Film aussah? Das war echt.

„Und ist vielleicht irgendetwas im Haus, im Garten oder auf der Veranda verrückt? Vielleicht etwas, das so aussah, als sei es nur ein kleines Stück bewegt worden?“ fragte sie. Es war ihre Art zu erfahren, ob sie vielleicht unabsichtlicher Weise die Angriffswaffe gefunden hatten.

„Uns ist nichts aufgefallen.“

„Gibt es jemanden, der einen Schlüssel zu ihrem Haus haben könnte? “

„Keinen. Ich hatte nie einen Anlass, einen Schlüssel zu vergeben. Wir hatten nie eine Haushälterin oder eine Putzfrau, keine Familie, die über Nacht blieb. Nichts dergleichen.“

„Und wie steht es mit einer Alarmanlage? Ich habe keine gesehen, als meine Partnerin und ich das Haus besuchten. “

„Keine. Wir haben immer gesagt, dass wir in eine investieren sollten, aber die Nachbarschaft ist so sicher… es ist etwas, das wir immer aufgeschoben und nie in Angriff genommen haben. “

„Eine letzte Sache, Frau Luntz…. Es tut mir leid, es könnte schwierig sein.“

„Ist schon in Ordnung.“

„Die Leiche ihres Mannes wies ein sehr merkwürdiges Kennzeichen auf —“

„Die Socke im Mund,“ sagte sie. Sie sagte es, als gäbe sie die Schlüsselzeile eines komischen Witzes zum Besten… als wenn sie gewusst hatte, was kommen würde.

„Ja. Haben Sie eine Idee, was es damit auf sich haben könnte?“

„Absolut keine,“ erwiderte Sherry mit weinerlicher Stimme. „Als ich ihn so fand, wusste ich, dass er etwas im Mund hatte. Aber ich wusste nicht, was es war. Ich erfuhr erst was es war, als ich mich Stunden später daran erinnerte und nachfragte. Kommissar Anderson erzählte mir, dass es eine Socke war. Ich dachte, ich sei vielleicht noch ohnmächtig und hätte einen komischen Traum aber …. Nein. So war es. Er hat mir sogar gestern Abend ein Foto davon gezeigt … nachdem der Gerichtsmediziner…“.

„Ist in Ordnung, wir können aufhören, Frau Luntz“ erklärte Chloe.

„Ich weiß nicht, ob es irgendwie hilft oder nicht“, fuhr Sherry fort „aber es war nicht seine Socke. Er hasste diese dicken schwarzen Socken – selbst im Winter. Er hatte oft Schweißfüße und diese dicken Socken waren ihm unangenehm.“ Ein Anzeichen von einem Lächeln kam auf ihre Lippen, als sie sich an seine kleine persönliche Abneigung erinnerte.

Chloe fasste in ihre Jackentasche und holte eine Visitenkarte heraus. Sie überreichte sie Tamara, um Sherry keine weitere Last oder Verantwortung aufzubürden. „Bitte…, wenn eine von Ihnen sich an irgendetwas weiteres erinnert, egal wie unbedeutend, rufen Sie mich an.“

„Natürlich“ entgegnete Tamara. Sie schaute Chloe fast nicht an. Sie beobachtete ihre Schwester, schätzte ihre Kraft ein. Nach kurzer unangenehmer Stille stand Tamara auf, um Chloe zur Tür zu bringen.

Tamara trat mit ihr auf die Veranda und schloss die Tür hinter ihnen. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und sah Chloe fast entschuldigend an.

