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Eine Spur von Tod

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Aus der Reihe: Keri Locke Mystery #1
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Eine Spur von Tod
Eine Spur von Tod
Kostenloses Hörbuch
Wird gelesen Birgit Arnold
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KAPITEL SIEBZEHN

Dienstag

Frühe Morgenstunden

Keris Augenlider wurden schwer, als sie zurück nach Venice fuhr. Dienstagnachts waren die Straßen von Los Angeles so leer wie zu keiner anderen Zeit, aber sie konnte die Stille nicht genießen. Sie schrak auf, als sie bemerkte, dass ihr Wagen aus der Spur schlingerte. Sie drehte das Radio voll auf und öffnete die Fenster, um sich die heiße Nachtluft ins Gesicht wehen zu lassen.

Einer der Befragten musste sie angelogen haben. Die Geschichten des Rockstars Walker Lee und des plumpen Wachmanns Artie North passten einfach nicht zusammen. Doch ohne Beweise musste sie sich weiterhin auf ihren Instinkt verlassen.

Genau deswegen stellte sie jetzt ihren Wagen vor Walker Lees Appartement ab. Sie überlegte kurz, ob sie Ray anrufen sollte, ließ ihn aber doch schlafen. Es war besser, wenn er nichts wusste, falls der Schuss nach hinten losging.

Sie klopfte laut an Lees Tür und er öffnete sofort. Er war offensichtlich noch nicht im Bett. Ein randvoll gepackter Koffer lag offen auf der Couch. Ein paar Sachen hingen an den Seiten heraus.

Keri sah den Koffer an, dann Walker. „Ich habe mit Artie North gesprochen. Er streitet ab, Ashley beim Sex gefilmt oder sie erpresst zu haben.“

Walker rollte mit den Augen.

„Natürlich gibt er das nicht zu.“

„Selbst wenn Sie die Wahrheit sagen, umso mehr ich darüber nachdenke, desto stärker wird mein Gefühl, dass Sie mich auf Artie Norths gehetzt haben, um mich von etwas anderem abzulenken. Was verheimlichen Sie mir? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Ihnen nichts passieren wird, so lange Sie ehrlich zu mir sind. Aber wenn Sie mich anlügen…“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

Walker Lee stand unsicher im Türrahmen. Keri zeigte auf den Koffer.

„Wollen Sie verreisen?“

„Ja.“

„Wann?“

„Jetzt.“

Sie wollte sich den Kommentar verkneifen, aber sie konnte nicht. „Das ist ziemlich armselig, wenn man bedenkt, dass Ashley gerade jetzt Ihre Hilfe braucht.“

Seine Augen wurden glasig.

„Wissen Sie was? Es reicht. Es tut mir wirklich leid für Ashley, aber ich haben die Schnauze voll.“

Keri war überrascht. Er klang wie ein trotziges Kind. Bisher hatte er sich so cool gegeben, dass Keri es ihm fast abgekauft hätte. Jetzt war es klar. Er verschwieg ihr etwas. Sie wusste nur noch nicht genau, ob es mit Ashleys Verschwinden zu tun hatte.

„Ich darf doch reinkommen“, sagte sie und drückte sich an ihm vorbei.

Mit steigender Herzfrequenz ging sie zielstrebig in sein improvisiertes Tonstudio. Aufgebracht kam er hinter ihr her. „Nein, Sie dürfen nicht!“

Keri nahm ein Mikrofon in die Hand und starrte es an, als hätte sie noch nie eines gesehen. Dann begann sie, es am Kabel im Kreis zu schwingen, hoch über ihrem Kopf, schneller und schneller. Sie ließ all ihren Frust daran aus.

Walker Lee starrte sie an. Dann öffnete er seinen Mund.

„Hey, lassen Sie…“, begann er, doch bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, schwang Keri es in seine Richtung und erwischte ihn damit über dem linken Auge.

Er sprang zurück und fiel zu Boden. Dann fasste er an seine Stirn und starrte das Blut an seinen Fingerspitzen an. Es lief über seine Wange und tropfte auf seine nackte Brust.

Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was geschehen war. Keri ging langsam zu der kleinen Bar und warf ihm einen Lappen zu.

„Was haben Sie mit meinem Gesicht gemacht?“, heulte er entsetzt.

Keri wusste, dass sie zu weit gegangen war, aber sie wollte ihren Plan durchziehen. Sie war jetzt wieder hellwach.

