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Gesicht des Todes

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Er versteifte sich, als das sanfte Rascheln des Zweiges von einem anderen Geräusch unterbrochen wurde. Er erstarrte, sein ganzer Körper verstummte, um erneut zu lauschen, er drückte einen Knopf, um das Licht seines Handys abzuschalten. Was war das? Ein Vogelruf?

Nein – da war es wieder: eine menschliche Stimme, ohne Zweifel.

Er horchte konzentriert, drehte seinen Kopf, um die richtige Windrichtung auszumachen, fokussierte seine Sinne so sehr er konnte. Er spähte nach vorne, als ob es das Geräusch deutlicher machen könnte, wenn er seine Quelle sehen konnte. Es waren tatsächlich Stimmen. Zwei Männer. Sie näherten sich anscheinend. Langsam, aber zweifellos.

„Das ist es, hier.“ Einer der Männer.

Etwas von dem anderen, zu leise, um es zu verstehen.

„Oh, hör mit deinem Gemurmel auf. Jedes Vieh, das seinen Pelz wert ist, weiß schon, dass wir hier sind. Sie hören unsere Schritte. Ein wenig Reden macht keinen Unterschied. Wenn wir auf dem Hochstand sind, werde ich leise sein.“

Er kniff die Augen zusammen, analysierte die Worte. Wahrscheinlich Jäger. Sie richteten sich in Hochsitzen ein, um darauf zu warten, dass die Wälder sich an ihre Gegenwart gewöhnten, dass kleine wehrlose Wesen vergaßen, dass sie da waren. Ein langes Geduldsspiel.

Er konnte nicht warten, bis sie wieder weg waren.

Er musste hier weg und zwar sofort.

Seine Fußabdrücke waren noch sichtbar, die Blutspur führte direkt von seinem Auto zur Leiche. Aber daran konnte man nichts ändern. Er musste weg, bevor sie einen knackenden Zweig oder das Wischen seines behelfsmäßigen Besens hörten und ihn sahen. Oder noch schlimmer, auf ihn schossen, weil sie dachten, er wäre irgendein Tier. Es war Zeit, aufzubrechen und sonst konnte er nichts tun.

Er flüchtete mit schnellen vorsichtigen Schritten zu seinem Auto, achtete darauf, wo er auftrat, nie so nah an der Blutspur, dass er aus Versehen hineintrat und Abdrücke hinterließ. Er ging zur Seite, um den Ast abseits des von ihr niedergetretenen Weges zu entsorgen, hoffte, dass er niemandem auffiel. Ein heruntergefallener Ast inmitten all der anderen heruntergefallenen Äste. Nichts hier war fertig – aber das musste es sein, sonst müsste er jetzt hier aufhören, bevor er den Rest erledigt hatte.

Seine Arbeit war noch lange nicht getan. Es gab noch drei weitere, die sterben mussten – und er würde nicht aufhören, bis sie alle auf den Boden ausgeblutet waren und das Muster komplett war.

Kapitel elf

Zoe leerte ihren ersten Kaffee des Tages und warf den Styroporbecher in den Mülleimer. Er prallte mit befriedigender Endgültigkeit gegen die rückwärtige Wand, fiel dann außer Sicht, um neben vielen seiner Brüder und Schwestern zu ruhen.

„Der Kaffee hier ist furchtbar“, bemerkte Shelley, starrte kläglich in ihren eigenen Becher.

Zoe konnte nur zustimmen.

Sie rieb sich die Augen, wollte sie dazu bringen, sich weiter zu öffnen. Ein früher Tagesbeginn war nach einem langen Arbeitstag hart, aber sie hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt. Die Routine war einfach: pump deinen Körper mit genug Koffein voll, um dich in Gang zu bringen und dein Gehirn wird folgen.

Trotzdem, sich das Filmmaterial der Sicherheitskameras anzusehen, das sie für einen Fünfmeilenradius um die Tankstelle erhalten hatten – was angesichts deren Lage recht wenige Dateien waren – war sogar für ihre Frühaufstehermentalität eine Herausforderung. Ihre Augen bemerkten entweder alle möglichen Zahlen, die irrelevant und ablenkend waren, oder wollten angesichts der schieren Langeweile nach Minuten ohne etwas zu sehen einfach zufallen.

Ihre Blicke flitzten ständig zwischen dem Zeitstempel am unteren Rand des Bildschirms und der Hauptansicht hin und her, sie sah zu, wie die Zeit ständig auf den Moment des Mordes zukroch. Keine Fahrzeuge waren bisher in das Sichtfeld des Autohofs hinein oder aus ihm herausgefahren. Es war ein belebterer Ort als die Tankstelle, sogar während der Nacht, aber die Lastwagen auf dem Parkplatz hatten sich größtenteils für die Nachtruhe eingerichtet. Nichts bewegte sich.

