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Aus der Reihe: Ein Riley Paige Krimi #3
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Hörbuch
Wird gelesen Alashiya Gordes
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Diese Bitte erschien Riley seltsam. Prostituierte verschwanden oft, ohne dass sie getötet wurden. Manchmal entschieden sie sich einfach an anderer Stelle zu arbeiten. Oder die Arbeit hinter sich zu lassen.

“Hat er Grund zu der Annahme?” fragte sie.

“Ich weiß es nicht”, sagte Meredith. “Vielleicht will er das nur denken, um uns in den Fall zu ziehen. Aber wie Sie wissen, sind Prostituierte häufig Ziel von Serienmördern.”

Riley wusste, dass das stimmte. Der Lebensstil von Prostituierten machten sie zu einem leichten Ziel. Sie waren sichtbar und zugänglich, alleine mit Fremden und oft drogenabhängig.

Meredith fuhr fort, “Er hat mich persönlich angerufen. Ich habe ihm versprochen meine besten Leute nach Phoenix zu schicken. Und natürlich schließt Sie das ein.”

Riley war gerührt. Meredith machte es ihr nicht einfach Nein zu sagen.

“Bitte haben Sie Verständnis, Sir”, sagte sie. “Ich kann gerade einfach keinen neuen Fall annehmen.”

Riley fühlte sich leicht unbehaglich. Kann nicht oder will nicht? fragte sie sich selbst. Nachdem sie von einem Serienmörder entführt und gefoltert worden war, hatten alle darauf bestanden, dass sie Urlaub nahm. Sie hatte es versucht, aber konnte sich nicht von ihrem Job losreißen. Jetzt fragte sie sich, warum sie so verzweifelt darum bemüht gewesen war neue Fälle anzunehmen. Sie war waghalsig und selbstzerstörerisch gewesen und hatte die Kontrolle über ihr Leben verloren. Nachdem sie Peterson getötet hatte, ihren Peiniger, dachte sie, dass alles gut wäre. Aber sie wurde immer noch davon verfolgt und hatte neue Probleme mit der Lösung des letzten Falles.

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu, “Ich brauche mehr Zeit. Ich bin immer noch beurlaubt und versuche wirklich mein Leben in den Griff zu bekommen.”

Ein langes Schweigen folgte. Es klang nicht, als würde Meredith versuchen mit ihr darüber zu diskutieren oder ihr einen Befehl zu geben. Aber er würde ihr auch nicht sagen, dass es für ihn in Ordnung war. Er würde den Druck nicht von ihr nehmen.

Sie hörte Meredith lange und traurig seufzen. “Garrett und Nancy waren seit Jahren entfremdet. Das, was ihr jetzt passiert ist, frisst ihn innerlich auf. Ich nehme an, dass darin eine Lektion zu lernen ist. Man sollte niemanden in seinem Leben als selbstverständlich ansehen. Nie den Kontakt verlieren.”

Riley fiel fast das Telefon aus der Hand. Meredith hatte einen Nerv getroffen, der seit langem unberührt geblieben war. Riley hatte vor Jahren den Kontakt mit ihrer Schwester verloren. Sie waren entfremdet und sie hatte schon lange nicht mehr an Wendy gedacht. Sie hatte keine Ahnung, was ihre Schwester gerade tat.

Nach einer weiteren Pause sagte Meredith, “Versprechen Sie mir, dass Sie darüber nachdenken.”

“Das werde ich”, erwiderte Riley.

Sie beendete den Anruf.

Sie fühlte sich fürchterlich. Meredith hatte ihr durch schwere Zeiten geholfen und es war das erste Mal, dass er ihr gegenüber Verletzlichkeit zeigte. Sie hasste es, ihn zu enttäuschen. Und sie hatte ihm gerade versprochen darüber nachzudenken.

Und auch wenn sie es unbedingt wollte, war Riley sich nicht sicher, dass sie nein sagen konnte.

Kapitel Drei

Der Mann saß in seinem Wagen auf dem Parkplatz und beobachtete die Nutte, die die Straße entlang ging. “Chiffon”, nannte sie sich. Offensichtlich nicht ihr richtiger Name. Und er war sich sicher, dass es noch eine Menge gab, was er nicht über sie wusste.

Ich könnte sie allerdings dazu bringen es mir zu sagen, dachte er. Aber nicht hier. Nicht heute.