„Ich lasse mich von dir nicht mehr verarschen, kapiert?“

Lee drückte den Lappen an seine Stirn. „Ich verklage Sie!“

„Du wirst mir jetzt sagen, was du weißt! Sonst werde ich dein Gesicht weiter bearbeiten. Oder vielleicht besser deine musikalischen Hände? Du hast mich in diesen schallsicheren Raum gelockt und angriffen. Ich musste mich verteidigen. Die Geschichte werden alle glauben, wenn du nicht sofort redest!“

Was auch immer er verheimlichte, Keri spürte, dass er seine Deckung sinken ließ.

„Da ist dieser Typ, bei dem wir unsere Drogen kaufen. Nichts Gefährliches, nur ein bisschen Gras uns Ecstasy. Wir kennen ihn nur unter Auggie.“

Der Name war Keri neu. Entweder war er der Polizei gar nicht, oder nur unter einem anderen Namen bekannt.

„Weiter.“

„Wir haben ihn letzte Woche getroffen. Am Mittwoch, glaube ich. Er hat Ashley die ganze Zeit so komisch angesehen, wie ein Wolf, der seiner Beute auflauert. Ich habe nichts gesagt, aber es hat mir nicht gefallen. Er hat uns den Stoff gegeben und ich habe ihn bezahlt, aber plötzlich wollte er mehr Geld. Er hat gesagt, dass der Preis gestiegen ist und wollte, dass ich ihm mehr Geld bringe. Dann hat er noch etwas gesagt, das ich als Drohung gegen Ashley aufgefasst habe. Aber der Typ kann mich mal, ich werde ihm nicht noch mehr Geld geben. Er macht die Preise, wie er gerade Lust hat. Das ist nicht fair. Auf solche Spielchen lasse ich mich nicht ein. Ich habe gehört, dass er mit einem Van herumfährt und Fernseher und Computer klaut. Gesehen habe ich den Van aber noch nie.“

Keri überlegte. Wenn Walker die Wahrheit sagte, kannte Ashley diesen Auggie und würde näher an den Van herangehen, ohne sich etwas dabei zu denken.

„Das hätten Sie gleich sagen sollen.“

„Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass Ashley mit diese Leuten in Berührung kommt“, gab er zu. „Ich hätte sie beschützen müssen. Ich weiß nicht, wie die Situation so außer Kontrolle geraten konnte.“

Keri sah ihn eindringlich an. An seiner linken Gesichtshälfte klebten blutige, blonde Strähnen. Aber sie sah jetzt auch etwas anderes in seinem Gesicht. Aufrichtigkeit. Vielleicht hatte er doch einen guten Kern, aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit.

„Wo wohnt dieser Auggie?“

„Das weiß ich nicht. Er hängt immer bei diesem Tauchclub in Windward, Ecke Pacific ab. Der Club heißt Blue Mist Lounge. Dort kann man ihn treffen.“

Das war nicht weit von Ashleys Haus entfernt. Keri nahm ein paar Scheine aus ihrem Geldbeutel und warf sie vor ihm auf den Boden. „Lassen Sie das nähen, die Bereitschaftspraxis ist nur ein paar Blocks von hier.“ Sie überlegte kurz. „Und passen Sie besser auf sich auf, damit Sie sich nicht noch einmal den Kopf anstoßen.“

Er nickte. „Seien Sie vorsichtig mit Auggie, Detective. Solche Typen können gefährlich werden“, sagte er.

„Danke“, sagte sie überrascht. In Gedanken fügte sie hinzu Ich kann auch gefährlich werden.

KAPITEL ACHTZEHN

Dienstag

Frühe Morgenstunden

Keri beschloss nun doch, Ray anzurufen. Die Blue Mist Lounge war einer dieser Orte, an denen man besser zu zweit auftauchte.

„Schläfst du?“, fragte sie.

„Jetzt nicht mehr“, stöhnte er.

Stille.

„Du schläfst scheinbar nicht“, stellte er fest. „Du brauchst Verstärkung.“

„Bingo.“

Er seufzte.

„Und wenn du Verstärkung brauchst, dann muss es ernst sein.“

„Wieder richtig.“

„Ich hasse dich, Locke.“

„Ich liebe dich, Big.“

Noch ein Seufzen. Dann knarrte es. Er musste aufgestanden sein.