Ein blaues Auto raste auf dem kleinen Stück der von der Seite des Parkplatzes sichtbaren Straße vorbei. Es bewegte sich schnell und obwohl ihr Finger auf dem Pausenknopf lag, konnte Zoe ihn erst drücken, als es schon vorbei war.

Sie spulte Bild für Bild zurück, bis es in dem kleinen Teil des Bildschirms zu sehen war, der die Straße zeigte. Sie prüfte den Zeitstempel. Es passte absolut ins Zeitfenster. Der Fahrer hätte Zeit gehabt, zur Tankstelle zu fahren, den Mord zu begehen und innerhalb des Zeitfensters, auf das sie es eingegrenzt hatten, wieder zu verschwinden.

Sie spulte wieder vorwärts, betrachtete, wie die Zeit vorbeiging. Minuten wurden zu Stunden. Sonst fuhr niemand die durch die Kamera sichtbare Straße entlang.

Sie ging zurück, kehrte zu dem exakten Moment zurück, an dem das Auto vollständig sichtbar war. Zoe kniff die Augen zusammen, ging so nah heran, dass ihre Nase fast gegen den Bildschirm stieß, versuchte, das Nummernschild zu notieren. War das ein O oder ein D? Sie schaltete zwischen den einzelnen Einstellungen hin und her, versuchte, es zu erkennen.

„Ich hab was“, sagte sie, bekam sofort Shelleys Aufmerksamkeit. „Ein sich der Tankstelle näherndes Auto wurde von der Überwachungskamera erwischt. Es passt zeitlich und mindestens eine Stunde lang scheinen keine anderen Fahrzeuge vorbeizukommen. Ich habe das Nummernschild. Ich muss es nur durch die Datenbank jagen.“

Shelleys Gesicht hellte sich aufgeregt auf, als sie herübereilte, um über Zoes Schulter auf das eingefrorene Bild zu blicken. „Das könnte er sein, Z“, stieß sie hervor.

„Ich prüfe die Details“, sagte Zoe, hielt die Videowiedergabe an und öffnete ein Programm, das ihr erlauben würde, das Nummernschild in der nationalen Datenbank zu suchen. Ihr erster Versuch, mit dem D, ergab nichts. Das O brachte einen Treffer.

„Jimmy Sikes“, las Shelley laut vor. Sie kehrte zu ihrem eigenen Computer zurück, wo die FBI-Software schon auf ihre Namenseingaben wartete. „Ich hab ihn. Mal sehen … oh, wow, Z, er hat ein Strafregister. Er wurde erst vor einigen Monaten auf Bewährung entlassen.“

„Wegen was?“ fragte Zoe.

„Körperverletzung“, las Shelley, richtete große Augen auf sie. „Gewalttätige Vorgeschichte. Meinst du, das könnte der Kerl sein?“

Zoe hob die Augenbrauen, dachte darüber nach. „Könnte sein. Er war in der Gegend und sein Strafregister macht es wahrscheinlicher. Wir müssen sofort mit ihm reden.“

„Als Bewährungsadresse ist die seiner Schwester angegeben. Soll ich sie anrufen?“

Zoe nickte zustimmend, sah zu, wie Shelley atemlos nach dem Schreibtischtelefon griff und die Zahlen eintippte, bevor sie tief Atem holte, um sich zu beruhigen. Sie war aufgeregt. Sie war immer noch unerfahren, immer noch überschwänglich bei der Aussicht auf eine Falllösung. Zoe genoss das Abschließen eines Falles so sehr wie jeder andere, aber sie war auch lange genug dabei, um zu wissen, dass die Identifizierung eines Verdächtigen nicht mal annähernd den Abschluss des Falles bedeutete.

„Hallo, spreche ich mit Manda Sikes?“ sprach Shelley in den Hörer, ihre Augen bewegten sich von Zoe weg und konzentrierten sich auf eine leere Seite ihres Notizbuches. „Hallo Manda. Mein Name ist Special Agent Shelley Rose vom FBI. Ich rufe wegen Ihres Bruders Jimmy an.“

Eine Pause trat ein, während Manda sprach. Shelley nickte, obwohl die andere Frau sie nicht sehen konnte, öffnete und schloss ihren Mund mehrere Male, während sie auf eine Gelegenheit wartete, zu Wort zu kommen.