Er würde sie heute auch nicht töten. Nein, nicht genau hier, so nah an ihrem üblichen Arbeitsplatz - dem sogenannten “Kinetic Custom Gym.” Von seinem Blickwinkel aus konnte er die altersschwachen Geräte im Schaufenster sehen - drei Laufbänder, eine Rudermaschine, und ein paar Gewichtstrainingsgeräte, von denen keine funktionierte. Soweit er wusste, kam niemand her, um wirklich zu trainieren.

Zumindest nicht auf die übliche Art und Weise, dachte er mit einem Grinsen.

Er kam nicht oft her - nicht seit der Brünetten, die hier vor Jahren gearbeitet hatte. Natürlich hatte er sie nicht hier getötet. Er hatte sie für “Extra Service” und mit dem Versprechen von viel Geld in ein Motelzimmer gelockt.

Selbst da war es noch kein vorsätzlicher Mord gewesen. Die Plastiktüte über ihrem Kopf war nur eine Fantasie gewesen, um dem Ganzen ein Gefühl von Gefahr zu geben. Aber nachdem es vorbei gewesen war, hatte ihn das Gefühl tiefer Befriedigung überrascht. Es war höchster Genuss gewesen, einzigartig selbst in seinem Leben voller Genüsse.

Trotzdem hatte er in seinen Rendezvous seither mehr Vorsicht und Zurückhaltung walten lassen. Oder zumindest hatte er das bis zur letzten Woche, als das gleiche Spiel mit einem Callgirl wieder tödlich ausgegangen war – wie war noch gleich ihr Name?

Oh, ja, erinnerte er sich. Nanette.

Er hatte vermutet, dass Nanette nicht ihr richtiger Name war. Jetzt würde er es nie herausfinden. Tief in seinem Herzen wusste er, dass ihr Tod kein Unfall gewesen war. Nicht wirklich. Er hatte es tun wollen. Und sein Gewissen war unbefleckt. Er war bereit es wieder zu tun.

Die, die sich selber Chiffon nannte, kam ihm etwa einen halben Block entfernt entgegen. Sie trug ein gelbes Top und einen kaum vorhandenen Rock und stöckelte auf unglaublich hohen Schuhen in Richtung Fitnessstudio, während sie telefonierte.

Er wollte unbedingt wissen, ob Chiffon ihr richtiger Name war. Ihr bisher einziges Treffen war ein Fehlschlag gewesen - ihre Schuld, nicht seine, dessen war er sich sicher. Etwas an ihr hatte ihn abgestoßen.

Er wusste, dass sie älter war, als sie vorgab. Es war mehr als nur ihr Körper - selbst Nutten im Teenageralter hatten oft Schwangerschaftsstreifen von der einen oder anderen Geburt. Und es waren auch nicht die Falten in ihrem Gesicht. Nutten alterten deutlich schneller, als alle anderen Frauen, die er kannte.

Er konnte nicht genau sagen warum. Aber es gab viel an ihr, was ihn verwirrte. Sie zeigte eine Art mädchenhaften Enthusiasmus, der nicht das Zeichen einer wahren Professionellen war - nicht einmal das einer Anfängerin.

Sie kicherte zu viel, als würde sie ein Spiel spielen. Sie war zu eifrig. Und er vermutete sogar, dass sie seltsamerweise ihren Job tatsächlich zu mögen schien.

Eine Nutte, die Spaß an dem Sex hat, dachte er, während er sie näherkommen sah. Wer hat so was schon mal gehört?

Wenn er ehrlich war, dann törnte es ihn ab.

Wenigstens war er sich sicher, dass sie keine verdeckte Ermittlerin war. Das hätte er sofort bemerkt.

Als sie nah genug war, um ihn zu sehen, drückte er auf die Hupe. Sie hielt einen Moment inne, sah in seine Richtung und schirmte ihre Augen von der Sonne ab. Als sie sah, wer es war, winkte sie und lächelte - ein Lächeln, das für alle Welt völlig aufrichtig aussehen musste.

Dann ging sie auf die Rückseite des Fitnessstudios zum “Mitarbeiter” Eingang. Ihm wurde klar, dass sie wahrscheinlich eine Verabredung in dem Puff hatte. Es machte nichts aus, er würde sie ein andermal nehmen, wenn ihm nach einer anderen Art von Vergnügen war. In der Zwischenzeit gab es hier genug andere Nutten.

Er erinnerte sich daran, wie sie das letzte Mal auseinander gegangen waren. Sie war fröhlich gewesen und freundlich und entschuldigend.

“Komm jederzeit wieder”, hatte sie ihm gesagt. “Das nächste Mal wird es besser. Wir verstehen uns dann bestimmt besser. Das wird dann wirklich anregend.”