„Sie malt nicht nur ein hübsches Bild,“ begann sie. „Bo war einer der guten Typen, wissen Sie? Bescheiden, freundlich, liebte seine Frau und seinen Sohn. Ich glaube nicht, dass ich jemals ein schlechtes Wort über ihn gehört habe – nicht mal von unserer Mutter… und das heißt was.“

„Ich beginne, das zu verstehen. Ich muss Sie allerdings noch eines fragen… rein aus Formalität.“

„Ob ich glaube, dass Sherry es getan haben könnte?“

Chloe zog die Stirn zusammen und nickte. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es nicht war, aber ich muss es für die Akte von jemandem hören, der sie gut kennt.“

„Sherry kann es unmöglich gewesen sein. Und selbst wenn ich dächte, dass sie auch nur über so etwas nachgedacht haben könnte, können sie mit ihrer Arbeit sprechen. Hat die Polizei allerdings schon getan. Sie haben Kameraaufnahmen von Sherry, als sie das Gebäude an dem Nachmittag um zwei nach fünf verlassen hat. Wenn man die Zeit, die sie für den Mord annehmen, berücksichtigt, kann sie es unmöglich gewesen sein.“

Chloe wollte fast noch etwas graben, fragen, ob es irgendwelche Leichen in Bos Keller gab. Aber sie fühlte, dass sie aus Tamara nichts herauskriegen würde und dass es sie verärgern würde. Und derzeit schien sie die trauernde Frau und ihre unterstützende Schwester auf ihrer Seite zu haben, was bei späteren Fragen nützlich sein konnte.

„Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben. Und bitte… auch die unwichtigsten Dinge, erzählen Sie sie mir“, verabschiedete sich Chloe.

„Machen wir.“

Chloe eilte die Veranda hinunter und ihrem Auto entgegen in der Hoffnung, dass Rhodes etwas aufgedeckt hatte. Rhodes hatte ein Talent zu bohren, ohne unhöflich zu erscheinen und sie befragte nur Nachbarn ohne emotionale Bindung. Vielleicht hatte sie mehr Glück gehabt. Chloe fuhr in die Nachbarschaft der Luntz zurück. Der Nieselregen nieselte noch immer vor sich hin und tauchte den Tag in ein graues Kleid.

Chloe war nicht abergläubisch und glaubte nicht an Omen, aber trotzdem fragte sie sich, ob der Regen, der dichter zu werden schien, ein Vorzeichen war.

Kapitel sieben

Rhodes schien gute Laune zu haben, als Chloe sie abholte. Wenn sie überhaupt etwas nervte, dann war es die Tatsache, nass geworden zu sein. Chloe setzte den Wagen sofort in Bewegung, noch bevor sie anfingen, ihre Erkenntnisse zu besprechen. Sie wollte dem Regen entfliehen, vielleicht in einem Café oder einem Bistro. Dort könnten sie dann reden und die nächsten Schritte planen.

„Glück gehabt?“, fragte sie, als sie zu der großen Durchgangstrasse kamen.

„Nun, ich habe entdeckt, dass es hier eine Art Bo Luntz Fan Club gibt.“, seufzte Rhodes. „Nicht nur, dass jeder ihn mag, einige Leute haben sogar ihr Bedauern ausgesprochen, ihn nicht besser kennengelernt zu haben.“

„Mit wie vielen haben Sie sprechen können?“

„Ich habe die Straße abgeklappert. Die meisten waren natürlich bei der Arbeit, aber ich habe es geschafft, mit vier Personen in drei Häusern zu sprechen. Eine ältere Dame in einem der letzten drei Häuser hinter dem Haus Luntz erzählte mir, dass Bo ihr drei Wochen lang sein Auto geliehen hat, als sie ihres kaputt gefahren hatte und ihre Versicherung sich dumm gestellt hat. Keine Fragen hat er gestellt, obwohl er sie kaum kannte.“

„Und niemand hat etwas gehört oder gesehen?“, fragte Chloe.

„Nichts.“

„Scheint derzeit ein wiederkehrendes Thema zu sein“, sagte Chloe und dachte daran, wie einfach Danielle und ihr Vater einfach verschwunden waren.