„Nein, ich verstehe. Es geht nicht um seine Verurteilung wegen Körperverletzung. Wir möchten mit ihm über einen anderen Fall sprechen.“

Eine weitere Pause. Diesmal länger. Shelley sah zu Zoe auf, beunruhigt über was auch immer es war, das Manda sagte.

„Also haben Sie ihn seitdem nicht mehr gesehen? Und das war – richtig, vor fünf Tagen. Er hat nicht auf irgendeine Weise Kontakt aufgenommen? Sie haben versucht, ihn anzurufen? Okay. Gut. Können Sie mir seine Handynummer geben?“

Shelley schrieb in ihr Notizbuch, notierte mit raschen Bewegungen ihres Kugelschreibers eine Nummer. Sie tauschte noch einige Worte mit Manda aus, bevor sie auflegte, bedachte Zoe dann mit einer hochgezogenen Augenbraue.

„Jimmy Sikes ist seit einigen Tagen nicht mehr zu Hause gewesen?“ fragte Zoe.

„Schon vor dem Zeitpunkt unseres ersten Mordes nicht mehr. Manda sagt, dass sie immer wieder versucht hat, ihn anzurufen, aber sein Handy ist abgestellt. Sie dachte zuerst, wir wären seine Bewährungshelfer auf der Suche nach ihm.“

„Also wird es immer wahrscheinlicher, dass Jimmy vielleicht in unseren Fall involviert ist. Ich werde mich mit dem Team im Hauptquartier in Verbindung setzen, um sein Handy orten zu lassen und zu sehen, ob sein Nummernschild irgendwo aufgefallen ist.“

Shelley nickte, legte den Kugelschreiber hin. „Ich werde weiter durch das vorliegende Überwachungsmaterial gehen. Vielleicht bringt es nichts Neues, aber dann wissen wir jedenfalls definitiv, dass dieser Teil erledigt ist.“

Zoe agierte rasch, machte die notwendigen Anrufe und gab Daten in ihren Computer ein, loggte sich in die Datenbank des FBI ein. Das war ein Fall höchster Priorität und da ein Richter schon auf Abruf war, um die notwendigen Durchsuchungsbefehle zu unterzeichnen, ging es schnell für sie. Trotzdem brauchte es einige Stunden, ungeduldiges Klopfen mit Kugelschreibern und Zucken von Knien bis sie die Information hatten, die sie benötigten.

„Los geht’s“, sagte Zoe, druckte die Landkarte aus und riss sie schon fast aus dem Drucker, bevor er fertig war. „Das sind die für uns interessanten Punkte. Jeder Ort, an dem Jimmy Sikes in den vergangenen Tagen geortet werden konnte.“

Shelley setzte sich dicht neben sie, Schulter an Schulter, und sie starrten beide auf die Kennzeichnungen auf der Landkarte voller Notizen zu Zeit und genauem Ort. Ein Handymastsignal, das seinen Weg durch mehrere Gegenden genommen hatte, die die Techniker auf einen bestimmten Highway hatten eingrenzen können, auf dem es sich von Stadt zu Stadt bewegte. Alle Punkte markierten Orte in der Nähe derer, an denen Leichen gefunden worden waren. Ein Casino, ein Diner, ein Autohof hier und dort, mit Erkennung des Nummernschilds auf dem Parkplatz, all das zeichnete ein vages Muster mit langen und großen Lücken an Stellen, an denen die Technologie nicht fortgeschritten genug war.

 

Zoe betrachtete die Kennzeichnungen, beschwor das Muster herauf. Sie sah die Linien, fast völlig gerade, unter Berücksichtigung der Abweichungen von Highways und Kurven um Hügel und Gewässer. Sie hätten fast mit einem Lineal gezeichnet sein können, wenn man die Straßen ignorierte und sich nur die Haltepunkte ansah. Auch wenn die Handymastsignale nicht völlig akkurat waren, sondern eher einen weiteren Umkreis angaben, durch den das Handy sich bewegt haben musste, zeigte es doch eine bewusste Fortbewegung durch das Land an.

Nicht nur das, sondern an jeder Zwischenstation befanden sich Casinos. Zoe folgte Mustern, Rastern, Kurven zwischen ihnen allen, analysierte, was die Daten ihr mitteilten, bis sie absolut sicher sein konnte, dass es keine andere Möglichkeit gab.

Es gab nur eine Richtung, die Jimmy Sikes einschlagen würde – so viel war klar. Als sie ihr folgte, sah Zoe die Linie ganz deutlich, die die Landkarte wie die Route eines Vogels durchquerte, bis sie an dem einzigen Ort landete, der Sinn ergab.