“Oh Chiffon”, murmelte er laut. “Du hast ja keine Ahnung.”

Kapitel Vier

Der Lärm von Schüssen hallte um Riley herum. Zu ihrer Linken hörte sie das laute Krachen einer Pistole. Zu ihrer Rechten war schwerere Artillerie zu hören - Schüsse von Sturmgewehren und das Stakkato von Maschinenpistolen.

Mitten in dem Toben zog sie die Glock aus ihrem Hüftholster, nahm eine Bauchlage ein und feuerte sechs Kugeln. Dann richtete sie sich in eine kniende Position auf und feuerte dreimal. Sie lud schnell und geschickt nach, stand dann auf und feuerte sechs Kugeln, wonach sie zurück auf ein Knie fiel und drei weitere Kugeln mit der linken Hand feuerte.

Sie stand auf, holsterte ihre Waffe, trat dann von der Feuerlinie zurück und zog ihre Ohrschützer und die Schutzbrille ab. Das Ziel war etwa 23 Meter entfernt. Auch aus der Distanz konnte sie sehen, dass all ihre Schüsse gut zentriert waren. Auf benachbarten Linien übten FBI Akademie Studenten unter der Aufsicht ihrer Ausbilder.

Es war eine Weile her, das Riley ihre Waffe abgefeuert hatte, auch wenn sie in ihrem Job immer bewaffnet war. Sie hatte einen Platz auf dem Schießübungsplatz der FBI Akademie für Zielübungen reserviert und wie immer war da etwas seltsam Befriedigendes an dem machtvollen Rückstoß der Waffe, ihrer rohen Gewalt.

Sie hörte eine Stimme hinter sich.

“Die alte Schule, was?”

Sie sah sich um und entdeckte Spezialagent Bill Jeffreys nicht weit von sich mit einem breiten Grinsen. Sie lächelte zurück. Riley wusste genau, was er mit “alter Schule” meinte. Vor einigen Jahren hatte das FBI die Regeln der Schusswaffenqualifikation für Handwaffen geändert. Aus der Bauchlage heraus zu feuern war nun nicht mehr verlangt. Der Schwerpunkt lag mittlerweile darauf Ziele auf kurze Distanz, zwischen zweieinhalb und sechseinhalb Metern, zu treffen. Unterstützt wurde das durch die Virtuelle-Realität-Installation, in der Agenten Szenarios üben konnten, die bewaffnete Konfrontationen in engen Räumen simulierten. Und die Anwärter wurden alle durch die notorische Hogan's Alley geschickt, eine vier Hektar große, künstliche Stadt, in der sie Terroristen mit Paintball-Waffen bekämpften.

 

“Manchmal mag ich die alte Schule”, sagte sie. “Es ist doch gut möglich, dass ich auch auf Distanz tödliche Gewalt anwenden muss.”

Aus eigener Erfahrung wusste Riley, dass die Realität oft persönlich, sehr nah und häufig unerwartet war. Tatsächlich hatte sie in den letzten beiden Fällen mit den Händen kämpfen müssen. Sie hatte einen Angreifer mit seinem eigenen Messer und den anderen mit einem Stein getötet.

“Denkst du irgendetwas kann diese Kinder für das wahre Leben vorbereiten?” fragte Bill, der in Richtung der Studenten nickte, die gerade den Übungsplatz verließen.

“Nicht wirklich”, sagte Riley. “In der virtuellen Realität akzeptiert dein Gehirn das Szenario als Realität, aber es gibt keine unmittelbar bevorstehende Gefahr, keinen Schmerz, keine Wut zu kontrollieren. Etwas in einem weiß immer, dass nicht die Gefahr besteht getötet zu werden.”

“Richtig”, sagte Bill. “Das werden sie auf die gleiche Weise herausfinden müssen wie wir vor Jahren.”

Riley warf ihm einen Seitenblick zu, als sie sich weiter zum Schießstand wegbewegten.

Wie sie, war auch er vierzig Jahre alt und sein Haar mit Grau durchzogen. Sie fragte sich, was es zu bedeuten hatte, dass sie ihn insgeheim mit ihrem schlankeren, schmächtigeren Nachbarn verglich.

Wie hieß er noch? Oh, ja - Blaine.

Blaine war gutaussehend, aber sie war sich nicht sicher, ob er Bill das Wasser reichen konnte. Bill war groß, solide, und äußerst attraktiv.

“Was bringt dich her?” fragte sie.