Sie sinnierten beide darüber nach, bis sie nach einigen Meilen zu einem einfachen kleinen Bistro kamen. Ein Möchte-gern-Hipster-Café, das auf glutenfreien Muffins spezialisiert war. Sie arbeiteten schon lange genug zusammen, um selbstsicher in den Laden zu treten, zu bestellen, die Toiletten aufzusuchen und sich dann am Tisch zu treffen, um den Fall zu besprechen. Chloe wunderte sich manchmal, wie weit sie gekommen waren. Es schien erst gestern gewesen zu sein, dass Rohdes fast verschnupft gewirkt hatte, Chloe als Partner bekommen zu haben. Das war natürlich, bevor Chloe ihr das Leben gerettet hatte, als bei ihrem ersten gemeinsamen Fall auf sie geschossen worden war. Chloe schlürfte ihren schwarzen Kaffee, während Rhodes von ihrem Chai Latte trank. Sie gingen gemeinsam durch die Notizen, verglichen, stellten entgegen und kamen zu dem Schluss, dass Nachbarn und Familie den ganzen Morgen nichts Neues angeboten hatten.

Chloe konnte nur eine neue Erkenntnis beisteuern. „Ich denke, die Ehefrau kann ausgeschlossen werden. Ihre Schwester sagte, die Polizei hätte mit Sherrys Arbeit gesprochen, und sie hat das Gebäude um zwei nach fünf verlassen. Die Zeitabfolge funktioniert einfach nicht.“

Rhodes nickte, während sie durch die wenigen Aufzeichnungen blätterte, die sie zu dem Fall hatten. “Sie schätzen, dass er zwischen halb vier und viertel vor fünf ermordet wurde. Leute in Bos Büro wollen ihn bis halb vier gesehen haben. Einem Kollegen zufolge, hatte Bo erwähnt, dass er früher gehen wollte, um etwas Besonderes für seinen Hochzeitstag vorzubereiten.“

„Das ist merkwürdig. Das lässt es erscheinen, als wenn der Mörder wusste, dass er gehen würde – dass er früh zu Hause sein würde.“

„Das, oder der Mörder war schon aus irgendeinem Grunde dort und brachte Bo aus Schock und Überraschung um.“

Sie ließen das für einen Moment sacken. Chloe starrte in den Regen, der jetzt stetiger vom Himmel kam. „Sherry Luntz sagte, dass keiner außer Bo und ihr einen Schlüssel zu dem Haus hatte. Keine Familienmitglieder, keine Putzfrau, keine guten Freunde, niemand.“

„Und keine Anzeichen von Einbruch…“

Chloe wusste, wo sie die Vermutungen hinsteuern wollte. Es war offensichtlich, aber aus irgendeinem Grunde, schien es nicht richtig zu sein. Sie sagte es trotzdem. „Also ließ Bo die Person rein. Oder sie kamen sogar gemeinsam an.“

„Vielleicht eine Affäre?“

„Das haben Sie jetzt gesagt. Aber…, wenn er etwas für seinen Hochzeitstag für den Nachmittag plante, dann wirkt das sehr kaltschnäuzig, oder?“

„Oder dumm“, erwiderte Rhodes.

„Und da ist noch etwas, das mir gerade aufgefallen ist. Alles, was wir über den ersten Mord an Richard Wells wissen ist, dass es eine genaue Kopie von Bo Luntz Mord war. Socke im Mund, Schädel zerschmettert. Und die Taten liegen nur zwei Tage auseinander. Wenn wir also nachrechnen…“

„Wenn wir nachrechnen“, fuhr Rhodes fort „und wir haben es hier mit einem Serienmörder zu tun und nicht mit verbundenen Einzelfällen, dann könnten wir innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ein weiteres Opfer haben.“

„Vielleicht sollten wir jetzt weniger über Luntz nachdenken und sehen, was wir über das erste Opfer finden können.“

„Ja, aber Anderson sagte, dass es dort niemanden gab, der dem Opfer nahestand. Keine Familie, keine Freunde, niemand.“, warf Rhodes ein.