„Du hast Glück, dass niemand bei mir ist“, raunte er. „Adresse?“

Fünfzehn Minuten später stand Keri vor dem Blue Mist und wartete auf Ray. Zuvor hatte sie über Auggie nachgeforscht. Sein Register zeigte jede Menge Delikte. Sechzehn seiner vierunddreißig Lebensjahre hatte er in Haft verbracht, hauptsächlich wegen tätlichen Angriffen. Von Entführungen war hier nicht die Rede, aber er hat einmal seine Freundin zwölf Stunden lang in einen Schrank gesperrt, weil sie angeblich Drogen von ihm geklaut hat.

Als Ray kam, sie stieg aus ihrem Wagen und ging zu ihm hinüber.

Grinsend sah er den Club an.

„Blue Mist, hm? Ich wusste, du würdest mich eines Tages zu einem romantischen Date einladen.“

Leise gingen sie zum Eingang. Ray war angespannt. Er machte sich darauf gefasst, dass es Ärger geben würde. Ein Pit Bull schlug Alarm, als sie näher kamen. Dann kam ein Mann und sie zeigten ihm ihre Marken. Nachdem er einen Blick auf Ray geworfen hatte, ließ er sie eintreten.

Sie gingen ein paar Stufen hoch und betraten den Laden. Hip-Hop Musik dröhnte ihnen entgegen. Keri bemerkte sofort, dass sie die einzige weiße Person im ganzen Laden war. Rays Anwesenheit beruhigte sie etwas. Das Hinterzimmer wurde von einem weiteren Türsteher bewacht. Ray nickte ihm zu, zeigte seine Marke und ging voran.

Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss und sofort war es leiser. Hier gab es eine kleine Bühne, auf der eine Frau Songs von Billie Holiday sang. Keri war überrascht, wie viel zu dieser Zeit an einem Wochentag los war.

Sie sahen sich um. Ray zeigte auf eine dunkle Ecke. „Mr. Dreadlocks“, murmelte er.

Auggie saß etwas abseits in einer Sofaecke. Zwei Frauen waren bei ihm. Keri vermutete, dass die beiden gerade im Dienst waren. Sie hatten sich an ihn herangekuschelt und buhlten um seine Aufmerksamkeit.

Auf dem Tisch stand eine halbvolle Flasche Whiskey, daneben ein paar Gläser. Die Frauen lachten laut über jedes Wort, das Auggie von sich gab. Keiner von ihnen bemerkte Ray oder Keri, bis sie direkt vor ihnen standen.

 

Ray setzte sich neben eine der Frauen. Sie trug ein besonders tief ausgeschnittenes rotes Top. Keri blieb lieber stehen.

„Hi Leute“, sagte Ray freundlich.

Zuerst sah die Frau ihn nur erstaunt an, dann lächelte sie verführerisch. Keri ignorierte das unterschwellige Gefühl, auf eine Prostituierte eifersüchtig zu sein.

Auggie sagte nichts, doch er wirkte auf einmal angespannt. Er erinnerte Keri an eine aufgescheuchte Klapperschlange.

Plötzlich knallte die andere Frau, die ein viel zu enges, trägerloses Top trug, die Hand auf den Tisch. „Du bist der Sandmann!“

Die andere Frau begriff nicht.

„Der Sandmann! Der Boxer!“

Miss Trägerlos rutschte sofort auf der anderen Seite neben Ray, so dicht, dass ihr Oberschenkel fest an seinen gepresst war.

„Ich kann es nicht glauben! Ich treffe den Sandmann!“, rief sie fröhlich.

Keri beobachtete Auggie. Sein Gesichtsausdruck hatte sich innerhalb von zehn Sekunden von misstrauisch über eifersüchtig zu respektvoll gewandelt. Doch sie erkannte noch etwas anderes in seinem Blick. Etwas, das sie nicht ganz einordnen konnte. Sie begriff erst, als er auf den Tisch sprang und zum Ausgang hechtete: Verzweiflung.

Auggie war schnell, aber Keri war vorbereitet. Sie wollte gegen seine Schulter springen und ihn zu Boden werfen, bevor er entkommen konnte. Doch er sah sie und drehte sich in der Luft, so dass er frontal mit ihr zusammenprallte. Mit über hundert Kilo wog er fast das Doppelte von ihr. Sie wusste, dass sie keine Chance gegen ihn hatte.