Er wusste nicht, dass sie ihm auf den Fersen waren, noch nicht. Er würde nicht überlegen, sein Muster zu ändern, um sie abzuschütteln. Sie hatten ihn. Sie würde ihre Karriere darauf verwetten, dass sie wusste, wohin Jimmy Sikes fuhr.

„Da“, sagte sie, legte ihren Finger auf die Stelle. „Wenn wir jetzt loslegen, werden wir ihn da finden.“

Shelley blickte hinunter auf die Landkarte. „Das Casino? Wie kannst du dir sicher sein?“

Zoe war zwischen der Notwendigkeit, ihr eine plausible Erklärung zu geben und der Notwendigkeit, all das in ihrem eigenen Kopf zu behalten, hin- und hergerissen. Jetzt war kein guter Moment, zu offenbaren, dass sie die Zahlen und Muster lesen konnte, selbst wenn sie vorhatte, es überhaupt preiszugeben – was sie nicht tat.

„Er mag das Glücksspiel“, sagte sie schließlich. „Schau, siehst du? Der Ort, an dem er das erste Opfer fand, vor nur fünf Tagen, war bei diesem Casino, nah am Zuhause seiner Schwester. Da hat alles angefangen. Er kam auch an einem weiteren Casino vorbei, an diesem Ort, hier – obwohl wir noch auf das Material der Überwachungskamera im Inneren warten, ist es wahrscheinlich, dass er hineinging, da sein Auto auf dem Parkplatz gesehen wurde. Das ist das nächste Casino auf seiner Route. Sie liegen in gleichen Abständen auseinander – andere Counties, andere Eigentümer. Er geht in jedes, das er ohne Angst vor Wiedererkennung und Hausverweis erreichen kann. Ich wäre nicht überrascht, wenn er gegen das Haus spielt, um Geld für seine Reise zu verdienen.“

Shelley betrachtete die drei von Zoe herausgestellten Markierungen, hielt ihr blondes Haar über ihrer Schulter fest, damit es nicht herunterfallen und ihr die Sicht verdecken würde. Ein fragender Blick erschien auf ihrem Gesicht, aber angesichts der Bestimmtheit von Zoes Miene schien sie die Frage zurückzuhalten. Nach einer Pause nickte sie und richtete sich auf. „Okay, du bist der Boss. Du machst das schon länger als ich, also nehme ich an, dass du es besser weißt als ich annehmen kann.“

Zoe mochte die Unsicherheit in Shelleys Stimme nicht, aber das konnte jetzt nicht geändert werden. Sie mussten loslegen. „Komm“, sagte sie. „Wir fahren jetzt hin. Ruf während der Fahrt die Casinoleitung an und sag ihn, dass sie nach seinem Auto und einem Mann seiner Beschreibung Ausschau halten sollen. Mit ein wenig Glück kriegen wir ihn, bevor er wieder geht.“

Kapitel zwölf

Das Casino war hinter der Grenze von Missouri, nur ein Katzensprung nach Kansas hinein. Nicht zum ersten Mal war Zoe froh, dass FBI-Agenten nicht durch Staatengrenzen beschränkt waren.

Zoe sah zu, wie Shelley auf ihrem Telefondisplay herumtippte, um die Informationen über das Auto wieder zu sehen. Ein blaues Auto, mit dem Nummernschild, das Zoe auf dem Filmmaterial entdeckt hatte. Einfach genug zu entdecken – abgesehen davon, dass es ein beliebtes und belebtes Casino und der Parkplatz fast voll war.

Sie suchten sich einen Platz, während Zoe innerlich die unvermeidliche Ausrichtung menschlichen Verhaltens verfluchte, durch die nur die am weitesten entfernten Plätze noch frei waren. Aber vielleicht war das sogar eine gute Sache, wenn es bedeutete, dass sie das Auto auf dem Weg ins Casino finden konnten.

„Ich hoffe, er ist noch da“, murmelte Shelley. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, spielte mit ihrer Halskette. Zoe spürte ihre nervöse Energie, das von ihr geteilte Bedürfnis, loszulegen. Das zweite Auto hielt ein wenig entfernt an, ihre Verstärkung aus der Truppe des Sheriffs.

Sie hatten noch nichts von seit der Nacht gefundenen Leichen gehört. Entweder hatte er aus irgendwelchen Gründen von seinem Muster abweichen müssen, oder er hatte seinen Mord so erfolgreich durchgeführt, dass das Opfer immer noch da draußen lag. Wartend. Zoe gefiel der Gedanke nicht, denn jede vergangene Stunde bedeutete eine weitere mögliche Verschlechterung des Tatorts und eventueller Spuren, die er versehentlich hinterlassen hatte.