“Ich habe gehört, dass du hier bist”, erwiderte er.

Riley sah ihn unbehaglich an. Das war wahrscheinlich nicht nur ein freundschaftlicher Besuch. Sein Gesichtsausdruck sagte ihr, dass er noch nicht bereit war, ihr zu sagen, weshalb er wirklich gekommen war.

Bill sagte, “Wenn du den ganzen Drill machen willst, dann nehme ich für dich die Zeit.”

“Das wäre lieb”, lächelte Riley.

Sie gingen zu einem abgetrennten Bereich des Übungsplatzes, wo sie nicht Gefahr lief von Irrläufern der Studenten getroffen zu werden.

Während Bill die Stoppuhr bediente, durchlief Riley alle Stufen der FBI Schusswaffenqualifikation: Feuern auf ein Ziel von zweieinhalb, dann viereinhalb, dann siebeneinhalb, dann dreizehneinhalb Metern. Die fünfte und letzte Position war die einzige die ihr keinerlei Probleme bereitete - aus ca. 23 Metern, hinter einer Barrikade hervor, auf ein Ziel feuern.

Nachdem sie alle Stufen durchlaufen hatte, nahm Riley ihre Schutzausrüstung ab. Sie und Bill gingen zum Ziel und überprüften die Arbeit. Alle Einschläge waren eng beieinander.

“Hundert Prozent - Perfektes Ergebnis”, sagte Bill.

“Das sollte es auch sein”, sagte Riley. Sie hasste es, wenn sie einrostete.

Bill zeigte in Richtung des erdigen Kugelfangs hinter dem Ziel.

“Irgendwie surreal, was?” meinte er nachdenklich.

Hinter dem Übungsplatz grasten einige Rehe friedlich auf dem Hügel. Sie hatten sich dort eingefunden, während sie auf die Zielscheibe schoss. Selbst mit ihrer Pistole waren sie in einfacher Schussweite. Aber sie schienen nicht im Mindesten von den Tausenden Kugeln gestört zu sein, die in die Ziele unter dem Ausläufer einschlugen, auf dem sie grasten.

“Ja”, sagte sie, “und schön.”

Zu dieser Jahreszeit konnte man die Rehe auf dem Übungsplatz häufig sehen. Es war Jagdsaison und aus irgendeinem Grund schienen sie zu wissen, dass sie hier sicher waren. Tatsächlich war das Gelände der FBI Akademie eine Art Zufluchtsort für verschiedene Tiere geworden, wie Füchse, wilde Truthähne und Murmeltiere.

“Vor ein paar Tagen hat einer meiner Studenten einen Bären auf dem Parkplatz gesehen”, sagte Riley.

Sie machte drei Schritte in Richtung des Hügels. Die Rehe hoben ihre Köpfe, starrten sie an und trotteten davon. Sie hatten keine Angst vor Schüssen, aber sie wollten Menschen nicht zu nah in ihre Nähe lassen.

“Was glaubst du, woher sie das wissen?” fragte Bill. “Dass sie hier sicher sind, meine ich. Klingen nicht alle Waffen gleich?”

Riley schüttelte einfach den Kopf. Es war ihr ein Rätsel. Ihr Vater hatte sie mit auf die Jagd genommen, als sie noch klein war. Für ihn waren Rehe nur eine Ressource für Essen und Fell. Damals hatte es ihr nichts ausgemacht sie zu töten. Aber das hatte sich geändert.

Es schien ihr seltsam, jetzt, wo sie darüber nachdachte. Sie hatte kein Problem damit, tödliche Gewalt gegen einen Menschen einzusetzen, wenn es notwendig war. Sie konnte einen Mann ohne mit der Wimper zu zucken töten. Aber eine dieser vertrauensvollen Kreaturen zu töten schien ihr jetzt undenkbar.

Riley und Bill gingen zum nächstgelegenen Pausenbereich und setzten sich zusammen auf eine Bank. Bill schien immer noch zu zögern mit der Sprache herauszurücken.

“Wie geht es dir?” fragte sie mit sanfter Stimme.

Sie wusste, dass es ein schwieriges Thema war und sie sah ihn zusammenzucken. Seine Frau hatte ihn vor kurzem verlassen, nach Jahren der Spannung zwischen seiner Arbeit und seinem Familienleben. Bill hatte sich Sorgen gemacht, dass er den Kontakt mit seinen jungen Söhnen verlieren würde. Jetzt lebte er in einem Apartment in der Stadt Quantico und verbrachte Zeit mit seinen Jungs am Wochenende.