Sein Körper prallte gegen ihren und riss sie um. Durch die Wucht des Aufschlags rollte sie noch einige Meter über den Fußboden. Dabei konnte sie das Rückwärts-Moment nutzen um direkt wieder auf die Beine zu kommen. Sie sprang auf, aber ihr Kopf explodierte und schoss Blitze in allen Farben.

Zu spät merkte sie, dass sie Auggies Fluchtweg blockierte. Sie ging in die Knie, aber das half nichts mehr. Wieder prallte er gegen sie und als sie beide auf dem Boden landeten, rammte sich sein Knie direkt in ihren Magen. Sie rang nach Luft und spürte einen starken Brechreiz. Auggie sprang auf und rannte zur Tür.

Sie sah, dass Ray sich inzwischen von den Prostituierten befreit und aus der Sitzecke herausbugsiert hatte. Er wollte ihr helfen, doch sie winkte ab. Er sollte lieber Auggie verfolgen. So verschwand auch Ray durch die Tür.

Keri lag ein paar Sekunden auf dem Boden. Als sie auf die Seite rollte, um aufzustehen, spürte sie Hände an ihren Ellbogen, die ihr auf die Beine halfen. Trägerlos und roter Ausschnitt.

Weil sie noch nicht wieder sprechen konnte, nickte sie den Frauen zum Dank zu. Als sie am Türsteher vorbei humpelte murmelte sie „Wohin?“ und er wies mit dem Kinn auf die Hintertür. Sie rannte hinüber, öffnete die Tür und kam zu einer klapprigen Metalltreppe, die in eine verlassene Gasse führte. Dort hörte sie Stimmen.

Sie sah Auggie, der versuchte, einen Zaun hinaufzuklettern, dann scheinbar abgerutscht war und jetzt eine Waffe gezogen hatte. Schon feuerte er auf Ray, der ihm dicht auf den Fersen war. Auggie schoss noch einmal. Ray warf sich auf ihn.

Keri konnte nicht erkennen, was passiert war. Sie sprang die letzten Stufen hinab und rannte zu den Männern hinüber.

Auggie hatte nicht getroffen. Ray saß jetzt auf ihm und schlug auf ihn ein. Auggies Gesicht war ein blutiges Chaos. Er bewegte sich nicht.

„Hör auf, Ray!“, schrie sie. „Wir brauchen ihn lebendig!“

Ray sah sie an, ließ sich auf den Rücken fallen und blieb keuchend auf dem Asphalt liegen.

Keri kniete sich neben Auggie und sah in seine geschwollenen Augen. Er war bei Bewusstsein. Er atmete sehr flach, aber er atmete.

„Hi Auggie“, sagte sie, „wir wollten eigentlich nur vorbeischauen und uns nach Ashley Penn erkundigen. Sie ist eine deiner Kundinnen.“

Er sagte nichts.

„Jetzt bist du allerdings festgenommen, wegen versuchtem Mord an einem Polizisten. Das hätte ganz schön ins Auge gehen können.“

Der Mann krümmte sich vor Schmerzen und röchelte: „Ich sag euch alles, was ich weiß.“

Keri rollte ihn grob auf die Seite, riss seine Arme auf den Rücken und legte ihm Handschellen an.

„Das will ich auch hoffen, sonst war das hier nur die erste Runde gegen den Sandmann.“

KAPITEL NEUNZEHN

Dienstag

Frühe Morgenstunden

Keri, Ray und Hillman standen jenseits der verspiegelten Scheibe und sahen Auggie im Vernehmungszimmer an. Niemand hatte mit ihm gesprochen, seit Keri ihm klargemacht hatte, dass seine Gesundheit direkt von seiner Kooperationsbereitschaft abhing. Mehrere Polizeibeamte und Kollegen von der Spurensicherung untersuchten die Gasse, in der ein Verdächtiger auf einen Polizisten geschossen hatte. Auggie steckte bis zum Hals in Schwierigkeiten. Auf ihn kam eine ganze Reihe von Anklagen zu, einschließlich versuchten Mordes. Er würde diesmal nicht ungeschoren davonkommen.

Hillman sah Keri an. Sie wusste, dass es ihm nicht gefiel, mitten in der Nacht noch einmal aufs Revier kommen zu müssen.