Zoe teilte Shelleys Hoffnungen nicht, aus dem einfachen Grund, dass sie keine Zweifel hatte. Er würde hier sein. Die Unterlagen seiner Bewegungen in den letzten Tagen hatten ihr alles mitgeteilt, was sie wissen musste. Jimmy Sikes war in dem Casino und sie würden ihn finden.

Nicht nur das, die Sicherheitsleute hatten sie zurückgerufen und ihnen mitgeteilt, dass das Auto da war. Sie hatte sie angewiesen, den Ausgang zu überwachen, sicherzustellen, dass er nicht wegfahren konnte. Das sollte eigentlich bedeuten, dass er noch drinnen war.

Abgesehen von dem Anruf, den sie nur einige Minuten zuvor erhalten hatte, in dem ihr mitgeteilt worden war, dass der Wachmann bei einer Unruhe zur Hilfe gerufen worden war – und die Spur ihres Mannes auf den Kameras verloren hatte. Sie waren angewiesen, sofort anzurufen, wenn sie ihn wieder sahen, aber in der Zwischenzeit mussten sie sicherstellen, dass er überhaupt noch dort war.

Sie stiegen aus dem Auto und Zoe nickte dem anderen Team zu. Sie hatten bereits ihre Befehle erhalten; schweigend schwärmten sie aus, bewegten sich paarweise an den Autoreihen entlang, betrachteten Nummernschilder und Autotypen. Sie waren alle bewaffnet, bereit für den Fall, dass der Mann sich der Festnahme widersetzte, und nervös in dem Wissen, dass es sich in diese Richtung entwickeln könnte.

Zoe und Shelley gingen ihre Reihe gemeinsam ab, schnell, aber nicht so schnell, dass sie die Konzentration verloren. Die Zeit drängte. Umso schneller sie ihn entdeckten, desto geringer die Möglichkeit, dass er irgendwie entkommen konnte.

Zoes Augen nahmen Nummernschilder aus verschiedenen Staaten zur Kenntnis, mehr aus Missouri und Kansas als aus jedem anderen Staat. Ohne ihr Zutun lief das Zählwerk in ihrem Kopf, die Zahlen erschienen neben jedem Fahrzeug. Keins von ihnen war das Richtige.

Das Funkgerät in Zoes Hand knackte und sie hob es hoch, um die Mitteilung zu hören. „Wir haben es. In der Mitte der Reihe links außen. Niemand im Fahrzeug.“

Zoe und Shelley sahen auf, die Köpfe der zwei anderen Teams wandten sich im Einklang zu der entferntesten Reihe des Parkplatzes. Eine Hand winkte kurz in der Luft, zeigte die Position des Autos an.

Zoe hob das Funkgerät an ihren Mund. „Wir gehen rein“, sagte sie. „Ihr zwei bleibt beim Fahrzeug, falls er zurückkommt. Wenn das passiert, kontaktiert uns sofort. Die anderen kommen mit uns.“

Sie trafen sich eilig beim Eingang, alle in Alarmbereitschaft, große Augen und angespannte Haltung. Eine Spannung hing über der Gruppe, die Art nervöser Energie, die von dem Wissen ausgelöst wurde, dass die Konfrontation kurz bevorstand.

„Wie gehen wir vor?“ fragte Shelley, trat hinter Zoes überlegener Erfahrung und Wissen zurück. Solche Momente erinnerten Zoe daran, dass ihre Partnerin nicht so routiniert war, wie sie manchmal wirkte.

„Zwei Gruppen“, sagte Zoe, sah sich um, um zu prüfen, ob alle zuhörten. „Die Hälfte kommt mit mir, die andere Hälfte geht mit Agent Rose. Ich werde durch den Vordereingang gehen, das andere Team durch den Hintereingang. Von dort schwärmen wir aus. Lasst eine Person an jedem Ausgang zurück. Habt ihr alle eure Ausdrucke?“

Nicken von allen vier örtlichen Polizisten und von Shelley.

„Nehmt euch noch einmal Zeit, euch sein Gesicht einzuprägen, bevor wir hineingehen“, wies Zoe sie an. „Sobald ihr ihn seht, geht ans Funkgerät und teilt uns seinen genauen Aufenthaltsort mit. Wir werden dort zusammenkommen, um ihn zu verhaften.“

Es gab zustimmendes und verstehendes Murmeln, während sie alle ihre Telefondisplays einschalteten oder gefaltete Papierbögen aus den Taschen zogen, um Jimmy Sikes’ Bild anzusehen.