„Genau“, sagte Chloe, während sie aufstand. „Wenn Sie mich fragen, hört sich das genau nach der Art Mann an, der Geheimnisse gut für sich behalten kann.“

* * *

Sie avisierten ihren Besuch auf dem Weg nach Eastbrook. Weil es eine kleine Stadt mit nur einer kleinen Polizeidienststelle war, sandte eine hilfreiche Dame vom Erkennungsdienst einfach digitale Kopien der Akte, anstatt ein Treffen mit einem Beamten für Chloe und Rhodes zu arrangieren. Chloe war sehr zufrieden mit der Lösung. Sie arbeitete viel lieber ohne die Hilfe der örtlichen Polizei an einem Fall. Ja, sie waren oft sehr hilfreich, aber sie tendierten auch dazu, mit jedem Opfer ihrer Gegend Mitleid zu haben.

Sie waren ungefähr vier Meilen vor Eastbrook, als die Dokumente ankamen. Rhodes sah sie durch, während Chloe fuhr. Der Regen ließ nach, die Sonne kämpfte sich langsam durch die Wolken. Sie fuhren durch kleine Nebelschwaden, die sich auf der Straße gebildet hatten.

„Richard Wells, zweiundfünfzig Jahre alt, seit Kindheit fast ausschließlich in Eastbrook ansässig. Sein Strafregister ist sehr kurz – zwei Mal betrunken am Steuer und einmal Abwesenheit vor Gericht. Sein Führerschein wurde deswegen vor drei Jahren gesperrt. Die örtliche Polizei hat die Ex-Frau informiert, und obwohl sie bei der Befragung hilfreich war, schien sie nicht besonders verstört über den Mord zu sein. Sie ist die einzige Nummer, die als Verwandte oder Notruf registriert ist.“

„Sie wohnt in Rhode Island, stimmts?“

„Stimmt.“

„Wells war ein privater Bauunternehmer, oder? Haben wir einen Firmennamen?“

„Ja, aber keinen einfallsreichen. Wells Konstruktion und Design, Sitz in Eastbrook.“

Chloe wollte Rhodes gerade bitten, die Adresse ins Navi einzugeben, aber sie war schon dabei. Dies erinnerte Chloe an Johnsons Kommentar, dass er ihnen den Fall geben wollte, weil er so gut zu ihnen passen würde. Sie nahm an, dass Rhodes und sie eine bessere Einheit bildeten als alle anderen Paare ihres Polizeischul-Jahrgangs. Wenn sie manchmal diese fast hellsichtigen Episoden hatten, konnte man das gut glauben.

 

Sie kamen kurz vor 11 Uhr bei dem kleinen Büro von Wells Konstruktion und Design an. Das Büro lag in der sogenannten Hauptstraße von Eastbrook, einer Stadt, die, so vermutete Chloe, wohl nur von ihrer Nähe zu Baltimore lebte. Sie war einer dieser Orte, an denen man anhielt, um den Tank aufzufüllen oder um schnell etwas zu essen, bevor man in die große Stadt weiterfuhr.

Chloe parkte den Wagen vor dem Gebäude und sorgte sich, dass die Firma vielleicht wegen des Todes des Eigentümers geschlossen sein könnte. Sie fanden die Tür aber unverschlossen. Das Büro bestand aus einem großen Raum, der durch Trennwände in Arbeitsplätze unterteilt war. Ein großer Schreibtisch in L-Form erlaubte der daran sitzenden Dame, jeden, der durch die Tür kam, sofort zu begrüßen.

Sie schaute gelangweilt auf, als Chloe und Rhodes eintraten und Chloe stellte sich vor, wie merkwürdig es sein musste, ein kleines Unternehmen am Leben zu erhalten, wenn der Namesgeber so brutal ermordet worden war.

„Kann ich Ihnen helfen, meine Damen?“, fragte die Frau.