„Sie haben fünf Minuten. Wenn er das Wort Anwalt auch nur erwähnt, verlassen Sie augenblicklich den Raum. Ich will diesen Typen hinter Gittern sehen und dafür müssen wir uns streng an die Vorschriften halten. Es ist schon riskant genug, ihn hier zu haben, anstatt in der Notaufnahme. Ich will nicht, dass irgendein schmieriger Verteidiger ihn wieder auf freien Fuß bekommt. Verstehen wir uns?“

„Ja, Sir.“

Keri nahm sich einen Moment, atmete tief durch, steckte ihre Bluse wieder in die Hose und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie hatte schreckliche Kopfschmerzen und vielleicht sogar ein paar gebrochene Rippen. Auggie sollte aber nicht wissen, dass er sie verletzt hatte.

Selbstbewusst betrat sie das Vernehmungszimmer. „Erinnern Sie sich an mich?“

Auggie wollte etwas sagen, aber Keri bremste ihn. „Sagen Sie das Wort Anwalt besser nicht, sonst darf ich nicht mehr mit Ihnen sprechen und dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.“

Auggie sah sie schief an. „Sie haben sich noch nicht vorgestellt. Ich dachte, Sie wollten mich abziehen, deswegen bin ich abgehauen. Dass ich draußen auf den Riesen geschossen habe, war reine Selbstverteidigung. Ich habe einen Waffenschein. Das können Sie gerne überprüfen. Ich habe nichts Falsches getan.“

Keri rollte mit den Augen.

„Sie gehen ins Gefängnis, daran gibt es nichts zu rütteln, aber Sie können bestimmen, ob sie fünf oder fünfzig Jahre drin bleiben – je nachdem, wie viele Freunde Sie sich hier in den nächsten zehn Minuten machen. Ihre Preisfrage lautet: Wo ist Ashley Penn?“

Auggie begann sofort zu reden: „Ich habe ihr nie persönlich etwas verkauft – und auch sonst niemandem.“

Das war eine Lüge, aber Keri ließ ihn weitersprechen.

„Aber ich habe gehört, dass sie immer wieder von anderen Leuten gekauft hat. Letzte Woche soll sie sogar eine große Ladung geholt haben, weil sie wegziehen wollte und nicht wusste, wann sie neue Connections hat.“

„Wohin wollte sie gehen?“

„Weiß nicht.“

„Alleine oder mit jemandem zusammen?“

„Weiß nicht.“

„Vielleicht ein blonder, langhaariger Typ?“

„Sie meinen diesen Rockstar-Typen“, sagte Auggie. „Nein, angeblich wollte sie mit einer Freundin abhauen.“

Das war neu. Hatte Ashley Walker ersetzt? Hatte er das vielleicht herausgefunden? Das hätte ihm bestimmt nicht gefallen.

„Können Sie diese Freundin beschreiben?“, fragte sie.

„Nee, ich habe nur Gerüchte gehört. Über Ashley gibt es eine Menge Gerüchte.“

Keri verließ den Raum. Hillman hatte ihr fünf Minuten gegeben und sie hatte weniger als zwei gebraucht. Ihre Gedanken überschlugen sich.

Vielleicht hatte Walker etwas herausgefunden und der Sache ein Ende gemacht? Hatte er Ashley in den Van gelockt, um mit ihr zu reden? Vielleicht war die Situation außer Kontrolle geraten? Walker hatte kein Alibi – aber er hatte auch keinen Van.

Sie stand vor der Tür und zerbrach sich den Kopf. Ray und Hillman kamen aus dem Überwachungszimmer dazu.

„Ich habe es doch gleich gesagt. Sie ist weggelaufen“, verkündete Hillman.

Keri bezweifelte das.

„Das hat sie vielleicht geplant, aber ich glaube, dass ihr etwas anderes zugestoßen ist.“

„Und warum denken Sie das?“

„Weil Ashley, als sie in den Van gestiegen ist, nicht aussah, als würde sie auf eine große Reise gehen“, sagte sie.

Hillman schüttelte den Kopf.

„Vielleicht ist sie mit dieser geheimnisvollen Freundin zusammen losgefahren, um ihre Sachen abzuholen. Hatte Lee nicht erwähnt, dass sie ihre eigene Entführung inszenieren wollte?“

„Ja, das hat er, aber er hat auch gesagt, dass sie es nicht ernst gemeint hat. Es ist nicht unmöglich, aber es passt auch nicht richtig zusammen. Mein Gefühl sagt mir, dass sie entführt wurde.“

Hillman seufzte laut. Es war offensichtlich, dass er sich zusammennahm.