Während sie das taten, näherte Zoe sich einem Mitglied der Sicherheitskräfte des Casinos, zeigte ihm rasch ihre Marke auf eine Art, die sie vor den Blicken Vorbeigehender verbarg. Nach einigen leise ausgetauschten Sätzen nahm er ein zusätzliches Funkgerät von ihr entgegen und brachte es eilig in seinen eigenen Kontrollraum.

Dann teilten sie sich auf, drei Leute in jede Richtung. Shelley warf einen raschen Blick zurück auf Zoe, als ob sie Bestärkung bräuchte. Zoe nickte ihr zu und Shelley wandte sich wieder um und ging weiter.

Zoe gab sich mit einem tiefen Atemholen Kraft, während sie sich dem Eingang näherte. Das andere Team würde mehr Zeit brauchen, um auf die Rückseite des Gebäudes zu gelangen. Sie mussten sich nicht beeilen, noch nicht.

Aber das war nicht der Grund für ihr Zögern. Sie zögerte, weil sie schon einmal in einem Casino gewesen war und wusste, was es mit ihr anrichtete. Was mit ihrem Gehirn geschehen würde.

Sie warf einen schnellen Blick auf die beiden Polizisten neben sich, um zu prüfen, ob sie bereit waren und ging dann los, durch die breiten Holztüren hinein in Lärm und dämmriges Chaos.

Die Beleuchtung war schwach, absichtlich dämmrig, um die Flecken zu verbergen und Kunden dazu zu bringen, den Überblick über die Tageszeit zu verlieren. Der Raum war breit und lang, in verschiedene Abteilungen unterteilt, einige außerhalb ihrer Sichtweite. Die Spielautomaten, einige von ihnen hoch und auffällig, blockierten die Sicht auf fast alles auf der rechten Seite. Links befanden sich Kartentische und andere Spiele, und eine Bar erstreckte sich über die gesamte Länge, so dass Kunden dorthin gehen und einen Drink bestellen konnten, wann immer ihnen danach war.

Und, natürlich, der alte Casinoklassiker: ein gewundener Weg, der lediglich zur nächsten Glücksspielmöglichkeit führte, anstatt ihnen eine klare Richtung durch den Raum zu weisen.

Zoe holte Luft, versuchte, die Fassung zu bewahren. Versuchte, sich nicht von den Zahlen, dem Lärm der Automaten, der Leute und der leisen Hintergrundmusik, sowie der lebhaften Abendatmosphäre, die fast umgehend die Erinnerungen an den hellen Morgen draußen auslöschte, überwältigen zu lassen. Sie waren in jeder Richtung. Sie ging mit großen Schritten an einem Blackjacktisch vorbei, Berechnungen erschienen in ihrem Kopf, als sie alle fünf Kartendecks öffentlich ausgelegt sah und wusste, dass der Spieler, der auf der rechten Seite saß, eine weitere Karte verlangen sollte, da eine achtzigprozentige Chance bestand, dass er die Karte mit dem geringen Wert bekam, die er brauchte, um seine Punktzahl von sechzehn zu verbessern.

Auf ihrer anderen Seite verkündeten die leuchtenden Zahlen über einem Spielautomaten, dass der Jumbojackpot, der innerhalb eines staatenübergreifenden Netzwerks zu gewinnen war, fast einen Rekordbetrag erreicht hatte. Die Frau, die dort saß und mit resoluter Bestimmtheit einen Dollar nach dem anderen einsetzte, schien genau wie Zoe zu wissen, dass die Maschine fast soweit war.

Sie sah nach vorne, betrachtete das Layout des Raumes, sah, welche Maschinen öfter etwas auszahlen würden; an strategischen Punkten platziert, um andere Spieler zu stimulieren und zu ermutigen. Das harsche Klackern der Roulettekugel im Rad weckte ihre Aufmerksamkeit und sie musste nicht auf das Ergebnis warten, um zu wissen, dass der Mann, der all seine Jetons auf die schwarze Vierzehn gesetzt hatte, nicht gewinnen würde.

Zoe wusste, dass sie in einem solchen Ort komplett abräumen würde. Alleine an den Blackjacktischen würde sie ein Vermögen machen, aber was die Pokertische betraf – links von ihr sahen vier ernste Männer in Anzügen gebannt zu, wie der Dealer ein Kreuz-Ass umdrehte, was dem zweiten Spieler von rechts eine ungefähr fünfundsiebzigprozentige Chance auf einen Flush gab – sie könnte es mit jedem von ihnen aufnehmen.