“Ich weiß nicht, Riley”, sagte er. “Ich weiß nicht, ob ich mich jemals daran gewöhnen werde.”

Es war offensichtlich, dass er einsam und deprimiert war. Sie hatte das gleiche durchgemacht, während ihrer Trennung und Scheidung. Sie wusste auch, dass die Zeit nach einer Trennung besonders schmerzhaft war. Selbst wenn die Beziehung nicht besonders gut gewesen war, fand man sich plötzlich in einer Welt von Fremden, vermisste Jahre der Vertrautheit und wusste nicht richtig, was man mit sich selber anfangen sollte.

Bill berührte ihren Arm. Seine Stimme war voller Emotionen, als er sagte, “Manchmal denke ich, dass alles, was ich noch in meinem Leben habe … du bist.”

Riley war versucht ihn in den Arm zu nehmen. In ihren Jahren der Partnerschaft, hatte Bill sie mehr als einmal gerettet, sowohl physisch als auch emotional. Aber sie wusste, dass sie vorsichtig sein musste. Und sie wusste, dass Menschen in einer solchen Zeit recht verrückte Dinge taten. Sie war diejenige gewesen, die Bill eines Nachts betrunken angerufen und ihm eine Affäre vorgeschlagen hatte. Jetzt war die Situation umgekehrt. Sie konnte sein Gefühl der Abhängigkeit von ihr spüren, gerade jetzt, wo sie anfing sich frei und stark genug zu fühlen alleine zurechtzukommen.

“Wir waren gute Partner”, sagte sie. Es war lahm, aber ihr fiel nichts anderes ein.

Bill atmete tief durch.

“Deshalb wollte ich mir dir reden”, sagte er. “Meredith hat mir gesagt, dass er mit dir über den Phoenix Fall gesprochen hat. Ich arbeite daran. Ich brauche einen Partner.”

Riley fing an leicht gereizt zu sein. Bills Besuch erschien ihr immer mehr wie eine Art Überfall.

“Ich habe Meredith gesagt, dass ich darüber nachdenke”, sagte sie.

“Und jetzt frage ich dich”, sagte Bill.

Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.

“Was ist mit Lucy Vargas?” fragte Riley.

Agentin Vargas war eine Anfängerin, die im letzten Fall eng mit Bill und Riley zusammengearbeitet hatte. Sie waren beide von ihrer Arbeit beeindruckt gewesen.

“Ihr Knöchel ist noch nicht verheilt”, sagte Bill. “Sie braucht noch mindestens einen Monat, bis sie wieder im Außendienst ist.”

Riley bereute gefragt zu haben. Als sie, Bill, und Lucy Eugene Fisk, den sogenannten “Ketten-Mörder”, in die Ecke gedrängt hatten, war Lucy in seine Fänge geraten und fast gestorben, nachdem sie gefallen war und sich den Knöchel gebrochen hatte. Natürlich war sie noch nicht wieder einsatzfähig.

“Ich weiß nicht, Bill”, sagte Riley. “Diese Pause vom Außendienst ist wirklich gut für mich. Ich habe darüber nachgedacht ab jetzt einfach nur zu unterrichten. Alles, was ich dir sagen kann, ist das gleiche, was ich Meredith gesagt habe.”

“Dass du darüber nachdenkst.”

“Richtig.”

Bill grunzte unzufrieden.

“Können wir uns wenigstens zusammensetzen und darüber reden?” fragte er. “Vielleicht Morgen?”

Riley schwieg für einen Moment.

“Nicht morgen”, sagte sie dann. “Morgen muss ich einen Mann sterben sehen.”

Kapitel Fünf

Riley sah durch das Fenster in den Raum, in dem Derrick Caldwell bald sterben würde. Sie saß neben Gail Bassett, der Mutter von Kelly Sue Bassett, Caldwells letztem Opfer. Der Mann hatte fünf Frauen ermordet, bevor Riley ihn stoppen konnte.

Riley hatte gezögert Gails Einladung zu der Hinrichtung anzunehmen. Sie war Gail nur einmal begegnet, damals als freiwillige Zeugin, zwischen den Reportern, Anwälten und Gerichtsdienern. Jetzt saßen sie und Gail unter neun Angehörigen von Frauen, die Caldwell getötet hatte, alle von ihnen zusammen in einem engen Raum, auf weißen Plastikstühlen.