„Es ist fast drei Uhr, wir arbeiten jetzt seit zehn Stunden ohne Pause an dieser Geschichte und haben keinen einzigen handfesten Hinweis auf eine Entführung, aber zwei Zeugen, die aussagen, dass sie sich aus dem Staub machen wollte. Leider können wir nicht nach Gefühl arbeiten, Detective Locke. Wir werden die Ermittlungen einstellen.“

Keri bemühte sich, ruhig zu bleiben, weil sie ihn auf ihre Seite bringen musste.

„Es ist mehr als nur ein Gefühl, Sir.“

„Ach ja? Was?“

„Ich weiß nicht, ich kann gerade nicht klar denken“, sagte sie leise.

„Ganz genau“, sagte Hillman. „Wir sind alle völlig erschöpft. Das bedeutet, dass wir jetzt alle nach Hause gehen und uns ausruhen. Das hätten Sie schon vor Stunden tun sollen. Das ist ein Befehl.“ Er sah Keri direkt in die Augen. „Das. Ist. Ein. Befehl!“, wiederholte er eindringlich.

„Okay“, sagte sie kleinlaut.

„Schlafen Sie. Und kommen Sie morgen früh um sieben Uhr wieder.“

*

Doch bevor Keri nach Hause ging, ging sie noch einmal zu ihrem Schreibtisch. Sie wollte noch schnell Thomas The Ghost Anderson und seinen Anwalt Jackson Cave in ihrer Datenbank aufrufen. Vielleicht würde auf magische Weise ein neuer Zusammenhang erscheinen. Anderson hatte sie neugierig gemacht, aber die Zeit war knapp und deswegen konzentrierte sie sich auf Cave. Er war jetzt relevanter. Zu ihm gab es sehr viele Informationen, aber nichts Belastendes.

Aus irgendeinem Grund war sie aber überzeugt, dass Cave etwas über den Sammler wusste. Vielleicht wusste er sogar seinen echten Namen. Keri musste es herausfinden. Aber wie?

Selbst wenn sie in sein Büro einbrach, würde sie dort bestimmt keinen Ordner finden, auf dem Menschenhändler stand. Solche Informationen behielt man am besten direkt im Gedächtnis. Sie musste einfach mit ihm sprechen. Vielleicht hatte er Dreck am Stecken, mit dem sie ihn unter Druck setzten konnte. Erpressung war manchmal durchaus ein wirksames Mittel.

Sie schloss die Augen und sah Evie vor sich, ihre Augen, die vor Schreck geweitet waren, als sie an jenem Tag im Park geholt wurde. Sie hörte ihre Schreie. „Mama! Mama!“

Mit einem Kloß im Hals eilte sie auf die Damentoilette, bevor jemand sie bemerkte. Dort ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Sie schluchzte und sank auf den Boden.

Nach einigen Minuten hatte sie sich wieder gefasst und trat auf den Gang. Ray wartete dort und legte seinen Arm um sie.

„Ich dachte, du bist nach Hause gegangen“, sagte sie.

„Offensichtlich nicht. Willst du jetzt, dass ich bei dir bleibe?“

Sie überlegte.

„Nein. Ich bin okay.“

„Sicher?“

„Nein.“ Sie lächelte ihn matt an. „Werde ich jemals wieder okay sein, Ray?“

 

„Ich glaube, dass du es jetzt schon bist. Du brauchst nur noch etwas Zeit.“

„Ich will keine Zeit. Ich will meine Tochter.“

„Du wirst sie finden“, sagte er. „Wir werden sie finden. Bis dahin musst du stark bleiben.“

Sie ließ sich von ihm in den Arm nehmen.

„Du bist ein guter Mensch, sanfter Riese“, sagte sie.

„Du auch, Däumelinchen“, sagte er. „Habe ich dir schon gedankt, dass du mich davon abgehalten hast, diesen Auggie umzubringen?“

„Nein.“

„Danke.“

Fünf Minuten später saß sie in ihrem Prius. Sie war unter Hochspannung und gleichzeitig fix und fertig. Sie musste wenigstens ein paar Stunden schlafen, wenn sie diesen Fall jemals lösen wollte. Aber davor gab es noch eine Kleinigkeit zu erledigen.