 

Einmal hatte sie das fast getan. Vor Jahren, noch bevor sie dem FBI beigetreten war. Sie war von einer Gruppe Kollegen eingeladen worden, mit ins Casino zu kommen; Bekannte eigentlich, da sie nie vielen Leuten nahe genug gewesen war, um sie als Freunde zu bezeichnen. Sie hatte einige der Spiele ausprobiert, ihren Einsatz mindestens verdoppelt.

Beim ersten Mal hatten sie gelacht und ihr auf den Rücken geklopft und ihr zu ihrem Glück gratuliert. Beim zweiten Mal hatte sie anscheinend eine Glückssträhne.

Beim vierten Mal hatten sie ihr seltsame Blicke zugeworfen.

Nach ihrem sechsten Spiel war sie gegangen, hatte ihre Jetons eingelöst, damit sie das Casino verlassen konnte, und mit diesen Leuten nie wieder ihre Freizeit verbringen musste. Sie hatte die Brücken hinter sich gründlich abgebrochen. Sobald sie sie wie einen Freak angesehen und sogar in Flüstertönen des Betruges beschuldigt hatten, wusste sie, dass es vorbei war.

Es gab Dinge, die sie nicht tun konnte, Dinge, die zu viel Aufmerksamkeit auf sie und die Fähigkeiten, die sie zu verbergen suchte, warfen. Glücksspiel war eines davon. Sie war danach nach Hause gegangen und hatte das Geld einem Krankenhaus gespendet, hoffte, dass der Nutzen, den die Kinderstation daraus zog, ihre Schuldgefühle darüber besänftigen würden, dass sie ihre Kraft für so etwas einsetzte. Es war falsch zu betrügen und sie hatte ganz definitiv betrogen.

Es war nicht so, dass sie nicht gerne noch einmal gespielt hätte. Es war ein unterhaltsamer Abend gewesen – sehr unterhaltsam, bis alles schiefgegangen war. Nein, es war das Risiko und die Schuldgefühle, die sie abhielten. Sie hatte in jener Nacht geschworen, nie wieder zu spielen und sie würde diesen Schwur heute nicht brechen.

Nicht, dass momentan Zeit für so etwas war, wenn man ein Special Agent war und die Aufgabe hatte, einen Serienmörder zur Strecke zu bringen.

Das Wissen bedeutete nicht, dass sie die Zahlen abstellen konnte. Sie versuchte, sich auf Gesichter und Körper zu konzentrieren, nicht auf Karten und Einsätze. Es hatte keinen Sinn, zu wissen, dass das nächste Drehen des Rouletterades eine Ausschüttung bringen würde, oder welcher der Pokerspieler erfahren war, welcher keine Ahnung hatte, wie er seine Einsätze machen sollte. Nichts davon würde das nächste Opfer des Mörders retten können.

Zoe folgte den Biegungen des Weges, sie war jetzt alleine, ihre zwei Schatten waren weggeschlüpft – einer, um am Eingang zu bleiben, der andere ging zu ihrer Rechten durch das Labyrinth der Spielautomaten. Sie suchte sich ihren Weg durch die Kartentische, versuchte, weniger wie eine Agentin und mehr wie eine erfahrene Spielerin auf der Suche nach dem richtigen Spiel auszusehen, obwohl sie kaum wusste, wo der Unterschied lag. So lange sie in die Gesichter schaute, war alles in Ordnung. Aber sobald sie ihren Blick auf die Tische fallen ließ, um den Anschein zu wahren, fluteten die Zahlen hinein, lenkten sie fast von ihrer Mission ab.

Eine Bewegung vor ihr erweckte ihre Aufmerksamkeit und ihr Blick wurde zu einem anderen Roulettetisch gelenkt, dieser wurde von einem attraktiven blonden Croupier bedient. Die Frau schob Gewinnern ihre Jetons zu, zog die verlorenen Einsätze zu sich, kündigte das nächste Spiel an. Einige Leute waren um sie versammelt, vier – nein, fünf – Leute, deren Aufmerksamkeit ganz auf das Tableau gerichtet war.

Und dort, inmitten von ihnen, sein Profil ihr zugewandt – Jimmy Sikes.