Gail, eine kleine sechzig Jahre alte Frau mit feinen, eleganten Gesichtszügen, hatte über die Jahre den Kontakt mit Riley aufrechterhalten. Bevor die Hinrichtung festgelegt wurde, war ihr Mann gestorben und sie hatte Riley geschrieben, dass sie niemanden hatte, der sie durch diesen schweren Moment begleiten konnte. Also hatte Riley zugestimmt, sie zu begleiten.

Die Todeskammer war direkt dort auf der anderen Seite des Fensters. Das einzige Möbelstück in diesem Raum war die kreuzförmige Hinrichtungsliege. Ein blauer Plastikvorhang hing am Ende der Liege. Riley wusste, dass dahinter die Infusionsröhren und tödlichen Chemikalien aufbewahrt wurden.

Ein rotes Telefon hing an der Wand, das mit dem Büro des Gouverneurs verbunden war. Es würde nur im Fall einer Begnadigung in letzter Minuten klingeln. Niemand erwartete an diesem Tag einen Anruf. Eine Uhr über der Tür war die einzige sichtbare Dekoration.

In Virginia konnten verurteilte Verbrecher sich zwischen dem elektrischen Stuhl und einer Giftspritze entscheiden, aber die Chemikalien wurden weitaus häufiger ausgewählt. Wenn der Häftling keine Entscheidung traf, wurde ihm die Giftspritze zugeteilt.

Riley war fast überrascht, dass Caldwell sich nicht für den elektrischen Stuhl entschieden hatte. Er war ein reueloses Monster, das den eigenen Tod willkommen zu heißen schien.

Es war 8:55 Uhr als sich die Tür öffnete. Riley hörte das stille Murmeln, das durch den Raum ging, als mehrere Mitglieder des Hinrichtungsteams Caldwell in die Kammer brachten. Zwei Wärter hatten jeweils einen seiner Arme gepackt, ein anderer ging hinter ihm. Ein gut gekleideter Mann trat als letztes ein – der Gefängnisdirektor.

Caldwell trug blaue Hosen, ein blaues Arbeitshemd und Sandalen ohne Socken. Er trug Hand- und Fußfesseln. Riley hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Während seiner Zeit als Serienmörder waren seine Haare lang und sein Bart struppig, ein passender Look für einen Straßenkünstler. Jetzt war er glatt rasiert und sah geradezu gewöhnlich aus.

Auch wenn er sich nicht wehrte, sah er verängstigt aus.

Gut, dachte Riley.

Er sah auf die Liege und dann schnell wieder weg. Er schien zu versuchen nicht auf den blauen Plastikvorhang zu blicken. Für einen Moment starrte er in den Zuschauerraum. Das schien ihn ruhiger und gefasster zu machen.

“Ich wünschte er könnte uns sehen”, murmelte Gail.

Sie wurden durch Einwegglas abgeschirmt und Riley teilte Gails Wunsch nicht. Caldwell hatte sie so schon eingehender betrachtet, als ihr lieb war. Um ihn zu fassen, hatte sie verdeckt ermittelt. Sie hatte vorgegeben ein Tourist zu sein und ihn dafür bezahlt ihr Porträt anzufertigen. Während er arbeitete hatte er sie mit Komplimenten überschüttet, ihr gesagt, dass sie die schönste Frau war, die er seit langem gezeichnet hatte.

In dem Moment hatte sie gewusst, dass sie sein nächstes Opfer sein würde. An diesem Abend hatte sie als Beute gedient, um ihn aus seinem Versteck zu locken. Als er versucht hatte sie anzugreifen, waren ihr die anderen Agenten sofort zur Hilfe geeilt.

Seine Gefangennahme war ohne Probleme verlaufen. Die Entdeckung, dass er seine Opfer zerteilt und in seiner Gefriertruhe aufbewahrt hatte, war eine andere Sache. Vor der geöffneten Gefriertruhe zu stehen war einer der grauenvollsten Momente ihrer Karriere gewesen. Sie fühlte immer noch Mitleid mit den Familien der Opfer – unter anderem Gail – für die grausige Aufgabe ihre zerteilten Familienmitglieder zu identifizieren.

 

“Zu schön, um zu leben”, hatte er sie genannt.

Es hatte Riley zutiefst erschüttert, dass er sie genauso wie diese Frauen gesehen hatte. Sie hatte sich nie für schön gehalten und Männer – selbst ihr Exmann Ryan – hatten ihr selten gesagt, dass sie es sei. Caldwell war eine schreckliche Ausnahme.