„Ja, bitte“, entgegnete Chloe. Sie stellte sie beide vor, beide zeigten ihre Ausweise. „Wir beschäftigen uns mit dem Mord an Richard Wells. Er hat keine Familie in der Gegend und es scheint, dass seine Arbeitskollegen ihnen am Nächsten standen.“

„Das stimmt“, bestätigte sie. “Schade eigentlich, man realisiert solche Umstände erst, wenn es zu spät ist, wissen Sie?“

„Können Sie mir sagen, ob die Firma plant, ohne ihn weiter zu machen?“

Die Dame zuckte die Achseln in einer Art, die zeigte, dass ihr die Antwort nicht nur unbekannt, sondern auch egal war. „Wir warten darauf, dass sein Anwalt das klärt. Richard hatte wohl kein Testament, also erbt keiner die Firma. Wir haben drei Arbeiter, die derzeit auf zwei Baustellen arbeiten und versuchen, die Projekte abzuschließen, bevor der juristische Kampf beginnt.“

„Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?“, fragte Chloe.

„Klar. Ich bin Patty Marsh.“

„Frau Marsh, arbeiten Sie schon lange hier?“

„Seit sechs Jahren.“

„Was war ihr allgemeiner Eindruck von Richard Wells? Nicht als Chef, aber als Mensch?“

„Er arbeitete hart, das steht außer Frage. Aber ich glaube, er war einer dieser Typen, die ihren Höhepunkt in der Schule erreichen und das irgendwie weiter ausleben. Er trank viel, flirtete um sich rum, obwohl er bis vor sechs Monaten verheiratet war. Er war die Art Mann, die es immer schafften, eine Anekdote über seine glorreichen Tage im Schul-Footballteam einzubringen. Eigentlich traurig, aber es machte ihn glücklich.“

„Schimpfte er manchmal mit Ihnen oder den anderen Angestellten?“

„Oh, ich bin sicher, dass das mit den Arbeitern manchmal passierte. Aber sie waren alle gut befreundet. Die anderen sind etwas jünger als Richard aber die gleiche Art Männer… nicht sehr erfolgreich im Leben, deshalb greifen sie immer wieder zu Schul-Geschichten, um sich besser zu fühlen. Meine Güte, ich höre mich wirklich schlimm an.“

„Überhaupt nicht“, beschwichtigte Rhodes. “Ich frage mich… in diesem Beruf, hat Richard sich jemals Feinde gemacht? Unzufriedene Kunden vielleicht?“

„Die Polizei hat uns das auch schon gefragt und uns fiel niemand ein. Klar, Richard hatte seine Probleme, aber er arbeitete hart. Er trank viel und war ganz offen darüber. Aber irgendwie hielt er das Trinken und die Arbeit in der Waage. Er war sehr stolz auf seine Arbeit. Ich erinnere mich an keinen unzufriedenen Kunden, seitdem ich hier arbeite.“

„Wann erwarten Sie die Arbeiter zurück?“, erkundigte sich Chloe.

„Nicht bis zum Ende des Tages. Aber, ohne unhöflich erscheinen zu wollen, die werden Ihnen das Gleiche erzählen, wie ich.“

„Trotzdem sollten wir mit ihnen sprechen. Um sicherzugehen.“

„Alles klar“, entgegnete Patty. Sie öffnete ihre Schublade, blätterte durch ein paar Visitenkarten und reichte Chloe drei Stück – eine für jeden Angestellten. Damit war der Besuch beendet.

Chloe studierte die Karten, als sie zurück ins Auto stieg. Sie steckte sie in ihre Tasche, während Rhodes auf den Beifahrersitz kletterte. Sie hatte schon ihr Telefon in der Hand und rief ihre Anruferliste auf. Chloe grinste und nahm an, dass Rhodes das Gleiche dachte, wie sie selbst: sie brauchten Zugang zu Richard Wells Haus und sie brauchten Kommissar Andersons Hilfe, um ihn zu bekommen.

Während Chloe auf die Straße hinaus fuhr, wurde ihr Verdacht bestätigt, als sie Rhodes sagen hörte: „Kommissar Anderson, Agent Rhodes hier. Können Sie uns Zugang zu Richard Wells Haus verschaffen?“

Ermutigt durch die gedankliche Übereinstimmung mit Rhodes fuhr Chloe weiter und fühlte sogar das erste Flattern von Begeisterung für den Fall. Danielle war noch immer ein konstanter Faktor in ihren Gedanken, aber sie verblasste etwas mit der Zeit.

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