Zoe griff nach ihrem Funkgerät, hob es an ihr Gesicht, aber er scherzte mit einem anderen Spieler und blickte gerade lächelnd zur Seite, als Zoe sich auf ihn zu bewegte. Er registrierte das Funkgerät in ihrer Hand, ihre auf ihn fixierten Augen und das Lachen erstarb in seiner Kehle. Nach einem kurzen Moment, vielleicht eine halbe Sekunde, drehte er sich auf dem Absatz um und rannte mit voller Kraft los.

Zoe fluchte leise, drückte den Sprechknopf. „Verdächtiger identifiziert. Er ist zu Fuß unterwegs, versucht, von den Kartentischen zu flüchten. Behaltet die Ausgänge im Blick.“ Sie vertraute darauf, dass ihre eigenen Männer und die Sicherheitsleute des Casinos damit umgehen konnten. Solange sie alle auf ihrer Position standen, gab es keine Möglichkeit, dass er entkommen konnte.

Sie flitzte ihm nach, sah aus dem Augenwinkel, wie der Polizist von den Spielautomaten her in ihre Richtung kam und schneller wurde. Sikes war nur einen Tisch voraus, aber er hatte den Vorteil der Menge, schob sich durch sie und schubste die überraschten Leute durcheinander, die neue Hindernisse bildeten, als Zoe einen Moment später ankam.

Er wagte einen Blick hinter sich und sah, wie nah sie war, seine Augen groß und wild. „Anhalten! FBI!“ rief Zoe, gab ihm die Möglichkeit, das Richtige zu tun.

Sie taten nie das Richtige.

Sie hantierte beim Rennen am ihrem Holster, holte ihre Pistole heraus, stabilisierte sie mit dem Funkgerät in der anderen Hand. Wenn er bewaffnet war, war nicht abzusehen, was er tun würde. Man konnte nicht wissen, ob er sich ihnen gewaltsam widersetzen würde.

„Halten Sie an und nehmen Sie die Hände über den Kopf!“ rief sie erneut, während die Leute vor ihr sich als Reaktion auf ihr Rufen zerstreuten. Sikes flitzte zwischen den Tischen hin und her, blickte ächzend über seine Schulter, die Panik stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Er lief in einen Blackjacktisch, rannte den Croupier fast um, als er dagegen prallte, stieß mit seinen Armen gegen den Tisch, bis er umkippte und durch die Luft flog, Jetons und Karten sich in alle Richtungen verteilten. Das Ganze geschah so nah vor Zoe, dass sie fast hineinstolperte und es gab nur eine winzige Pause, bevor die Leute nach vorne strömten, versuchten, so viele Jetons wie möglich aufzuheben und dadurch ihren Weg blockierten.

„FBI! Gehen Sie aus dem Weg!“ schrie Zoe verzweifelt, aber es hatte seinen Zweck für Sikes erfüllt. Er entkam, vergrößerte den Abstand zwischen ihnen, während sie sich durch die Menge kämpfte. Er hatte nun genug Vorsprung, dass sie ihn entkommen sah – und das endgültig, wenn es ihm gelang, an ihrem Mann bei der Tür vorbeizuschlüpfen.

Aber sie konnte nun erkennen, dass er eine bestimmte Route verfolgte. Er war höchstwahrscheinlich seit Stunden hier, ging von Station zu Station, spielte verschiedene Spiele, amüsierte sich bestens. Er kannte das Layout des Raums, wenigstens besser als sie. Und sein Wahnsinn hatte eine Art Methode, eine Serie scharfer Winkel, die ihn hin und her durch das Casino führten, den Weg komplett ignorierten, um der schnellsten Route zum hinteren Teil des Raums zu folgen.

Zoe hielt an und beobachtete ihn. Es hatte keinen Sinn, zu schießen, nicht mit so vielen Zivilisten, die ihr im Weg standen. Sie konnte ihn keinesfalls einholen. Aber es waren mindestens drei weitere Leute in diesem Casino, die eine Möglichkeit hatten, ihn aufzuhalten und dabei konnte sie helfen.

Sie sah seine Route vor ihrem geistigen Auge wie eine mit dem Lineal gezogene Linie, ein Zickzack, das alles andere als zufällig war. Er schoss nach links und rechts und ging an jedem zweiten Tisch nah vorbei, fand den besten Weg zur Türe, auch wenn es für jene keinen Sinn ergeben würde, die es nicht sehen konnten. Die Linien setzten sich deutlich auf dem Weg zum hinteren Teil des Raumes ab, welchen Zoe jetzt sehen konnte, da sie den entferntesten Teil des Casinos betraten. Vor sich sah Zoe die Linien von rechts nach links wie über ihre Ansicht des Raumes gelegt, sie in die richtige Richtung weisend.