Was hatte es zu bedeuten, dachte sie, dass ein pathologisches Monster sie so perfekt fand? Hatte er in ihr etwas erkannt, das genauso monströs war wie er? Noch Jahre nach der Gerichtsverhandlung und dem Urteil plagten sie Albträume, in denen sie seine bewundernden Augen sah, die honigsüßen Worte hörte und vor der Gefriertruhe mit den Leichenteilen stand.

Das Hinrichtungsteam half Caldwell auf die Hinrichtungsliege, entfernte die Hand- und Fußfesseln, zog ihm die Sandalen aus und band ihn fest. Ledergurte hielten ihn auf der Liege – zwei über der Brust, zwei für die Beine, zwei für die Knöchel und zwei für die Handgelenke. Seine nackten Füße zeigten in Richtung des Fensters. Es war schwer sein Gesicht zu sehen.

Plötzlich wurden die Vorhänge vor dem Fenster zum Zuschauerraum geschlossen. Riley verstand, dass er dafür da war, die Phase der Hinrichtung zu verstecken, in der am meisten schief gehen konnte – wie etwa, dass das Team keine passende Vene fand. Trotzdem erschien es ihr seltsam. Die Leute im Zuschauerraum waren kurz davor Caldwell sterben zu sehen, aber sie durften nicht zusehen, wie so etwas Banales wie eine Nadel in seinen Arm gestochen wurde. Der Vorhang bewegte sich leicht, offensichtlich durch eine Bewegung von einem der Helfer auf der anderen Seite.

Als der Vorhang sich wieder öffnete, waren die Infusionsleitungen angebracht und liefen durch Löcher in dem blauen Plastikvorhang in den Arm des Häftlings. Zwei Mitglieder des Hinrichtungsteams standen hinter dem Plastikvorhang, wo sie die tödlichen Chemikalien einlassen würden.

Ein Mann hielt den roten Telefonhörer, bereit einen Anruf zu erhalten, der nicht kommen würde. Ein anderer sprach mit Caldwell, seine Worte über die schlechte Soundanlage kaum vernehmbar. Er fragte Caldwell, ob er noch irgendwelche letzten Worte hatte.

Im Gegensatz dazu erklang Caldwells Antwort laut und klar.

“Ist Agentin Paige hier?” fragte er.

Seine Worte sandten einen Schock durch Riley.

Der Wärter antwortete nicht. Es war keine Frage auf dessen Antwort Caldwell ein Recht hatte.

Nach einem angespannten Schweigen, sprach Caldwell wieder.

“Sagen Sie Agentin Paige, ich wünschte meine Kunst hätte ihr gerecht werden können.”

Auch wenn Riley sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte, dachte sie, dass sie ihn kichern hörte.

“Das ist alles”, sagte er. “Ich bin bereit.”

Riley wurde von Wut, Entsetzen und Verwirrung überrollt. Das war das Letzte, was sie erwartet hatte. Derrick Caldwell hatte sich entschieden seinen letzten Moment ihr zu widmen. Und hier, hinter dem unzerbrechlichen Glas sitzend, konnte sie nichts dagegen tun.

Sie hatte ihn geschnappt, aber am Ende hatte er eine seltsame, kranke Art von Rache erhalten.

Sie fühlte, wie Gails kleine Hand ihre eigene packte.

Lieber Gott, dachte Riley. Sie versucht mich zu trösten.

Riley musste gegen eine Welle der Übelkeit ankämpfen.

Caldwell sagte noch etwas.

“Werde ich fühlen, wenn es anfängt?”

Wieder erhielt er keine Antwort. Riley konnte sehen, wie die Flüssigkeit durch die transparenten Leitungen floss. Caldwell atmete mehrmals tief ein und schien dann einzuschlafen. Sein linker Fuß zuckte ein paar Mal und erstarrte dann.

Nach einem Moment zwickte ein Wärter die beiden nackten Füße, was keine Reaktion auslöste. Es schien eine sonderbare Geste zu sein. Aber Riley wurde klar, dass der Wärter nur sicherstellte, dass die Betäubung wirkte und Caldwell bewusstlos war.

Der Wärter rief den Leuten hinter dem Plastikvorhang etwas zu. Riley sah erneut, wie eine Flüssigkeit durch die Leitungen floss. Sie wusste, dass eine zweite Chemikalie jetzt dabei war seine Lungen anzuhalten. Nach einer Weile würde die dritte Chemikalie sein Herz stoppen.

Während Caldwells Atem langsamer wurde, dachte Riley darüber nach, was sie gerade sah. Wie unterschied es sich von all den Malen, in denen sie selbst tödliche Gewalt hatte anwenden müssen? Für ihre Arbeit hatte sie mehrere Mörder getötet.

Aber das hier war nicht wie diese anderen Male. Im Vergleich war es auf bizarre Weise kontrolliert, sauber, klinisch und makellos. Es schien ihr unerklärlich falsch zu sein. Irrationaler Weise dachte Riley, Ich hätte es nicht dazu kommen lassen sollen.

Sie wusste, dass sie damit nicht Recht hatte; Caldwells Verhaftung war professionell und nach allen Regeln durchgeführt worden. Aber sie dachte trotzdem, Ich hätte ihn selber töten sollen.

Gail hielt Rileys Hand mit gleicher Kraft zehn Minuten lang fest. Schließlich sagte der Mann neben Caldwell etwas, das Riley nicht hören konnte.

Der Gefängnisdirektor trat nach vorne und sprach klar und laut genug, dass ihn alle Zeugen verstehen konnten.

“Das Urteil wurde erfolgreich um 9:07 Uhr vollstreckt.”

Dann schlossen sich die Vorhänge vor dem Fenster wieder. Die Zuschauer hatten alles gesehen, was sie sehen sollten. Wärter kamen in den Raum und baten alle so schnell wie möglich den Raum zu verlassen.

Als die Gruppe in den Flur trat, nahm Gail wieder Rileys Hand.

“Es tut mir leid, dass er das gesagt hat”, sagte Gail.

Riley war überrascht. Wie konnte Gail sich in so einem Moment Gedanken um Rileys Gefühle machen. In dem Moment, in dem endlich der Gerechtigkeit für den Mord an ihrer Tochter Genüge getan wurde.

“Wie geht es Ihnen, Gail?” fragte sie, während sie eilig zum Ausgang gingen.

Gail ging schweigend neben ihr her. Ihr Gesicht war leer.

“Es ist vorbei”, sagte sie schließlich, ihre Stimme kalt und taub. “Es ist vorbei.”

Kurz darauf traten sie zurück ins Tageslicht. Riley konnte zwei Menschenmengen auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehen, die jeweils mit Absperrbändern zurückgehalten und von der Polizei strikt kontrolliert wurden. Auf der einen Seite waren die Leute, die für die Hinrichtung waren und Schilder mit hasserfüllten Sprüchen hochhielten, einige davon obszön und profan. Sie waren verständlicherweise guter Stimmung. Auf der anderen Seite waren die Todesstrafengegner mit ihren eigenen Schildern. Sie waren die ganze Nacht hier gewesen und hatten Mahnwache gehalten. Ihre Stimmung war mehr als gedrückt.

Riley konnte für keine der beiden Gruppen viel Sympathie aufbringen. Diese Leute waren nur für sich selber hier, um eine öffentliche Show aus ihrer Wut und Rechtschaffenheit zu machen. Soweit es sie betraf hatten sie kein Recht hier zu sein – nicht unter den Menschen, dessen Trauer und Schmerz zu real waren.

Zwischen dem Eingang und den Menschenmengen war ein Schwarm von Reportern mit Fernsehwagen in der Nähe. Während Riley sich einen Weg bahnte, kam eine Frau, mit Mikrofon in der Hand und Kameramann hinter hier, auf sie zugelaufen.

“Agentin Paige? Sind Sie Agentin Paige?” fragte sie.

Riley antwortete nicht. Sie versuchte sich an der Reporterin vorbei zu drängen.

Die Reporterin ließ sich jedoch nicht abwimmeln. “Wir haben gehört, dass Caldwell Sie in seinen letzten Worten erwähnt hat. Wollen Sie das kommentieren?”

Andere Reporter drängten sich dazu und stellten die gleiche Frage. Riley biss die Zähne zusammen und drückte sich durch die Menge. Endlich konnte sie sich befreien.

Sie eilte zum Auto und dachte über Meredith und Bill nach. Beide hatten sie gedrängt den neuen Fall anzunehmen. Und sie versuchte zu vermeiden einem von ihnen eine Antwort zu geben.

Warum? fragte sie sich.

Sie war gerade vor den Reportern geflohen. Floh sie auch vor Bill und Meredith? Floh sie vor dem, der sie wirklich war? Vor allem, was sie tun musste?

*

Riley war dankbar wieder zu Hause zu sein. Der Tod, den sie an diesem Morgen erlebt hatte, hinterließ ein leeres Gefühl in ihr und die Fahrt zurück nach Fredericksburg war ermüdend gewesen. Aber als sie die Tür des Stadthauses öffnete, schien etwas nicht ganz richtig zu sein.